I. Ausgangslage
Die Corona-Pandemie hat sich innerhalb kürzester Zeit von einem lokalen Ausbruch zu einer globalen Gesundheitskrise entwickelt. Früh wurde deutlich, dass sie nur durch internationale Kooperation und Solidarität zu bewältigen sein würde. Das begann mit der grenzüberschreitenden Versorgung von schweren Covid-19-Fällen und erstreckt sich mittlerweile u.a. auf die Beschaffung und Verteilung von Impfstoff. Die EU setzte dabei auf gemeinsame Bestellungen von Impfdosen für die gesamte Union, um sogenannten Impfnationalismus zu verhindern, bei dem jeder Mitgliedsstaat selbst für die Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Vakzinen zuständig gewesen und unweigerlich mit den anderen in einen Konkurrenzkampf getreten wäre. Mit dem Vorgehen der EU-Kommission konnte die innereuropäische Solidarität jedoch gewahrt werden.
Auf globaler Ebene allerdings lässt die EU ihre Ideale ordentlich schleifen. Sie und andere reiche Industrieländer haben sich den Großteil der weltweit verfügbaren Impfdosen direkt bei den Herstellern gesichert und versuchen nun mit Ausfuhrkontrollen möglichst viel Impfstoff für die eigene Bevölkerung einzubehalten. Länder im globalen Süden gehen oftmals leer aus, weil sie sich die hohen Preise der Herstellerfirmen nicht leisten können und nicht über eigene Produktionsstandorte verfügen. In vielen Ländern des globalen Südens ist bislang keine einzige Dosis verimpft – und weiterhin gibt es wenig Aussicht auf einen schnellen Impfstart. Auch Menschen auf der Flucht werden aktuell kaum mit Impfstoff versorgt.
Diese mangelnde Solidarität der EU mit ärmeren Staaten sendet ein fatales Signal in die Welt und bietet autokratisch regierten Ländern wie beispielsweise Russland die Gelegenheit, sich über eigene Impfstofflieferungen Einfluss zu verschaffen. Dabei wäre die Versorgung des globalen Südens nicht nur aus Gründen der Humanität und Solidarität zwingend geboten, sondern auch um die Ziele der eigenen Impfbemühungen nicht zu unterwandern. Eine vollständig immunisierte Bevölkerung in Europa nützt wenig, wenn das Virus sich mangels Impfschutz in anderen Ländern weiter ausbreitet, dort mutiert und als Variante wieder in Europa eingeschleppt wird, gegen die die jetzigen Impfstoffe wirkungslos sind.
Am schnellsten könnte diesem Problem begegnet werden, wenn man die Produktionskapazitäten für Impfstoffe weltweit massiv ausweiten würde. In Ländern wie beispielsweise Indien sind bereits Produktionsstätten vorhanden, die die benötigten Vakzine herstellen oder innerhalb einiger Monate entsprechend umgerüstet werden könnten. Dem stehen zur Zeit Patent- und Eigentumsrechte der Entwicklerfirmen entgegen, es gibt jedoch vielversprechende Ansätze, die dazu geeignet wären, diese Rechte zeitweilig aufzuheben, um eine Impfstoffpro-duktion an deutlich mehr Standorten auf der ganzen Welt zu ermöglichen.
Auf internationaler Ebene könnte ein sogenannter TRIPS-Waiver genutzt werden, um die Eigentumsrechte der Herstellerfirmen für alle Covid-19-Technologien (d.h. alle Produkte zur Diagnose, Vorbeugung und Behandlung von Covid-19) auszusetzen, bis ein Großteil der Weltbevölkerung immunisiert wäre. Einen entsprechenden Antrag haben Indien und Südafrika bereits im vergangenen Herbst bei der Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht (Indien und Südafrika fordern von WTO, Patente wegen Covid-19 auszusetzen (bukopharma.de)). Dieser fand eine breite zivilgesellschaftliche Unterstützungen von mehreren Hundert Nichtregierungsorga-nisationen, jedoch bislang nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit im TRIPS-Council der WTO. Insbesondere die USA und die EU sperren sich vehement dagegen, das für die Impf-stoffproduktion erforderliche Wissen zu einem globalen öffentlichen Gut zu erklären. Dabei verkennen sie jedoch, dass die Herstellerfirmen den Impfstoff-Entwicklungsprozess nicht ausschließlich aus eigener Tasche und auf eigenes Risiko bezahlt haben, sondern dass in erheblichem Umfang Steuergelder in diese Prozesse geflossen sind. Deshalb sind die entwickelten Impfstoffe auch ein öffentliches Gut.
Die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten müssen ihre Blockade aufgeben und die Eigentumsrechte der Herstellerfirmen gegen angemessene Entschädigungszahlungen zeitweilig aussetzen. Sollte dies im Rahmen der WTO nicht gelingen, so hat Ratspräsident Charles Michel bereits einen Alternativweg aufgezeigt, den die EU in diesem Fall beschreiten könnte (Charles Michel says EU could invoke ‘urgent measures’ in response to vaccine shortfall – POLITICO). Nach Auffassung von Rechtsexpertinnen und -experten könnte der Notfall-Artikel 122 des EU-Vertrags dahingehend ausgelegt werden, die Freigabe von Impfstofflizenzen zu ermöglichen. Auch in diesem Fall müssten die Herstellerfirmen für die Preisgabe ihrer Geschäftsgeheimnisse entschädigt werden. Die Kosten dafür dürften jedoch weit unter denen liegen, die durch eine weitere unkontrollierte Ausbreitung des Virus und durch die Unterminierung der laufenden Impfanstrengungen durch Virusmutanten verursacht würden.
Die Landesregierung muss sich nun schnellstmöglich auf Bundes- und EU-Ebene für eine Aufgabe der Blockade gegen die Patentfreigabe einsetzen. Insbesondere Ministerpräsident und CDU-Bundesvorsitzender Armin Laschet muss hier seinen Einfluss geltend machen. Gleichzeitig sollte die Landesregierung ihre internationalen Beziehungen nutzen, um einerseits auch dort für die Patentfreigabe zu werben und andererseits Bedarfe und Unterstützungsmöglichkeiten auszuloten, zum Beispiel im Partnerland Ghana. Es müssen ebenfalls mehr Mittel in Forschung und Entwicklung von Covid-19-Technologien bzw. ganz grundsätzlich von Technologien zur Eindämmung pandemischer Lagen fließen. Dabei ist auf Förderbedingungen für sozial gerechten Zugang zu den zu entwickelnden Produkten und auf Technologie-Transfers in die Länder des globalen Südens zu achten.
II. Der Landtag beschließt:
Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- sich auf europäischer und Bundesebene für einen TRIPS-Waiver einzusetzen, der die Eigentumsrecht für alle Technologien zur Diagnose, Vorbeugung und Behandlung von Covid-19 zeitweilig aussetzt;
- sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass über die Auslösung von Art. 122 TFEU Patente für o.g. Covid-19-Technologien freigegeben und die Herstellerfirmen angemessen entschädigt werden;
- ihre internationalen Beziehungen zu nutzen, um einerseits auch dort für die Patentfreigabe zu werben und andererseits Bedarfe und Unterstützungsmöglichkeiten auszuloten, zum Beispiel im Partnerland Ghana;
- sich auf europäischer und Bundesebene dafür einzusetzen, eine globale Impfstrategie zu erarbeiten, welche die besonderen Herausforderungen der Länder des globalen Südens berücksichtigt und jahrelange Verzögerungen bei der Impfstoffverteilung verhindert;
- Forschung und Entwicklung für weniger temperatursensible Impfstoffe stärker zu fördern unter Formulierung klarer Bedingungen für sozial gerechten Zugang;
- Forschung und Entwicklung weiterer Covid-19-Technologien stärker zu fördern und dabei zu prüfen, ob Herstellerfirmen als letztes Mittel zur Vergabe von Lizenzen verpflichtet werden müssen, um die notwendigen Herstellungsziele bei o.g. Produkten zu erreichen;
- Anschubfinanzierungen und Technologie-Transfers in den Ländern des globalen Südens stärker zu fördern, um den Ausbau von bestehenden Produktionskapazitäten und die Stärkung leistungsfähiger regionaler Verteilungssysteme für Medikamente und Medizinprodukte zu unterstützen.