Verena Schäffer: „Es bereitet mir wirklich große Sorge, dass die notwendigen Voraussetzungen für ein verantwortungsvolles Öffnen fehlen“

Zur Unterrichtung der Landesregierung zum Treffen der Ministerpräsident*innen mit der Bundeskanzlerin am 3. März 2021

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In den letzten Tagen konnten wir ja einen wahren Überbietungswettbewerb der Forderungen nach Öffnungen beobachten, insbesondere durch die FDP. Damit beobachten wir auch eine Kehrtwende in der bisherigen Coronapolitik. War Ministerpräsident Laschet Anfang dieses Jahres, also vor ungefähr drei Wochen, noch der Mahner vor zu schnellen Lockerungen, um eine dritte Welle zu verhindern, so präsentiert er sich jetzt wieder einmal als Lockerer.

Ich glaube, dass dieses Hin und Her und diese Uneinigkeit in dieser Landesregierung nicht gut sind. Ich glaube, dass es die Menschen mürbe macht. Und das brauchen wir sicher nicht für die Pandemiebekämpfung.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich frage mich – und eigentlich frage ich diese Landesregierung –: Was hat sich seit der letzten MPK vom 10. Februar dieses Jahres eigentlich verändert, dass wir jetzt angeblich alles öffnen können?

Halten wir doch einmal fest:

Erstens. Die Inzidenzwerte sind nicht heruntergegangen. Im Gegenteil! Sie stagnieren, und durch die Mutationen drohen sie auch weiter anzusteigen.

Zweitens. Es gibt keine Teststrategie. Es gibt ja noch nicht einmal ausreichend Schnelltests.

Drittens. Das Impfen geht zu langsam voran, und das Erreichen einer Herdenimmunität liegt in weiter Ferne.

Wie man da auf breite Öffnung setzen kann, ist mir völlig unbegreiflich.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

Ich möchte am Anfang noch einmal ganz deutlich klarstellen, dass ich Angebote im Freien, insbesondere für Kinder und Jugendliche, also im Bereich des Sports und mit der Öffnung der Zoos, sinnvoll finde. Denn im Außenbereich sind die Infektionsrisiken deutlich geringer als in geschlossenen Räumen. Das wissen wir.

Aber im Innenbereich – und darum geht es in dieser Debatte ja im Kern – müssen für Öffnungen doch zuerst die Voraussetzungen geschaffen werden. Doch die Voraussetzungen für Öffnungen wurden durch diesen MPK-Beschluss nicht geschaffen. Meines Erachtens grenzt das wirklich an Arbeitsverweigerung dieser Bund-Länder-Runde.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich verstehe absolut, dass Geschäftsleute ihre Läden wieder öffnen wollen. Da geht es ganz klar um Existenzen. Deshalb müssen die Wirtschaftshilfen auch endlich bei den Leuten ankommen.

Ich verstehe auch, dass die Schutzmaßnahmen anstrengend sind, dass sie nerven, dass sie kräftezehrend sind. Mir geht es ja genauso. Ich glaube, es geht uns allen so.

Ja, es stimmt; die Akzeptanz der Maßnahmen sinkt bundesweit. Aber das ist doch in allererster Linie Ausdruck einer Kritik am derzeitigen Krisenmanagement und auch an der teils inkohärenten Krisenkommunikation, an deren Chaos diese Landesregierung einen sehr großen Anteil hat. Wer in einer Krisensituation seine Meinungsverschiedenheiten in der Koalition auf offener Bühne austrägt, wie wir das immer wieder erlebt haben, trägt aus meiner Sicht auch eine Mitschuld daran, wenn Vertrauen in das Krisenmanagement des Staates verloren geht.

(Beifall von den GRÜNEN und Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD])

Aus meiner Sicht hat die Bund-Länder-Runde gestern den großen Fehler gemacht, dass sie mit diesem Beschluss den zweiten Schritt vor dem ersten macht. Sie öffnet, ohne dass Voraussetzungen vorhanden wären.

Wir wissen alle, dass das Öffnen von Geschäften und vielen anderen Orten zwangsläufig bedeutet, dass es zu mehr Kontakten kommt und damit auch das Infektionsrisiko steigt.

Es bereitet mir wirklich große Sorge, dass die notwendigen Voraussetzungen für ein verantwortungsvolles Öffnen, wie zum Beispiel eine konkrete Teststrategie, fehlen.

Was auch immer noch fehlt, ist die Erweiterung der Parameter. Herr Laschet, wir schauen immer noch rein auf die Inzidenzwerte. Aber wo ist denn zum Beispiel der R-Wert? Wo ist die Mortalitätsrate? Wo ist der Hospitalisierungsgrad? Das alles ist nicht berücksichtigt,

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Christof Rasche [FDP])

obwohl uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Monaten sagen, dass das mit aufgenommen werden muss. Es ist aber nicht drin. Das RKI hat vor ein oder zwei Wochen einen sehr guten Plan vorgelegt. Da ist das berücksichtigt. Aber es findet sich hier nicht wieder.

(Zuruf von Christof Rasche [FDP])

– Ja, Herr Rasche, ich weiß; wir reden hier gerade über einen Beschluss auf Bund-Länder-Ebene. Aber der Ministerpräsident ist auch noch CDU-Bundesvorsitzender. Man kann doch erwarten, dass solche Faktoren mit in die Bund-Länder-Beratungen eingebracht und auch durchgesetzt werden. Das ist nicht geschehen. Und das kritisiere ich hier ganz klar und deutlich.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es war auch Herr Laschet, der vor zwei Wochen noch gesagt hat, man könne nicht immer neue Grenzwerte erfinden. Dann frage ich mich doch, warum Sie jetzt in diesem Bund-Länder-Beschluss den Wert von 100 eingeführt haben. Warum gibt es jetzt wieder einen neuen Wert? Das widerspricht doch vollkommen dem, was Sie noch vor zwei Wochen öffentlich gesagt haben.

Das Chaos ist aus meiner Sicht komplett. Keiner weiß mehr, was eigentlich gerade gilt. Ich finde das wirklich fatal. Das ist schlechte Krisenkommunikation, die Sie betreiben, und das kreide ich auch Ihnen an.

(Beifall von den GRÜNEN)

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Das Prinzip verantwortungsvoller Krisenpolitik muss doch sein, dass erst die Voraussetzungen für flächendeckende Schnelltests, für eine bessere Kontaktnachverfolgung, für mehr Tempo beim Impfen geschaffen werden und dann kann oder muss man über Lockerungen sprechen.

Ich will an eines erinnern: Es geht doch immer noch darum, schwere Erkrankungen zu vermeiden und Menschenleben zu schützen. Das hat sich seit der letzten MPK nicht geändert.

Zur Teststrategie: Gestern ist während der laufenden MPK bekannt geworden, dass noch nicht einmal ausreichend Schnelltests für die komplette Umsetzung einer Strategie zur Verfügung stehen. Das hat im Übrigen auch der Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, Herr Laumann, hier gestern im Plenum gesagt: Es stehen nicht genügend Tests zur Verfügung. – Der Bund hätte längst für Abnahmegarantien sorgen müssen, damit mehr Schnell- und Selbsttests produziert werden.

Es fehlt auch die Verpflichtung für Arbeitgeber, dafür zu sorgen, dass sie ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kostenlose Schnelltests anbieten. Das Papier ist ja offenbar an dieser Stelle – für mich völlig unverständlich – sogar noch entschärft worden.

Auch die Dokumentation von Tests ist noch ungeklärt. Herr Löttgen, wo bleibt denn der digitale Nachweis? Was genau muss ich denn der Kosmetikerin oder dem Trainer unter die Nase halten, wenn ich in den Laden oder in die Turnhalle möchte? – Das ist ungeklärt. Das ist unklar. Es gibt diesen Nachweis noch nicht.

Im Übrigen – das ist mir heute Morgen noch einmal klar geworden – gibt es auch keine Angabe, ab welchem Alter ich testen muss. Also, muss, wenn ich demnächst mit meinen Kindern Schuhe kaufen will, der Zweijährige getestet werden oder erst die Fünfjährige? – Das ist nicht geklärt. Aber solche Fragen müssen doch im Rahmen einer Teststrategie geklärt werden. Hier sind viele Fragen offen.

(Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])

Deshalb meine ich: erst die Teststrategie, dann öffnen. Das wäre die richtige Schrittigkeit, und dies ist hier völlig anders gemacht worden. Wenn die Bundeskanzlerin sagt, wir bräuchten noch den Monat März, um eine umfassende Teststrategie aufzubauen – wir haben jetzt Anfang März; sie braucht noch den ganzen Monat –, dann ist das aus meiner Sicht wirklich ein Armutszeugnis dieser Bundesregierung.

(Herbert Reul, Minister des Innern: Nein!)

– Doch, das ist es!

Ich finde, eine Bund-Länder-Runde kann nicht sagen: Teststrategie steht nicht, haben wir alles nicht, ist alles noch ungeklärt, aber ab Montag wird geöffnet. – Ich finde das fatal.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Es geht ja durchaus anders. Das Land Baden-Württemberg zeigt, dass es anders geht.

(Lachen von Bodo Löttgen [CDU])

Baden-Württemberg hat eine Teststrategie gemacht. Baden-Württemberg hat ein Testzentrum errichtet,

(Christof Rasche [FDP]: Herr Palmer?)

in dem Personen, die bislang noch keinen Testanspruch hatten, getestet werden können:

(Bodo Löttgen [CDU]: Herr Palmer? Ist er noch Mitglied in Ihrer Partei?)

Zum Beispiel können sich Personen mit einem höheren Infektionsrisiko aufgrund ihres beruflichen Umfelds, Beschäftigte in der Jugendhilfe, pflegende Angehörige, die Kontakt zu vulnerablen Personengruppen haben, testen lassen. Es ist übrigens auch Baden-Württemberg, wo jeder positive Test sequenziert wird. Nordrhein-Westfalen hat das immer noch nicht geschafft.

Deshalb lautet meine klare Forderung an das Land, an Herrn Laschet, an Herrn Laumann, endlich eine Teststrategie – wenn der Bund das nicht schafft, dann wenigstens für Nordrhein-Westfalen – und auch die Sequenzierung auf den Weg zu bringen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich möchte noch auf einen zweiten Punkt hinweisen, der aus meiner Sicht auch eine wichtige Voraussetzung für mehr Normalität ist. Das ist das Thema „Impfen“. Wenn ab Ende April deutlich mehr Impfstoff kommen wird, sofern die Lieferanten ihre Zusagen einhalten, dann wird Deutschland im zweiten Quartal, also zwischen April und Juni, über 70 Millionen Dosen Impfstoff bekommen. Das heißt für Nordrhein-Westfalen, dass wir von ungefähr 15 Millionen Impfdosen ausgehen können. Das bedeutet, dass wir schon heute einen massiven Ausbau der bestehenden Impfkapazitäten planen müssen. Wir müssen die Hausärzte, die Betriebsärzte einbinden.

Es gibt einen neuen Erlass vom Gesundheitsminister vom 1. März, in dem der Ausbau der Impfkapazitäten zwar angeordnet ist, aber wenn man einmal durchrechnet, was dort angeordnet wurde, wie die Impfkapazitäten in Nordrhein-Westfalen aufgebaut werden sollen, dann wird sehr schnell klar, dass das nicht ausreicht, wenn wir ab April mehr Impfdosen zur Verfügung haben. Deshalb müssen wir jetzt dafür sorgen, dass die Kapazitäten ausgebaut werden.

Wenn man die Versäumnisse beim Thema „Testen“ sieht, dann habe ich wirklich große Sorgen, ob die Vorkehrungen, die jetzt getroffen werden, ausreichen, dass dann wirklich in einigen Monaten jeder impfwillige Arm auch tatsächlich geimpft wird. Ich erwarte von der Landesregierung, dass sie jetzt Vorsorge betreibt, damit dann die Impfkapazitäten auch zur Verfügung stehen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Mit Blick auf den MPK-Beschluss von gestern möchte ich noch einmal das Thema „Öffnungsschritte“ ansprechen. Der Beschluss der MPK zeigt einzig und allein Öffnungsschritte auf. Das ist aus meiner Sicht kein Fahrplan, Herr Löttgen, es ist auch kein Stufenplan. Das finde ich sehr bedauerlich.

Ein Stufenplan, der einen Rahmen vorgibt, was wann möglich ist und was bei steigenden Infektionen auch wieder eingeschränkt werden muss, fehlt nach wie vor.

(Bodo Löttgen [CDU]: Bitte?)

Ich gebe zu, es gibt diese Coronanotbremse, aber aus meiner Sicht ist diese Notbremse nicht mehr als ein institutionalisiertes Im-Nebel-Stochern.

(Lachen von Bodo Löttgen [CDU] und Christof Rasche [FDP])

Das ersetzt aus meiner Sicht keinen Stufenplan. Dabei hat sogar das RKI vor zwei Wochen einen sehr differenzierten Plan veröffentlicht, der Grundlage für so einen Stufenplan hätte werden können.

(Bodo Löttgen [CDU]: Das ist die Umsetzung des RKI-Plans! Das haben Sie nur nicht verstanden!)

Ich finde es schade, dass sich diese Landesregierung – offenbar vor allen Dingen die CDU-Fraktion – so vehement gegen einen Stufenplan gestellt hat. Von einem Ministerpräsidenten und CDU-Parteivorsitzenden hätte ich eigentlich mehr erwartet, nämlich dass Sie eigene Pläne auf den Tisch legen. Nichts dergleichen ist erfolgt.

Ich will hier noch einmal ganz deutlich sagen: Wir als Grüne haben bislang immer alle MPK-Beschlüsse mitgetragen und sehr stark dafür geworben. Wir haben das aus guten Gründen gemacht, nämlich weil wir davon überzeugt waren, dass wir diese Maßnahmen brauchen, um in der Pandemiebekämpfung voranzukommen, um Menschen zu schützen, um das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten. Das haben wir immer gemacht.

Aber dieser Beschluss ist aus unserer Sicht ein großer Fehler. Ich hoffe wirklich, dass unsere Befürchtungen nicht wahr werden, dass wir nicht auf deutlich steigende Infektionszahlen hinauslaufen, dass wir nicht mehr schwere Krankheitsverläufe erleben werden, weil die Voraussetzungen nicht stimmen, weil die Teststrategie nicht vorliegt.

Deshalb fordere ich Sie, Herr Laschet, auf, dass Sie jetzt zumindest dafür sorgen, dass dieser Rahmen aus Testen, Impfen und Kontaktnachvollziehen schnellstmöglich geschaffen wird, denn in dieser Pandemie muss es darum gehen – dabei bleiben wir, und da haben wir, glaube ich, nach wie vor einen Konsens –, dass jedes Menschenleben geschützt wird. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

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