Matthi Bolte-Richter: „Da werden eben Chancen für Kinder und Jugendliche vergeben“

Zum Antrag der SPD-Fraktion für eine Familien- und Bildungsoffensive

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen liebe Kollegen! Kindern sagt man gerne: Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Dir stehen viele Wege und Mög­lichkeiten offen; nutze sie! – Wenn wir aber ehrlich sind, müssten wir in vielen Situationen sagen: Wenn du aus bestimmten Quartieren kommst und deine Familie einkommensschwach ist, wenn deine Mutter oder dein Vater alleinerziehend ist, wenn deine Familie zugewandert ist, wenn dir deine Eltern in der Schule nicht helfen können, wirst du wahrscheinlich nicht die gleichen Chancen haben, nicht so viele Chancen haben, deine Talente zu entfalten, und dann stehen dir eben nicht alle Türen offen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Deutschland ist ein reiches Land, das ein sehr ausgefeiltes, aber an wichtigen Weggabelun­gen auch stark sozial segregierendes Bildungssystem hat. Es ist ein Skandal, dass es uns nicht gelungen ist – auch in verschiedensten Konstellationen nicht –, das Ziel der Bildungs­gerechtigkeit, dass allen alle Türen offenstehen, zu verwirklichen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Im Übrigen ist es auch volkswirtschaftlich dumm, wenn Talente und Potenziale ungenutzt bleiben, und zudem gesellschaftlich gefährlich, wenn der Zusammenhalt in der Gesellschaft untergraben wird, weil Menschen über Generationen hinweg Chancen vorenthalten werden und ihnen das Gefühl vermittelt wird: Du bist uns weniger wert.

Das so oft postulierte Aufstiegsversprechen bleibt vielfach ein leeres, ein vages Versprechen. Wir erleben es auch immer wieder als nicht minder große demokratische Katastrophe, dass mit dem nicht eingelösten Aufstiegsversprechen zu oft eine fehlende demokratische Teilhabe einhergeht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir sicher, dass alle demokratischen Fraktionen über­zeugt sind, dass wir uns mit dieser Situation nicht abfinden dürfen. Es ist deshalb gut, wenn wir hier und an anderer Stelle über Wege streiten und sprechen, wie wir die Bildungsunge­rechtigkeit bekämpfen können.

Ich finde, dass man an dieser Stelle auch ganz klar sagen muss – Kollege Brockmeier ist vorhin auf das Thema „Generationengerechtigkeit“ eingegangen –, dass Generationengerechtigkeit gerade in diesem Kontext nicht heißen darf: Wir sparen alles kaputt.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Generationengerechtigkeit muss doch bedeuten, dass wir in eine leistungsfähige Infrastruk­tur, vor allem die soziale Infrastruktur, investieren.

Die CDU und die FDP haben sich zu diesem Thema in ihrem Koalitionsvertrag bekannt. Was wurde konkret unternommen? Die Verstetigung der Stellen für die Schulsozialarbeit aus dem BuT-Programm, die wir unter Rot-Grün gerettet haben, weil sich die Große Koalition aus die­ser Verantwortung verabschiedet hatte, ist ein gutes Zeichen, auch wenn die Konzeption noch nachgeliefert werden muss.

Der schulscharfe Sozialindex geht vom Instrument her durchaus in die richtige Richtung. Das vorgelegte Modell, wie es jetzt umgesetzt wird, ist jedoch unzureichend. Es gibt keine zusätz­lichen Ressourcen, und wenn das so durchführt wird, bedeutet dieser neue Sozialindex, dass Schulen in schwierigen Lagen zu wenige Stellen untereinander neu verteilen müssen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

So wird eine Schule, die bislang Integrationsstellen zur Sprachförderung von zugewanderten Kindern und Jugendlichen bekam, diese unter Umständen verlieren, wenn die anderen Indi­katoren nicht ausreichen.

(Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und Bildung: Das stimmt doch gar nicht!)

An dieser Stelle produzieren Sie dann neue Verlierer, treffen damit die Kinder und verschlech­tern Chancen.

Ein ähnlich gelagertes Problem gibt es bei Ihrem anderen sogenannten Leuchtturmprojekt, den Talentschulen. Erst wollen Sie sechs Jahre lang testen, ob zusätzliches Personal helfen kann, Bildungsungerechtigkeiten abzubauen.

(Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und Bildung: Nee, genau nicht!) Gleichzeitig feiern CDU und FDP ihren unterausgestatteten Sozialindex.

Es gibt bei Ihnen kein Erkenntnisproblem, aber es gibt wohl ein Problem bei der Umsetzung in dieser Landesregierung.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Da schicken Sie nämlich wieder die Schulen, die dringend Unterstützung benötigen, in Kon­kurrenz untereinander. Das schafft Gewinner, das schafft aber auch Verlierer. Das entspricht vielleicht einer falsch verstandenen Wettbewerbslogik, aber es wird den Schülerinnen und Schülern nicht gerecht, und es geht auch nicht das Gesamtthema an.

60 Talentschulen entsprechen bei insgesamt 2.161 weiterführenden Schulen weniger als 3 %. Sie haben sich mit dieser Bildungshomöopathie vielleicht sechs Jahre Zeit für PR erkauft, aber den Schülerinnen und Schülern in Nordrhein-Westfalen läuft die Zeit davon.

(Beifall von Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD])

An Ressourcen dürfte es dabei nicht hapern. Schließlich hat die Schulministerin allein im Jahr 2020 mehr als 260 Millionen Euro an den Finanzminister zurückgegeben, weil Stellen nicht besetzt wurden.

Die Grundschulen – das gehört noch mal extra zu dieser Kritik – waren bei dem Pilotprojekt eh außen vor. Dabei wissen wir doch eines, und deswegen ist es auch richtig, dass wir den Kampf um Bildungsgerechtigkeit früh ansetzen: Schon in Kitas und Grundschulen werden die Grundlagen für eine gelingende Bildungsbiografie gelegt oder eben nicht. – Der groß ange­kündigte Masterplan Grundschule wurde zur Enttäuschung.

Die Ergänzung durch sozialpädagogische Kräfte an Grundschulen ist sicherlich ein guter Schritt. Aber sie wird dann eben auch wieder mit der Absenkung von Qualitätsstandards in der Inklusion verknüpft. Dabei ist doch gerade die Schaffung eines inklusiven Bildungssys­tems nicht nur völkerrechtliche Verpflichtung, sondern es beinhaltet auch die Verpflichtung, ein Bildungssystem für alle Kinder und Jugendlichen zu schaffen, die durch die Verhältnisse behindert werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es hier in den vergangenen Wochen immer wieder intensiv miteinander diskutiert: Die Coronapandemie hat die Bildungsungerechtigkeit deutlich hervortreten lassen und noch mal verschärft. Während die Ministerin hier immer wieder ver­kündet hat, dass eigentlich alles ganz gut verlaufen sei, zeichnete eine aktuell von der Uni­versität Bochum vorgelegte Studie ein anderes Bild. Diese Studie heißt „Das Bildungssystem in Zeiten der Krise“. Die Forscher*innen kommen in Bezug auf das erste Schulhalbjahr 2021 zu folgenden Ergebnissen, die ich zitieren darf:

„Im angepassten Regelbetrieb mussten demnach überproportional häufig solche Schüler*innen in den Distanzunterricht zurückkehren, deren soziale, familiale, wohnliche und technische Voraussetzungen genau dafür besonders ungünstig sind.“

Es geht dann weiter:

„Die Analysen dieses Beitrags lassen sich daher als ein Beleg für die Verschärfung von Bildungsungleichheit in der Corona-Pandemie verstehen und wollen dazu beitragen, die­sen blinden Flecken stärker sichtbar zu machen.“

Da haben wir also ein klares Problem, das in dieser Pandemie deutlich geworden ist, weil auch da die Unterstützung fehlte. Wir haben zahllose Vorschläge gemacht, wie man mit die­sem Problem umgehen könnte. Wir hätten zum Beispiel auf personelle Unterstützung zurück­greifen können, etwa durch Lehramtstudierende, Fachkräfte der außerschulischen Jugendar­beit und Jugendhilfe oder auch zivilgesellschaftliche Organisationen wie Teach First. Die ste­hen die ganze Zeit bereit. Da werden eben Chancen für Kinder und Jugendliche vergeben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen letzten Punkt möchte ich gerne ansprechen. Das ist das Problem der Gewalt in der Familie. Wir haben an vielen Stellen gesehen oder auch schon diskutiert, dass es sich noch nicht eindeutig in den Statistiken niederschlägt. Aber es ist eben ein nahe liegendes Problem, und es ist vor allem auch ein nahe liegendes Problem, dass das Dunkelfeld in dieser Hinsicht größer wird.

Über diese Problemstellung von möglicher Gewalt in der Familie dürfen wir nicht hinwegse­hen. Wenn alle zu Hause auf engem Raum sind, die Eltern womöglich in prekäre berufliche Situationen kommen und Konflikte entstehen, steigt einfach die Gefahr, dass Gewalt ins Spiel kommt. Wenn Schülerinnen und Schüler dann über Wochen nicht in der Schule sind, fehlen Gelegenheiten auch für Lehrkräfte, Hinweise wahrzunehmen, die auf Vernachlässigung und Gewalt schließen lassen. Deswegen müssen wir beim Kinderschutz – und das wäre auch ein wichtiger Schwerpunkt für diese Debatte – genau hinschauen und miteinander über systemische Verbesserungen streiten, um zu sehen, wo wir da vorankommen können.

Das ist, glaube ich, eine ganze Menge an Themen für eine breit angelegte Diskussion in den Ausschüssen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

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