Josefine Paul: „Es gibt eine Erinnerungskultur, die Grundlage für Demokratiebildung und für Vielfalt ist – das ist auch gut so“

Zum Antrag der "AfD-Fraktion zu "60 Jahre Mauerbau"

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wieder einmal beschäftigen wir uns hier mit einem Antrag zur Geschichte der deutschen Teilung. Das könnte ein guter Anlass sein, um tatsächlich über diese Fragen der deutschen Geschichte zu sprechen. Aber – Kollegin Freimuth hat gerade schon darauf hingewiesen – man bekommt zuweilen den Eindruck, dass Sie uns eigentlich eher belehren wollen und hier Geschichtsvorlesungen halten wollen, aber weniger etwas zum politischen Diskurs beitragen wollen.

Das ist schade; denn das Thema ist natürlich ein wichtiges der deutschen Geschichte. Der 60. Jahrestag ist ein historisches Ereignis, weil der Mauerbau weitreichende Folgen hatte, in Ost wie in West. Er markiert eine Zäsur der deutschen Geschichte – politisch, aber auch, wie bereits angeklungen ist, im ganz Privaten mit großen Umwälzungen für Familien und für Freunde, die von heute auf morgen durch die Mauer getrennt waren.

Die Mauer und die Grenzanlagen sind natürlich bis heute Erinnerungsort für die Teilung. Aber sie sind auch Erinnerungsort an Gewalt, an die gewaltsame Herrschaft, die versucht hat, die Menschen einzusperren, um zu versuchen, zu verhindern, dass sie mit den Füßen abstimmen und in die Freiheit gehen. Sie sind auch Erinnerungsort für die Opfer.

Kollege Bergmann hat gerade schon darauf hingewiesen: Ich bin in Helmstedt geboren und aufgewachsen – vielen von Ihnen vielleicht noch ein Begriff, weil das einer der großen Grenzübergänge gewesen ist. Insofern ist auch vielen Westdeutschen an dieser Stelle bewusst geworden, dass diese Grenze tatsächlich das Land teilt und welche Auswirkungen diese Grenze tatsächlich hat.

Für uns in Helmstedt – auch wenn ich erst sieben Jahre alt war, als die Mauer dann glücklicherweise gefallen ist – war das eine Alltagserfahrung. Auch im Westen war die deutsche Teilung dort eine erlebbare Alltagserfahrung. Auch die Überwindung der Teilung war hier eine gelebte Alltagserfahrung.

Auf die Fragen der Auseinandersetzung und des Diskurses zu der Teilung, der Wiedervereinigung und den Folgen bis heute gibt dieser Antrag überhaupt keine Antworten. Darauf will dieser Antrag auch gar keine Antworten geben. Denn um die Auseinandersetzung geht es Ihnen gar nicht. Es geht Ihnen auch nicht um die Frage, wie das in Konzepte historischer und politischer Bildung sinnvoll eingearbeitet werden könnte. Vielmehr wollen Sie hier Ihre historischen Vorträge halten und Ihr antiquiertes und auch zum Teil nationalistisches Bild vortragen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Erinnerungskultur braucht aber immer den Blick nach vorne. Das Gedenken darf doch nicht in Ritualen erstarren. Wir haben uns vor zwei Wochen schon darüber unterhalten, dass Gedenken etwas ist, was gestaltet werden muss. Es muss vor allem mit denen gestaltet werden, die vielleicht auch noch als Zeitzeugen von damals erzählen können.

Aber das, was Sie hier vorgelegt haben, ist wieder etwas, was in Erzählungen und in Ritualen erstarrt ist, was in ritualisierter Gedenkkultur erstarren soll.

Das ist nicht das, wofür eine moderne und gelebte Erinnerungskultur stehen sollte – eine Erinnerungskultur, die den Blick doch weitet für die Demokratie und für die Errungenschaften der Demokratie, auch aus den Erfahrungen der Geschichte heraus, aus den Erfahrungen des Dritten Reiches und des Naziterrors heraus, aus den Erfahrungen der deutschen Teilung heraus.

Deshalb ist doch folgende Frage wichtig: Welche erinnerungskulturelle Bedeutung kommt der Mauer, den Grenzanlagen und der Teilung bis heute zu?

Das Ganze ist natürlich auch in einen historischen Kontext einzubetten, weil die deutsche Teilung – das darf man niemals vergessen – die Folge der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Naziterrors ist. Die Mauer und der Todesstreifen waren sichtbares und spürbares und furchtbares Zeichen der Teilung Europas, des Eisernen Vorhangs und des Kalten Krieges.

Zur Geschichte der deutschen Teilung gehört aber auch die Geschichte der Überwindung der deutschen Teilung durch die friedliche Revolution – eine tatsächliche Demokratie- und Freiheitsbewegung, die die deutsche Einheit möglich gemacht hat, eine Bewegung aus dem Volk heraus, die es auch zu würdigen gilt.

Es gehört auch dazu, den bis heute andauernden Transformationsprozess zu würdigen. Aber auch dazu findet sich ja nie etwas in Ihren Anträgen.

Ihnen geht es nicht darum, tatsächlich die deutsch-deutsche Geschichte zu würdigen. Es wäre gut, über eine Geschichte Deutschlands zu sprechen, die aber nicht rein in einer Geschichtsstunde verharrt, sondern wirklich Anlass zum Diskurs bietet. Aber darum geht es Ihnen nicht.

Deswegen brauchen wir diesen Antrag nicht. Deswegen brauchen wir auch diese wiederholten Ermahnungen nicht, wir mögen uns doch bitte mit Erinnerungskultur beschäftigen. Es gibt eine gelebte Erinnerungskultur in Deutschland. Es gibt eine gelebte Erinnerungskultur in Nordrhein-Westfalen. Und es gibt vor allem eine Erinnerungskultur, die Grundlage für Demokratiebildung und für Vielfalt ist. Das ist auch gut so. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)