Mehrdad Mostofizadeh: „Kinder und Jugendliche gehören zu den Hauptbetroffenen dieser Pandemie und müssen bei den Maßnahmen im Vordergrund stehen“

Entwurf der Landesregierung für ein Infektionsschutz- und Befugnisgesetz - zweite Lesung

Mehrdad Mostofizadeh

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen Kollegen! Zunächst möchte ich vorwegschicken, dass ich es nicht in Ordnung und nicht akzeptabel finde, dass wir Schulen schließen müssen und dass Kitas geschlossen sind. Ich finde es auch nicht in Ordnung, dass wir uns daran gewöhnen, dass derart tiefe Grundrechtseingriffe stattfinden. Es ist keine normale Lage, nach 14 Monaten Pandemie einen solchen Zustand zu haben.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich schreibe diesen Zustand nicht der hiesigen Landesregierung zu, vielmehr bezieht sich das auf ganz Deutschland. Ich finde das nicht hinnehmbar, und wir müssen alles tun, damit so etwas in Deutschland nicht mehr notwendig, sinnvoll und erforderlich ist. Als Politiker empfinde ich es als persönliche Niederlage, dass wir zu solchen Schritten greifen müssen und wir 14 Monate nach Beginn der Pandemie allen Ernstes darüber diskutieren, ob es ein Privileg sei, die Grundrechte, die in der Verfassung verbrieft sind, wahrnehmen zu können oder ob sie nicht vielmehr für alle gelten müssten. Diese Frage kann sich nicht stellen. Wir als Politik sowie die Verwaltung, also die Ministerien und Kommunalverwaltungen, müssen alles dafür tun, dass unser Grundgesetz in seiner Gesamtheit überall und für alle in besonderer Weise gilt. Das möchte ich vorwegschicken, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN)

In diesem Zusammenhang hat es eine Entwicklung gegeben. Ich möchte kurz auf die pandemischen Leitlinien und darauf, wie sie zustande gekommen sind, hinweisen. Ich fand es tatsächlich nicht in Ordnung, wie das passiert ist. Die Kollegin Lück wies schon auf die vorige Sitzung des Unterausschusses Pandemie hin. Dort habe ich darauf hingewiesen, dass die Regierung nach ihrem Gusto weiterarbeiten werde, wenn wir nicht sehr früh mit einem eigenen Vorschlag ins Parlament kämen. Es findet kein Stillstand der Rechtspflege statt. Das Parlament wird dann nicht nur nicht einbezogen, sondern hat sich auch nicht geäußert und keine Vorschläge gemacht. Das gilt schon seit der Änderung des Gesetzes in der vorigen Plenarsitzung. Wir könnten die Landesregierung sogar unmittelbar dazu aufrufen, die Coronaschutzverordnung zu ändern und entsprechende Hinweise geben. Wir haben dazu auch einen Antrag gestellt.

Trotzdem geht das Leben weiter. Obwohl die Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP dieses Verfahren in der Unterausschusssitzung aus meiner Sicht unnötig ausgebremst haben, indem sie keine Vorschläge aufnahmen, haben sie am vergangenen Wochenende Vorschläge auf den Tisch gelegt. Ich muss aber sagen, dass ich es nicht in Ordnung fand, dass direkt wieder die Presse eingeschaltet wurde. Das muss nicht unbedingt sein, aber es ist passiert.

Wir haben das zum Anlass genommen, Herr Kollege Höne, am Dienstag um 21:59 Uhr Vorschläge herüberzuschicken, um den Prozess voranzubringen. Ich finde es in Ordnung, dass Sie in Ihrem Änderungsantrag einige durchaus beachtliche Punkte übernommen und sich diese somit zu eigen gemacht haben. Ich bitte allerdings um Verständnis, dass wir darüber hinausgehende Vorschläge haben. So ist Demokratie, so ist Politik – und es ist auch völlig in Ordnung, dass das so ist.

Ich möchte drei, vier Unterschiede skizzieren, wegen derer wir Ihnen nicht folgen können.

Uns fehlt eine klare Zielperspektive, wofür wir das tun.

Es sind alle Maßstäbe und viele wichtige Punkte beschrieben – das ist sicherlich richtig –, auch abwägende Punkte.

Gerade das Thema „Indikatoren“ ist, finde ich, sehr gut übernommen worden. Denn wer meint, dass die Inzidenz nicht der einzig richtige Faktor ist und dann glaubt, weil das vielleicht nicht ganz ableitbar ist, wir bräuchten keine Herleitung für die notwendigen Grundrechtseingriffe, der liegt falsch und hat sich nur von seiner Verantwortung verabschiedet. Wir müssen das beschreiben. Wir müssen auch die Indikatoren beschreiben. Wir müssen auch beschreiben, warum wir sie für richtig halten.

Sonst wird jede Coronaschutzverordnung auch vor die Hunde gehen und vor Gericht einkassiert werden. Jeder Richter, der sein Handwerk halbwegs versteht – davon haben wir Gott sei Dank ziemlich viele in Nordrhein-Westfalen –, wird dann natürlich sagen: Ihr müsst doch mal sagen, warum ihr das macht, mit welcher Zielrichtung und auf Grundlage welcher Prognose. Ihr müsst das nicht ausrechnen, aber ihr müsst es zumindest begründen und herleiten.

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, finde ich es gut, wie das jetzt weiterentwickelt worden ist.

Der Inzidenzwert allein sei nicht ausreichend, ist zwar eine zutreffende Feststellung, aber die hilft in der Sache so lange nicht weiter, bis man etwas anderes hat.

Die Intensivstationen in Nordrhein-Westfalen sind voll, im Köln/Bonner Raum sogar so voll, dass Erkrankte abgewiesen werden müssen. Das ist nicht zu bestreiten. Das kann man zählen. Dafür muss man nichts ausrechnen. Das ist die Situation. Auch der Lagebericht von gestern und heute zeigt sehr eindeutig, dass die Belastung eher noch steigen wird, weil – Gott sei Dank – die jüngeren Menschen zwar besser mit der Krankheit klarkommen, aber dafür länger auf den Stationen bleiben. Zumindest sagen uns das die Medizinerinnen.

Ich bin sehr froh, dass wir jetzt systematisch darüber diskutieren. Denn das hat in den letzten Monaten immer nur ansatzweise funktioniert. Ich kann mich gut daran erinnern: Als ich hier im Mai letzten Jahres eine Teststrategie eingefordert habe – genau aus dem Gedanken heraus, dass wir gucken müssen, was machbar und herleitbar ist –, hat der Gesundheitsminister hier noch fast brüllend ausgeführt, wir könnten doch nicht alle Menschen in ganz Nordrhein-Westfalen testen. Jetzt tun wir es. Jetzt ist das ein wichtiger Baustein unserer Strategie. Es ist auch ein wichtiger Baustein unserer Strategie, das Impfen mit einzubeziehen sowie viele andere Punkte in diesem Zusammenhang.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, ein Punkt, den wir heute verständlicherweise noch nicht beschreiben können, ist ebenfalls sehr zentral. Wenn wir gleich diese Pandemischen Leitlinien verabschieden werden – in welcher Form auch immer –, dann ist auch die Frage der Übersetzung von hohem Belang.

Deswegen ist meine Bitte auch, dass wir im Parlamentarischen Begleitgremium auch sehr genau darauf gucken: Wie wird das denn übersetzt, also wie rechtfertigt die Landesregierung gegenüber dem Parlament ihre jeweils getroffenen oder auch nicht getroffenen Maßnahmen? Wie werden die Leitlinien eingehalten?

Wir haben im Hinblick auf die Anhörung diskutiert, was die Leitlinien bringen sollten, wenn sie nur – ich will es jetzt nicht herunterreden – Prosa wären und keine Funktion entwickeln würden. Dann hätten wir ja auch bei den normalen Anträgen zur Änderung der Coronaschutzverordnung bleiben können. Ich meine, darüber sollten wir uns noch einmal intensiv Gedanken machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Ein letzter Punkt. Eben war der Ministerpräsident noch da, jetzt ist er nicht mehr anwesend. Ich habe Verständnis dafür und will das überhaupt nicht bemängeln.

Ihr Entwurf der Pandemischen Leitlinien enthält einen Abschnitt „Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger“. Neben den Maßnahmen ist eine klare nach außen gerichtete Kommunikation – die auch in sich kohärent ist; dabei kommt es nicht immer auf die einzelne Maßnahme an – ganz zentral dafür, ob die Akzeptanz in der Bevölkerung und auch bei uns selbst für die getroffenen Maßnahmen vorhanden ist. Ich habe das letztes Mal schon beschrieben, wie das in der einen legendären Woche war: Montags ist man dafür, dass die Maßnahmen verschärft werden, um freitags dann festzustellen, dass selbst die getroffenen Maßnahmen durch das Freitesten konterkariert werden. Das ist nicht in Ordnung.

Ich bin auch, lieber Kollege Henning Höne, sehr bei Ihnen, was die Kritik an dieser Ausgangssperre betrifft. Aber wir müssen doch sagen, welches Ziel wir haben. Wie wollen wir denn mit dem Gesundheitssystem umgehen? Welche Belastung wollen wir zulassen? Stand heute reicht die Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen nicht aus, um ausreichend Puffer für die Menschen auf den Intensivstationen zu schaffen. Deswegen: nicht immer um den heißen Brei herumreden, sondern sehr klar adressieren, wohin wir wollen.

Für uns ist auch völlig klar: Die Kinder und Jugendlichen gehören zu den Hauptbetroffenen dieser Pandemie und müssen bei den Maßnahmen im Vordergrund stehen.

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir uns bei der Abstimmung zum Änderungsantrag enthalten und die Pandemischen Leitlinien, sollten Sie die unverändert vorschlagen, ablehnen müssen. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

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