Josefine Paul: „Die Fehler des letzten Sommers und Herbsts dürfen sich nicht wiederholen“

Zur Unterrichtung der Landesregierung zur aktuellen Situation in der Corona-Pandemie

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst möchte auch ich mich namens meiner Fraktion dem Dank für den würdevollen Rahmen, den wir heute Morgen hier für die Erinnerung gefunden haben, anschließen. Entscheidend ist: Hinter dieser unglaublich großen Zahl von mehr als 17.000 Opfern stehen individuelle Schicksale, Familienschicksale, Erfahrungen der Pflegekräfte und Geschichten des Über-sich-Hinauswachsens. Herzlichen Dank, dass dafür heute dieser Rahmen gefunden wurde.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU, der SPD und der FDP)

Eine gewissen Erleichterung und die Hoffnung, dass wir die Pandemie zumindest in NRW bald überstanden haben könnten, ist überall zu spüren: in den Straßencafés, auf den Schulhöfen und auf den Spielplätzen. Wir selber merken es sicherlich auch, und das ist gut so.

Mit der nötigen Vorsicht und der weiter voranschreitenden Impfkampagne kann es uns gelingen, einen Jo-Jo-Effekt mit dramatisch ansteigenden Zahlen zu vermeiden. Darauf müssen sich unsere Anstrengungen konzentrieren.

Trotzdem ist klar, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Nicht nur bei einem Blick über den Tellerrand – die Regionen der Welt sind heute bereits angesprochen worden – wird deutlich, dass diese weltumspannende Krise viele Teile der Welt noch sehr fest im Griff hat, sondern auch hier müssen wir weiterhin sehr aufmerksam und wachsam sein.

Das gilt vor allem für diejenigen, die hier in Nordrhein-Westfalen Verantwortung tragen. Doch konnte man sich in den letzten Tagen kaum des Eindrucks erwehren, dass die Erleichterung bei der Landesregierung über die sich verbessernde Lage besonders groß ist.

Wer die öffentlichen Äußerungen des Ministerpräsidenten verfolgt hat, der könnte meinen, die Pandemie sei bereits so gut wie beendet, wir wären schon fast durch die Krise gekommen.

(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Das ist ja Quatsch!)

Die Aussage, dass die Auswirkungen der Delta-Variante nicht so groß sein könnten, wenn die Inzidenz jede Woche weiter sinke, offenbart jedoch ein gefährliches Halbwissen der Landesregierung,

(Beifall von den GRÜNEN)

und das obwohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht müde werden, zu mahnen, dass die Delta-Variante sehr viel ansteckender ist. Binnen kürzester Zeit konnten wir auch hierzulande einen Anstieg von 35 % an nachgewiesenen Neuinfektionen messen. Aufgrund der nachlaufenden Daten, wie das RKI immer wieder betont, liegt der Anteil heute wahrscheinlich schon bei mehr als 50 %.

Die Lage in England zeigt sehr drastisch, wie fragil vermeintlich erreichte Fortschritte bei der Eindämmung der Pandemie angesichts der Gefahr aggressiver Mutationen sein können. Portugal und Russland sind in dieser Woche aufgrund der Ausbreitung der Delta-Mutante zu Virusvariantengebieten erklärt worden. Gerade unter den politisch Verantwortlichen der Landesregierung darf sich jetzt keine Sorglosigkeit breitmachen.

Die Fehler des letzten Sommers und Herbsts dürfen sich nicht wiederholen. Ein guter Sommer darf jetzt nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir für den Herbst gewappnet sein müssen, dass die Situation im Herbst wieder etwas schwieriger sein könnte. Doch genau das zeichnet sich einmal mehr ab. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Lernkurve der Landesregierung alles andere als exponentiell ist.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Sommerferien stehen an. Das bedeutet für viele auch wieder Reisezeit. Nach den strapaziösen Monaten sind wir alle im Land urlaubsreif. Ich gönne allen Menschen von ganzem Herzen diesen Urlaub. Aber gerade mit Blick auf die Delta-Variante gilt es, klare Regeln im Zusammenhang mit Reisen und der Reiserückkehr festzulegen. Damit der Herbst gut wird, müssen wir auch bei den niedrigen Inzidenzen im Sommer vorsichtig bleiben. Es braucht klare Regeln, und es braucht vor allem eine klare und verständliche Kommunikation zu diesen Regeln.

Natürlich möchte niemand bei der diffusen internationalen Infektionslage im Moment Grenzschließungen. Das kann nicht das Mittel sein. Auch wenn die Infektionszahlen hierzulande niedrig sind, bleibt trotzdem weiterhin das verpflichtende Testen mit Blick auf die Reiserückkehrer notwendig und wichtig.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir brauchen insgesamt weiterhin Testmöglichkeiten und verpflichtende Testangebote in Betrieben, denn wir erleben doch derzeit, dass die Menschen bei niedrigen Infektionszahlen seltener Testangebote wahrnehmen. Weniger Testungen – das weiß der Gesundheitsminister, der heute die Unterrichtung vorgenommen hat – bergen das Risiko verdeckter Infektionen und damit verdeckter Infektionsketten.

Ich habe vorhin sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass Sie mit Blick auf das Abwassermonitoring gesagt haben, die Landesregierung wolle das jetzt prüfen. Prüfen Sie das bitte schnell, und unterstützen Sie die Kommunen zügig dabei, das auch ausrollen zu können.

Wir haben erste Pilot- und Modellprojekte in Nordrhein-Westfalen: in Bonn, in Köln und im Rhein-Erft-Kreis. Das Abwassermonitoring kann die Testungen ergänzen. Es verschafft uns ein Lagebild, das jetzt insbesondere wichtig ist, und es stellt keinen besonders großen Eingriff in den Alltag der Bürgerinnen und Bürger dar.

Deshalb noch einmal der Appell, Herr Gesundheitsminister: Sorgen Sie dafür, dass diese Prüfungen möglichst schnell positiv beschieden und abgeschlossen werden, damit die Kommunen flächendeckend ein Abwassermonitoring vornehmen können und wir ein genaueres Lagebild bekommen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sehr geehrte Damen und Herren, in seiner Pressekonferenz am 23.06. erklärte der Ministerpräsident, dass der „Expertenrat Corona“ das letzte Mal getagt habe und nunmehr aufgelöst sei. Es mag sein, dass die Landesregierung bei sich selbst kein Erkenntnisdefizit zu erkennen vermag, allerdings lässt das entweder auf eine gewisse Hybris seitens der Landesregierung schließen oder mindestens auf ein gewisses Zuhördefizit. Wenn man sich selbst attestiert, dass man mit dem Wissenszugewinn schon relativ weit fortgeschritten ist, ist es nur konsequent, dass der Ministerpräsident seinen eigenen Expertenrat auflöst, frei nach dem Motto: Pandemie fast beendet. Vielen Dank, wir brauchen Sie jetzt nicht mehr.

(Bodo Löttgen [CDU]: Sie hätten ja noch nicht mal einen eingeführt!)

„Verantwortung, Vorsicht und Vorbereitung“ – das ist der Titel dieser Unterrichtung. Nach 15 Monaten in der Pandemie wirkt dieser Titel einigermaßen skurril, möchte ich sagen. Die Landesregierung versucht sich immer wieder aus der Verantwortung zu stehlen und sie an andere Ebenen abzuschieben.

Herr Löttgen, Sie haben das gerade wieder gemacht und gesagt: Aber wir in Nordrhein-Westfalen sind so viel besser als die anderen Bundesländer; die anderen Bundesländer machen das ja auch nicht.

(Bodo Löttgen [CDU]: Das habe ich überhaupt nicht gesagt! Lesen Sie das noch mal nach!)

– Herr Löttgen, das ist nicht die Bundesligatabelle.

(Bodo Löttgen [CDU]: Ich habe weder von der Bundesliga noch von irgendwelchen anderen Bundesländern gesprochen!)

Es ist nicht entscheidend, auf welchem Platz Nordrhein-Westfalen steht, oder was die anderen Bundesländer getan haben. Sie tragen hier in Nordrhein-Westfalen Verantwortung. Nehmen Sie diese Verantwortung auch wahr!

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vorsicht wäre schon im Oktober und November 2020 und dann wieder im März dieses Jahres geboten gewesen. Das wäre das Gebot der Stunde gewesen, als man sich allerdings für das genaue Gegenteil und größere Lockerungsübungen entschied.

Die Menschen fühlen sich angesichts des mangelnden Krisenmanagements dieser Landesregierung doch mittlerweile ein Stück weit an „Und täglich grüßt das Murmeltier“ erinnert. Es dürfen jetzt nicht wieder die gleichen Fehler gemacht werden wie im letzten Sommer. Wir dürfen uns angesichts niedriger Inzidenzen und einer guten Sommerzeit nicht zu sicher fühlen. Wir müssen jetzt Vorkehrungen treffen, und zwar vor allem mit Blick auf die Schulen. Wir müssen jetzt Vorsorge dafür treffen, dass im Herbst sicherer Unterricht in Präsenz stattfinden kann.

(Beifall von den GRÜNEN)

Kinder und Jugendliche werden nämlich zum größten Teil ohne Schutzimpfung in das neue Schuljahr starten. Umso wichtiger ist es, jetzt die notwendigen Vorkehrungen, beispielsweise durch Luftfilter, zu treffen.

Stichwort „Verantwortung“: Frau Ministerin Gebauer und auch Frau Kommunalministerin Scharrenbach, Sie dürfen die Schulträger, die Eltern, die Schülerinnen und Schüler nicht weiterhin im Aerosolregen stehen lassen.

Wenn ich dann höre, dass der Ministerpräsident heute Morgen auf WDR 2 sagt, Luftfilter würden das Problem nicht lösen, frage ich mich einmal mehr, was denn bitte die Idee dieser Landesregierung ist, wie wir die Schulen für den Herbst sicher machen wollen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch mit Blick darauf, dass relativ wenig Mittel aus dem Programm des Landes durch die Kommunen abgerufen wurden, darf man sich als Landesregierung, Frau Ministerin Gebauer, aber vor allem Frau Ministerin Scharrenbach, auch einmal die Frage stellen, ob die Programme, die man immer wieder über die Kommunen bringt, handhabbar und passgenau sind.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Wenn Gelder nicht abgerufen werden, dann kann man nicht einfach schulterzuckend behaupten, man hätte alles getan. Man darf sich dann auch selbst mal überprüfen und hinterfragen.

Es darf nicht sein, dass wieder wichtige Zeit ungenutzt verstreicht, weil die Landesregierung ihre ganze Energie in die Verhinderung sinnvoller Vorschläge zum Infektionsschutz, aber auch zur Entlastung des Systems und vor allem zur Entlastung von Kindern und Jugendlichen steckt.

Damit sind wir schon bei den Vorbereitungen für das nächste Schuljahr. Nach anderthalb Jahren im Ausnahmezustand muss Druck aus dem System genommen werden. Vor allem Kinder und Jugendliche brauchen jetzt Freiraum zur Bewältigung dieser herausfordernden Zeit.

Da sind Sie gefordert, diese Freiräume auch im System Schule zu schaffen.

Die Schülerinnen und Schüler können jetzt hoffentlich wieder dauerhaft zur Schule zurückkehren. Die Schule muss ein Lebens-, Erlebnis-, Entwicklungs- und Bewältigungsraum sein. Im Umkehrschluss bedeutet das: Geben Sie den Schulen die pädagogische Flexibilität, um Stundentafeln und curriculare Vorgaben mindestens bis zu den Herbstferien aussetzen zu können.

Beziehen Sie endlich auch die zivilgesellschaftlichen Akteure ein, und erleichtern und unterstützen Sie die Schulen bei außerschulischen Lernorten. Zudem braucht es mehr Freiheiten bei der Gestaltung der Leistungserbringung.

Eines ist mir besonders wichtig, weil das immer untergeht: Kinder und Jugendliche sind nicht nur Schülerinnen und Schüler. Wir müssen deshalb aufhören, Sie in den Debatten immer darauf zu reduzieren. Wichtig ist, ihnen vor allem einmal zuzuhören.

Herr Laschet, der Expertenrat hat in seiner sechsten und letzten Stellungnahme noch einmal deutlich gemacht, dass sie es sind, die einen sehr hohen Preis für die Gesundheit älterer Generationen gezahlt haben. Nach der langen Leistung der Solidarität müssen sich die jungen Menschen jetzt darauf verlassen können, dass die ältere Generation ihnen gegenüber solidarisch ist. Außerdem man muss sie auch einmal fragen, anstatt nur über sie zu sprechen, was sie eigentlich brauchen.

Stichwort „brauchen“: Es wird noch an einem anderen Beispiel deutlich, wie sehr dieses System auf Verschleiß gefahren wurde. Eine Studie der GEW NRW hat das gestern anhand des Kita-Systems sehr deutlich gemacht. Darin gaben 85 % der befragten pädagogischen Fachkräfte an, sich durch diese Landesregierung nicht wertgeschätzt gefühlt zu haben. 72 % gaben an, die Verlässlichkeit zugesagter Maßnahmen als negativ zu bewerten.

Der Familienminister – das muss man auch einmal deutlich sagen – …

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Josefine Paul (GRÜNE): … lobt sich sehr gerne für seine Bildungs- und Betreuungsgarantie. Diese Bildungs- und Betreuungsgarantie hat er aber vor allem aus der Kräftereserve der pädagogischen Fachkräfte bezogen. Deshalb ist es jetzt dringend notwendig, dass hier mehr Entlastung ins System kommt, anstatt auch noch das Alltagshelfer*innen-Programm wieder einzukassieren.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit, Frau Kollegin.

Josefine Paul (GRÜNE): Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Die Coronapandemie hat die Defizite im gesellschaftlichen Bereich offengelegt hat. Dabei wurde viel vom Brennglas gesprochen. Offenkundig ist aber, glaube ich, dass die Pandemie vor allem die Defizite im Krisenmanagement dieser Landesregierung und dieses Ministerpräsidenten offengelegt hat.

Die Fehler aus dem vergangenen Sommer

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert. – Zuruf von Henning Höne [FDP])

und aus dem vergangenen Herbst dürfen sich nicht wiederholen.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Josefine Paul (GRÜNE): Das Auf-Sicht-Fahren muss ein Ende haben. Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass man, wenn man nichts macht, auch nichts falsch machen kann, Herr Ministerpräsident.

(Beifall von den GRÜNEN)

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