Norwich Rüße: „Dann würden wir Klimakrise, Krise der Artenvielfalt und Ernährungskrise gegeneinander ausspielen – das wollen wir nicht“

Zur Aktuellen Stunde auf Antrag der Fraktionen von CDU und FDP zu Lebensmittelpreisen

Portrait Norwich Rüße

Norwich Rüße (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Wochen haben wir das letzte Mal im Landtag über die Auswirkungen des Ukraine-Krieges geredet; Sie haben einen Antrag dazu vorgelegt. Wir haben über die Folgen, die er auf die globale Lebensmittelversorgung haben wird, diskutiert.

Wir alle wissen um das große Leid, das ich heute Morgen nach vorne stellen will, das der Krieg über die Menschen in der Ukraine gebracht hat. Wir alle wissen auch: Je länger der Krieg dauert, desto verheerender werden die Auswirkungen sein, desto weniger wird am Ende in der Ukraine geerntet werden und desto weniger Getreide aus diesem Land wird für bestimmte Länder auf der Erde zur Verfügung stehen.

Insofern ist es gut und richtig, dass wir uns heute in einer Aktuellen Stunde noch einmal mit diesem Thema beschäftigen. Um es richtig einordnen zu können und zu entscheiden, was wir hier in Deutschland machen und welchen Weg wir gehen, ist es wichtig, über ein paar grundsätzliche Aspekte zu diskutieren, um anschließend die von Ihnen vorgeschlagenen Lösungswege daraufhin zu bewerten, ob sie richtig sind. Ich finde, dass wir in der Debatte ruhig erst einmal offen sein und überlegen können: Ist das zielführend oder eher nicht?

Zuerst will ich daran erinnern, wie stark wir darüber diskutieren, dass sich unser Land in so hohem Maße von Erdöl, Gas und Kohle aus Russland abhängig gemacht hat, und wie erschrocken wir alle darüber waren. Wir liegen bei 50 % bei Gas und Kohle und bei 35 % bei Erdöl.

An der Stelle muss man schon sagen: Es ist erschreckend, in welch hohem Maße einige Länder auf der Erde von Weizenlieferungen aus der Ukraine oder aus Russland abhängig sind. Die Kollegin hat eben gesagt: Putins beste Waffe sind nicht seine Panzer, sondern ist tatsächlich der Hunger. – Da ist etwas dran. Denn wenn Länder zu 70 oder 80 % davon abhängig sind, dass aus diesen Ländern Weizen geliefert wird, besteht ein strukturelles Problem.

Ich sage schon jetzt: Daran werden diese Länder genauso arbeiten müssen wie wir daran, aus der Abhängigkeit von russischer Energie herauszukommen. Diese Länder müssen weg von der Abhängigkeit von russischem und ukrainischem Getreide.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die steigenden Preise sind gerade schon erwähnt worden.

Frau Kapteineit hat eine Menge dazu gesagt, viel Richtiges, was die insgesamt steigenden Preise für die Menschen hierzulande bedeuten. Ich teile das alles, das ist alles richtig. Ich glaube, dieses Land ist in der Lage, die Probleme in den Griff zu bekommen. Das können wir schaffen. Wir können den Menschen, die geringere Einkommen haben, die im Moment wirklich darunter leiden, helfen.

Global gesehen ist die Situation noch viel dramatischer, weil die Menschen, die in ärmeren Ländern auf höhere Weizenpreise treffen, nicht mehr in der Lage sind, diesen Weizen zu bezahlen.

(Dr. Christian Blex [AfD]: Sie wollten das doch!)

Es ist unsere Pflicht, das Welternährungsprogramm zu unterstützen und Gelder zur Verfügung zu stellen.

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und Dr. Ralf Nolten [CDU])

An der Stelle finde ich es richtig und wichtig, dass Deutschland, dass der Bundeslandwirtschaftsminister in einem ersten Schritt zusätzlich 200 Millionen Euro zur Verfügung stellen will. Angesichts der Herausforderungen – da sind ja Summen von 40 Milliarden Euro im Raum – ist das, glaube ich, eine erste Ankündigung. Wir werden sicherlich noch mehr tun müssen.

Wir müssen jetzt überlegen: Was können wir tun? Dann ist es sehr logisch – ich kann das nachvollziehen –, dass man als Erstes darüber nachdenkt, was man mit den ökologische Vorrangflächen, was man zukünftig mit den Stilllegungsflächen macht. Wenn man bewerten will, welches Potenzial sie wirklich haben, dann muss man sie sich genau angucken.

Bei den ökologischen Vorrangflächen finde ich interessant, dass die meisten Landwirte, wenn man sie fragt, was sie denn mit den ökologischen Vorrangflächen machen, was sie da noch leisten könnten, abwinken. Gerade hier in Nordrhein-Westfalen sagen die allermeisten, sie könnten da gar nichts machen. Denn Nordrhein-Westfalen ist das Land der Zwischenfrüchte. Bei den ökologischen Vorrangflächen haben die allermeisten Landwirte beim Greening auf Zwischenfrüchte gesetzt, um die Fläche insgesamt weiter nutzen zu können.

Wenn man sich die ökologischen Vorrangflächen unter dem Punkt – ich nenne es mal – „echte Brachen“ ansieht, dann stellt man fest, dass es sich um 7.500 ha handelt. 7.500 ha – und das sind nicht die allerbesten Flächen – sind kein riesiges Potenzial im Verhältnis zu über 1 Million Hektar Ackerland, die wir in Nordrhein-Westfalen haben.

Ich sage auch – darüber können wir mal gemeinsam nachdenken –: 7.500 ha sind ungefähr die Fläche, die wir jedes Jahr in Nordrhein-Westfalen der Landwirtschaft an Ackerland entziehen – Jahr für Jahr – und umwidmen in Siedlungsfläche, Straßenbau usw. In der Vergangenheit hätte ich mir Unterstützung gewünscht, dass wir diese 7.500 ha jedes Jahr gehalten hätten. Das wäre gut gewesen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Ich schätze das Potenzial eher gering ein.

Jetzt sind wir bei der zukünftigen Flächenstilllegung 2023: 4 %. Ich finde, da müssen wir uns ehrlich machen. Die Fläche ist natürlich per se größer, wir reden dann über ein Volumen von rechnerisch 50.000 ha.

Aber auch hier verringert sich die Fläche dadurch, dass Betriebe mit erheblichem Grünlandanteil, dass Betriebe mit unter 10 ha Ackerland schon einmal ausgenommen sind. Sie müssen ihre Flächen nicht stilllegen.

Dazu kommt, dass man die sogenannten Landschaftselemente in diese Stilllegungsflächen integriert, sodass man am Ende vielleicht bei 40.000 ha landet, wenn überhaupt. Wenn es 40.000 ha sind, dann kann man diese Flächen nicht mit dem NRW-Durchschnittsertrag für Weizen ansetzen – 7,5 t –, sondern man wird einen geringeren Ertrag nehmen müssen. Das wären dann vielleicht 5 t.

Es handelt sich um Flächen, die am Waldrand liegen, Flächen, die feuchter sind, Flächen, die eine schlechtere Bodenqualität haben. Die Landwirte legen ja nicht einen durchschnittlichen Acker still, sie legen die schlechtesten Flächen still, die sie haben. Insofern ist der Ertrag, der zu erwarten ist, gar nicht so hoch.

Die Hoffnung, Frau Peill, die Sie eben vorgetragen haben, dass wir durch die Nutzung dieser Flächen wirklich viel erreichen können, sehe ich als eher gering an. In der Abwägung zwischen möglicherweise zusätzlichen Erträgen und der Funktion, den diese Brachflächen ökologisch haben, komme ich dazu, es nicht zu tun, sondern den Kurs, den wir hier immer wieder gemeinsam vereinbart haben, fortzusetzen, nämlich mit einer ökologischeren Landwirtschaft, die auf den vorhandenen Ackerflächen, die sie nutzt, im globalen Vergleich sehr hohe Erträge erzielt, auch weil sie so intensiv ist, weil sie stark mit Stickstoff arbeitet.

An dieser Stelle sagen wir: Das ist nicht der richtige Weg. Ich werde Ihnen gleich im zweiten Teil unsere Lösungsvorschläge darlegen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von

Norwich Rüße (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Teil zwei folgt. Ich würde doch gerne ein bisschen … Frau Winkelmann, eigentlich wollte ich etwas ganz anderes sagen. Aber das, was Sie gerade vorgetragen haben … Ich war so froh, dass Sie bei der Beantragung der Aktuellen Stunde die Düngeverordnung außen vor gelassen haben. Dass Sie das jetzt trotzdem wieder ins Spiel bringen … Alles, was Sie thematisieren, wirkt rückwärtsgewandt und nicht nach vorne.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Frau Winkelmann, ich weiß nicht, was Sie als Abgeordnete so machen. Sie müssten doch ein Abo von top agrar haben. Die Kollegin Frau Watermann-Krass hat eben einen Artikel erwähnt, in dem es um Weizen geht. Professor Longin aus Stuttgart hat sich genau dazu geäußert. Die Backqualität des Weizens ist nämlich nicht abhängig davon, dass man die letzte Düngung, die Spätdüngung macht, wie die Bauern es jahrelang betrieben haben, weil sie auch danach bezahlt wurden. Vielmehr ist der Weizen sehr wohl auch anders nutzbar und weniger intensiv gedüngt backfähig.

(Zuruf von der CDU)

Da sind wir bei dem Punkt. Sie, Frau Ministerin, haben die Düngeverordnung angesprochen. Sie sind ja nicht nur Landwirtschaftsministerin – so sind Sie hier eben aufgetreten –, sondern auch für Umwelt und Natur zuständig. Ich finde es auch eine gute Lösung, dass wir in Nordrhein-Westfalen diese Zuständigkeit haben. Aber ich möchte gerne, dass Sie das dann auch gleichermaßen sehen.

Wir haben jetzt so lange über die Problematik der Artenvielfalt geredet. Wenn wir nun schon wieder sagen: „Wir wollen das nicht; wir wollen die ökologischen Vorrangflächen nutzen; wir wollen die Stilllegungsflächen in den nächsten Jahren nicht haben“, dann ist das doch für die Artenvielfalt ein enormer Rückschritt. Das können wir nicht wollen.

An dieser Stelle bin ich wieder bei dem Artikel zum Weizen. Wenn es stimmt, was dieser Professor sagt – und er beschäftigt sich sehr viel mit dieser Frage –, nämlich, dass wir nur 30 % unserer Weizenernte in Deutschland zum Backen verwenden, obwohl 80 % backfähig wären,

(Zurufe von der CDU)

dann ist alleine bei dieser Weizenernte von 25 Millionen Tonnen noch ganz viel Reserve da, die man sehr wohl nutzen könnte, um zu backen.

Wenn Sie Hunger haben, dann gucken Sie, glaube ich, nicht danach, ob das Brötchen super aufbackt, sondern der Weizen muss überhaupt backfähig sein.

(Beifall von den GRÜNEN und Inge Blask [SPD] – Zuruf von Matthias Goeken [CDU])

Ich habe großes Vertrauen in die Wissenschaft und darin, dass ein Professor, der dieses Thema seit Jahren bearbeitet, schon weiß, worüber er redet.

(Zuruf von Dr. Patricia Peill [CDU])

Wenn wir von diesem Delta zwischen „30 % genutzt“ und „80 % nutzbar“ nur ein Zehntel nutzen und für die Menschen auf dieser Welt verfügbar machen würden, entspräche dies über 1 Million Tonnen. Eine solche Menge kriegen Sie nicht von Ihren ökologischen Vorrangflächen. Deshalb müssen wir diesen Weg beschreiten.

Wir können uns auch einmal darüber unterhalten, dass der Schweinefleischverzehr in Deutschland in den letzten zehn Jahren von 40 kg pro Kopf auf 30 kg pro Kopf gesunken ist.

(Zuruf von Dr. Christian Blex [AfD])

Das ist ein Viertel weniger. Die nächste Generation sagt, dass sie aus genau diesen Gründen – Klimaschutz, Rettung der Artenvielfalt, Sicherung der globalen Ernährung – weniger Fleisch essen will.

(Zuruf von Dr. Christian Blex [AfD])

Das sind die Schlüssel, an denen wir gemeinsam arbeiten müssen.

Wir werden unseren Konsumstil ändern müssen. Wir können nicht so viel Energie verbrauchen.

Dazu gehört auch der Dünger. Perspektivisch werden wir nicht in diesen Mengen erdgasbasierten Dünger einsetzen können. Es muss doch klar sein, dass das nicht geht. Wir werden mehr Leguminosen anbauen. Da sind wir doch auch auf einem guten Weg. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam weitergehen.

Ich appelliere an Sie alle. Herr Diekhoff, ich, wir alle haben in einer Enquetekommission zusammengearbeitet, die, wie ich finde, 165 sehr gute Handlungsempfehlungen gemacht hat und sehr kompatibel mit der Zukunftskommission Landwirtschaft auf Bundesebene ist.

(Dr. Patricia Peill [CDU]: Herr Rüße, es geht um das Jetzt! Nicht in fünf Jahren!)

Das ist doch der Punkt. Den Weg muss man gemeinsam bestreiten. Man kann nicht jetzt zu den Rezepten von gestern zurückgehen, sondern muss sehen, wo man heute wirkliche Reserven öffnen kann.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD – Zuruf von Matthias Goeken [CDU])

Ich habe Ihnen gesagt, dass es die Möglichkeit gäbe, über 1 Million Tonnen aus der Weizenproduktion in Deutschland freizusetzen. Das sind tatsächlich realisierbare Möglichkeiten. Daran sollten wir herangehen

(Zuruf von Bianca Winkelmann [CDU])

und nicht so vorgehen, wie Sie es sagen.

(Bianca Winkelmann [CDU]: Ganz schlimm! Ganz schlimm!)

Denn dann würden wir tatsächlich Klimakrise, Krise der Artenvielfalt und Ernährungskrise gegeneinander ausspielen.

Das wollen wir Grüne nicht. Wir wollen zukunftsgerichtete Konzepte. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und André Stinka [SPD] – Josef Hovenjürgen [CDU]: Das ist gelebte egoistische Politik! Nur uns sehen, nicht die Dritte Welt! Die Dritte Welt siehst du nicht! Ich bin entsetzt! Ich bin wirklich entsetzt! Unglaublich! – Andreas Keith [AfD]: Schauspielerei! Die Gewinnung von Kobalt ist Ihnen genauso egal! – Josef Hovenjürgen [CDU]: Mit Ihnen rede ich doch gar nicht!)

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