I. Ausgangslage
Am 28. Januar 1972 beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz den sogenannten Radikalenerlass. Die darin getroffenen Regelungen sollten „Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten“ aus dem öffentlichen Dienst entfernen bzw. von diesem fernhalten. In Nordrhein- Westfalen waren von den aus dem Radikalenerlass faktisch folgenden Berufsverboten bis zu seiner Außerkraftsetzung im Jahr 1980 etwa 5.000 Personen, nahezu alle im Schuldienst, betroffen.
Die aus dem Radikalenerlass folgenden Maßnahmen hatten negative Auswirkungen auf die berufliche Weiterentwicklung und junge Menschen daran gehindert, ihren Lebensweg wie gewünscht zu gehen. Sie brachten damit Nachteile etwa wenn Betroffene erst verspätet und nicht im Beamtenverhältnis in den Schuldienst eingestellt wurden.
Obwohl sich der Radikalenerlass formell gegen Links- und Rechtsextreme richten sollte, traf er in der Praxis auch Aktive aus dem linken politischen Spektrum. Dabei ging es etwa um Mitglieder kommunistischer, sozialistischer und anderer linker Gruppen, aber genauso um Angehörige von Friedens- und Abrüstungsinitiativen. Fast ausnahmslos hatten sich die Betroffenen nichts zu Schulden kommen lassen, sondern waren legalen politischen Aktivitäten nachgegangen: Das Kandidieren auf Wahllisten, die Teilnahme an Demonstrationen oder die Unterzeichnung von politischen Aufrufen. Ohne begründete Anhaltspunkte für ein tatsächliches verfassungsfeindliches Verhalten und ohne Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wurden sie unter einen Generalverdacht gestellt.
Opposition und Protest sind konstitutiver Bestandteil einer Demokratie und brauchen ihren Platz. Die Berufsverbotspraxis in Folge des Radikalenerlasses führte dazu, dass systemkritische Organisationen und Personen an den Rand der Legalität gedrängt wurden. Die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit wurde behindert, bedroht und bestraft.
Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 bestätigte zwar die Verfassungskonformität des Radikalenerlasses. Das Gericht wies in seinem Urteil jedoch zugleich darauf hin, dass die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation alleine noch keinen Ausschluss aus dem Beamtenverhältnis bzw. dem Vorbereitungsdienst rechtfertige. Notwendig sei vielmehr die Würdigung des Gesamtverhaltens eines Bewerbers, welches sich aus verschiedenen Beurteilungselementen zusammensetze.
Die Bundesregierung und einige Bundesländer strebten nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine Überarbeitung des Radikalenerlasses an. Die Mitgliedschaft in einer Partei oder sonstigen Vereinigung, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, sollte nicht länger alleiniges bzw. entscheidendes Kriterium der Beurteilung der Verfassungstreue eines Bewerbers oder einer Bewerberin und seiner bzw. ihrer Eignung für den öffentlichen Dienst sein.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung erklärte bereits 1976, die im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts dargestellten Grundsätze der Bewertung der Verfassungstreue als verbindlich zu betrachten und umzusetzen. Am 18. Dezember 1979 beschloss die Landesregierung, den Radikalenerlass aufzuheben und zum 1. Januar 1980 neue „Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue von Bewerbern für den öffentlichen Dienst“ in Kraft zu setzen.
1995 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezogen auf einen konkreten Einzelfall fest, dass die Berufsverbotspraxis gegen Artikel 10 und Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit) verstößt.
Als erstes Landesparlament hat der Niedersächsische Landtag im Jahr 2016 eine Beauftragte für die Aufarbeitung der Berufsverbote eingesetzt, die ihre Arbeit gemeinsam mit Gewerkschaften, Betroffenen und Initiativen aus der Zivilgesellschaft bis Anfang 2018 ausführen konnte.
II. Beschlussfassung:
Der Landtag stellt fest:
- Menschen, die einer legalen politischen Betätigung nachgehen, dürfen nicht durch Berufsverbote, Verhöre und Verdächtigungen eingeschüchtert werden. Berufsverbote allein aus der Mitgliedschaft einer systemkritischen Organisationen abzuleiten, entspricht nicht mehr der Rechtspraxis und dem heutigen Rechtsempfinden.
- Durch die Berufsverbotspraxis wurde, teilweise zu Unrecht, jungen Menschen die Chance auf ihren Wunschberuf genommen, deren politisches Engagement im Rahmen der Mei-nungs- und Versammlungsfreiheit stattfand.
- Die vom sogenannten Radikalenerlass betroffenen Personen hatten durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Nachteile.
Der Landtag beschließt:
- Der Landtag bedauert, dass diese Praxis bei den zu Unrecht Betroffenen zu Leid und persönlichen Nachteilen geführt hat. Der Landtag spricht den Betroffenen, die sich bis heute für eine Aufarbeitung der Berufsverbote einsetzen, seinen Dank und seine Anerkennung aus.
- Der Landtag beauftragt die Landesregierung, gemeinsam mit dem Landtag die historische Aufarbeitung der Berufsverbote voranzutreiben. Mögliche Instrumente hierfür sind die Einsetzung einer unabhängigen Historikerkommission, eines Runden Tisches oder die Einsetzung einer oder eines Beauftragten zur historischen Aufarbeitung. Ziel ist, dass im Prozess der Aufarbeitung insbesondere auch die Perspektive der Betroffenen in den Blick genommen wird und diese die Möglichkeit erhalten, Anerkennung für ihre persönliche Geschichte zu finden.
- Der Landtag beauftragt die Landesregierung, dem Landtag innerhalb eines Jahres Vorschläge für eine eventuelle rechtliche Rehabilitierung und eine eventuelle finanzielle Entschädigung der Betroffenen zu unterbreiten.