Matthi Bolte-Richter: „Studierende dürfen in dieser Pandemie nicht länger vergessen werden“

Zum Antrag der SPD-Fraktion zur Situation von Studierenden in der Pandemie

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich habe in den letzten 14 Monaten oft an mein eigenes Studium zurückgedacht. Ich habe in der Zeit – während einer Vorlesung – meine Frau kennengelernt. Da muss man dann feststellen, dass die Folgen einer schlechten Lehre manchmal auch ganz gut sind. Ich habe viele Freunde gefunden. Ich habe viel gelernt. Ich habe auch mal gefeiert, vielleicht auch mal ein bisschen länger, als es heute der Fall ist. Ich bin mir sicher, vielen von Ihnen geht es genauso.

Wenn man sich die jetzige Situation der Studierenden ansieht, die in der Pandemie viel zu oft vergessen werden, dann stellen wir fest: Wer im Sommersemester 2020 ein Studium zum Beispiel einer Sozialwissenschaft, einer Sprache, der Wirtschaft oder auch ein Lehramtsstudium aufgenommen hat, der hat seine Kommilitoninnen und Kommilitonen in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal persönlich gesehen, der hat auch die Lehrenden und seine Hochschule nicht gesehen. Der wohnt vielleicht noch zu Hause und verfolgt die Vorlesungen vom Kinderzimmer aus. Zu Mittag gibt es dann Essen von Muttern und nicht aus der Mensa. Drei Semester, das ist ein halbes Bachelorstudium. Da fehlt einer ganzen Studierendengeneration ein entscheidender Lebensabschnitt.

Deshalb müssen wir uns endlich der Studierenden annehmen und ihre Probleme lösen. Es kann nicht sein, dass wir hier stundenlang über die Befindlichkeiten von irgendwem, über PR-Stanzen à la Brücken-Lockdown streiten, aber nicht über Lösungen für die sozialen Probleme unserer fast 770.000 Studis.

Meine Damen und Herren, es ist ja nicht so, dass diese schwierige soziale Situation vom Himmel gefallen wäre. Schon vor Corona mussten drei Viertel der Studierenden neben dem Studium arbeiten, um irgendwie ihren Lebensunterhalt zu sichern und damit ihre Ausbildung, ihren Aufstieg, den wir alle wollen. Nur 12 % der Studierenden bekommen BAföG. Die Situation war also nie gut.

Corona hat sie jedoch noch verschärft. Die Geschäfte mussten ebenso schließen wie die Gastronomie. Viele Veranstaltungen mussten ausfallen. Die klassischen Jobs für Studierende sind weggefallen. Im ersten Lockdown hatten 40 % der arbeitenden Studierenden plötzlich kein Erwerbseinkommen mehr. Mittlerweile dürfte dieser Anteil noch höher sein, weil gerade die Segmente, in denen Studierende als Aushilfen arbeiten, schließen mussten oder nur noch eingeschränkt geöffnet werden konnten.

Es ist ja nicht so, Herr Kollege Nacke, dass wir hier über das Klischee von kellnernden Studierenden sprechen; vielmehr ist die Zahl von 40 % im letzten Jahr von verschiedenen Medien auf Basis einer Umfrage des Personaldienstleisters Zenjob veröffentlicht worden. Im Juni 2020 ist das erschienen. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, das ist doch alles nur eine gefühlte Wahrheit, dann muss ich schon sagen, das, was Sie hier an möglichen Alternativen aufgeführt haben, hat diese 40 % nicht einmal ansatzweise abgebildet.

(Beifall von Josefine Paul [GRÜNE])

Bereits letztes Jahr im April, Frau Ministerin, haben wir Sie im Ausschuss aufgefordert, endlich etwas zu tun. Andere Bundesländer waren da vorangegangen und hatten zu diesem Zeitpunkt schon Hilfen für Studierende aufgelegt, weil vom Bund nichts kam. In NRW geschah jedoch nichts.

Dann ist der Bund tätig geworden, vier Monate zu spät und mit abenteuerlichen Bedingungen. Das Maximum der Nothilfe betrug 500 Euro. Wenn ein WG-Zimmer in Köln – diese Zahl ist nicht aktuell, sondern schon ein paar Jahre alt – 436 Euro kostet, dann kann man sich doch nicht hier hinstellen und sagen, alles ist gut, jetzt gibt es ja die Bundeshilfe. Das geht doch nicht. Da vergessen Sie einfach eine riesengroße Gruppe. Sie lassen sie komplett außer Acht.

Ich glaube, Ministerin Karliczek hat diese Überbrückungshilfe extra so konzipiert, damit sie von möglichst wenig Studierenden in Anspruch genommen wird. In diesen ganzen Debatten war von der NRW-Wissenschaftsministerin nichts zu hören; sie war auf Tauchstation.

(Beifall von den GRÜNEN)

Nach ungefähr einem Jahr Nothilfe kommt jetzt die Abrechnung für die damals von vielen Seiten gelobten KfW-Kredite. Die kommen die Studierenden teuer zu stehen. Nach einem Jahr Studienkredit sind – die Zahlen sind gerade schon vorgerechnet worden – 2.560 Euro allein an Zinsen für die entsprechende Laufzeit aufgelaufen. Das BMBF, das den Studierenden in dieser schwierigen Situation eigentlich helfen sollte, übernimmt davon sage und schreibe 180 Euro. Das ist völlig unzureichend. Diese ganze Nothilfe lindert keine Not. Sie verursacht allenfalls Studienabbrüche. Die Untätigkeit von Frau Karliczek und von vielen ihrer Länderkolleginnen können wir uns als Bildungsnation nicht länger leisten.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Alternativen, meine Damen und Herren, liegen doch auf dem Tisch. Frau Ministerin, als wir vor einem Jahr über die Not der Studierenden sprachen, da haben Sie gesagt, an das BAföG traut sich keiner ran; denn wir haben schon damals darüber debattiert, das BAföG zu öffnen. Dass sich an das BAföG keiner rantraut, mag ja sein, und das ist bedauerlich, aber es ist doch kein Naturgesetz, dass sich da keiner rantraut, und es ist auch kein Naturgesetz, dass man darauf warten muss, dass sich jemand anderes traut, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen.

Wir als Grüne fordern schon seit langer Zeit einen einfacheren und breiteren Zugang zum BAföG. Die Bundesregierung hätte gerade in dieser Notsituation schon mit kleinen Änderungen große Effekte schaffen und mehr Studierende erreichen können. Wir müssen das BAföG dringend neu aufsetzen und zu einer Grundsicherung für alle Studierenden und Auszubildenden umbauen. Das beinhaltet einen Garantiebetrag für alle Studierenden und die Auszubildenden sowie einen Bedarfszuschuss für diejenigen, die aus einkommensarmen Elternhäusern kommen.

Es ist aber nicht nur die Bundesregierung gefordert – die neue Bundesregierung, denn die alte hat es ja nicht hingekriegt –, sondern auch das Land. Die Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, sind durchaus richtig. Das Land muss in der Krise jetzt über den Rettungsschirm bei den Mobilitätsbeiträgen helfen. Das sind pro Semester gut 200 Euro Entlastung für die Studierenden.

Aber wir stehen auch perspektivisch in der Verantwortung, Semesterbeiträge und Mobilitätsbeiträge langfristig stabil zu halten. Wir stehen auch in der Verantwortung, durch höhere Zuschüsse an die Studierenden die Sozialbeiträge stabil zu halten; denn nur so werden wir die Sozialbeiträge dauerhaft in den Griff kriegen.

Wir haben über diese Themen hier im Haus schon viel gestritten. Aber ein Thema verschärft sich gerade dramatisch. Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse hat vor wenigen Tagen aufgezeigt, dass jede und jeder zweite Studierende im Online-Studium psychische Schwierigkeiten hat. Das beginnt bei starken Motivationsproblemen, geht aber schnell hin zu Depressionen und Angststörungen. Ich muss es einfach mal so sagen: Denen hilft es nicht, wenn die Regelstudienzeit verlängert wird, und denen hilft es auch nicht, wenn es eine E-Book-Lizenz gibt, sondern denen hilft nur konkrete Hilfe, konkrete Beratung in dieser schwierigen Situation. Wir haben da wirklich ein krasses Problem. Ich bitte Sie inständig, sich darum zu kümmern. Die Zahl der Anfragen von den Studierenden nach psychologischer Beratung an den Hochschulen steigt seit dem letzten Jahr spürbar an. Wir brauchen mehr Unterstützung für diese Beratungsangebote, die es bei den Studierendenwerken und bei den Hochschulen gibt. Die Hochschulen müssen zuverlässig dafür sorgen, dass die Angebote allen Studierenden bekannt sind. Den Betroffenen muss geholfen werden, auch wenn es nur eine Beratung per Telefon oder Videogespräch gibt. Da braucht es dringend Hilfe; denn wir sind wirklich dabei, in eine richtig krasse Problemlage zu geraten.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Studierende sollen sich auf ihr Studium konzentrieren können, und Sie sollen sich nicht ausschließlich von Nudeln mit Ketchup ernähren müssen. Der Bund und das Land sind in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass unsere Studierenden während dieser Pandemie und auch darüber hinaus gut über die Runden kommen. Wie in den letzten 14 Monaten mit den Studierenden umgegangen wurde, war vielfach beschämend. Es war mindestens enttäuschend, gerade für ein Land, das so viel auf seine Bildung Wert legt, wie wir es in Deutschland tun. Studierende dürfen in dieser Pandemie nicht länger vergessen werden.

(Beifall von den GRÜNEN)