Matthi Bolte-Richter: „Wir, die Menschen im Nordrhein-Westfalen des Jahres 2021, haben das große Glück, in einer freien und demokratischen Gesellschaft zu leben“

Antrag der "AfD"-Fraktion zur Gründung des Deutschen Reichs vor 150 Jahren

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Die AfD hat heute einen Antrag vorgelegt, demzufolge wir der Gründung des Deutschen Kaiserreiches vor 150 Jahren gedenken sollen, und zwar – Zitat – „voller Anerkennung … für eine demokratisch-liberale Entwicklung“.

Ohne Frage stellt die Reichsgründung eine Zäsur in der deutschen Geschichte und auch in der staatlichen Entwicklung Deutschlands dar, weil mit ihr eben die Einigung von vormals verstreuten deutschen Teilstaaten einherging.

Aber wenn man auf diese Reichsgründung zurückdenkt, dann sollte man sich doch anschauen: War es eine Einigung im Zeichen von Demokratie, von Freiheit, von Gleichheit, von demokratischen Rechten?

Da sehen wir – und das haben wir jetzt schon an vielen Stellen der Debatte gehört –, dass das wohl kaum der Fall war. Demokratie bedeutete im Kaiserreich ein in seinen Rechten massiv beschränktes Parlament, dessen Mitglieder kaum in der Lage waren, die Regierung effektiv zu kontrollieren.

Die Regierung war nicht gegenüber dem Parlament und damit den Bürgerinnen und Bürgern verantwortlich, sondern gegenüber dem Kaiser. Der hatte wiederum eine außerordentliche Machtfülle über die Außenpolitik. Er konnte das Heer kommandieren, er konnte den Reichstag wie den Bundesrat einberufen oder vertagen. Auch das Budgetrecht, das ja häufig als ein Argument für den demokratischen Stand des Reichstags angeführt wird, war faktisch doch sehr eingeschränkt.

Das Kaiserreich war, wie es der Historiker Eckart Conze kürzlich in der „Die ZEIT“ schrieb – Zitat –, „autoritärer, als seine Lobredner glauben machen“.

Schon alleine deshalb ist es absurd, dass wir als Landtag, dass wir als ein volldemokratisches Parlament heute einen derartigen Revisionismus beschließen sollen, wie die AfD ihn heute vorlegt.

Natürlich bedeutete die Demokratie des Kaiserreiches auch den Ausschluss weiter Teile der Bevölkerung von der politischen Mitwirkung, nicht allein, weil nur Männer mitbestimmen durften. Als der Kaiser 1871 den ersten Reichstag in Berlin eröffnete, war es selbstverständlich, dass das Parlament zu ihm, zum Kaiser, kommt und nicht etwa umgekehrt.

Diese Ordnung kommt nicht zuletzt in der tiefen Abneigung zum Ausdruck, mit der Wilhelm II. später den Reichstag als – Zitat – „Reichsaffenhaus“ schmähte. Das kann doch nicht die Kontinuität sein, in die wir uns als demokratisches Parlament einreihen dürfen.

(Beifall von den GRÜNEN und Angela Freimuth [FDP])

Es ist mit der Reichsgründung also wenig von den demokratischen Ideen des Vormärz und der gescheiterten Revolution von 1848 übrig geblieben. Schwarz-Rot-Gold war für den Kaiser – Zitat – „dem Straßenschmutz entstiegen“. Er bestand auf Schwarz-Weiß-Rot – die Fahne derer, die heute die demokratischen Institutionen mit Gewalt erstürmen wollen.

Demokratie lebt nicht allein von Repräsentation in Parlamenten, sondern auch von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit. Die Bekämpfung des Katholizismus und die Sozialistengesetze sind deutliche Beispiele dafür, dass es im Kaiserreich damit nicht weit her war.

Auch der von Ihnen gepriesene wirtschaftliche Aufschwung war mit massiver Aufrüstung, mit einer dramatischen Ausbeutung der Kolonien, in denen vor Völkermord nicht haltgemacht wurde, und schlimmsten sozialen Verwerfungen verbunden. All das wird in dem Antrag ausgelassen, verworfen oder weichgezeichnet wird.

Insbesondere in diesen Tagen, einen Tag nach dem Gedenktag, ist das, was Sie in diesem Antrag schreiben, nämlich dass es Jüdinnen und Juden im Kaiserreich vermeintlich so gut hatten, doch zutiefst bitter und zynisch.

In dieser Zeit formierte sich in Deutschland der politische Antisemitismus. Antisemitische Geheimgesellschaften gründeten sich und sammelten öffentliche Unterstützer. Juden waren, wie eben schon angesprochen, von wichtigen beruflichen Stellungen ausgeschlossen. Es gab für Juden so gut wie keinen Zugang in das Richteramt sowie keine Möglichkeit, in militärische Offizierslaufbahnen zu gelangen, was in einer militarisierten Gesellschaft natürlich ganz zentral ist. Diese Auslassungen und Weichzeichnungen, die Sie von der AfD da vornehmen, sind bitter und zynisch.

(Beifall von den GRÜNEN, Angela Freimuth [FDP] und Daniela Beihl [FDP])

Wir, die Menschen im Nordrhein-Westfalen des Jahres 2021, haben das große Glück, in einer freien und demokratischen Gesellschaft zu leben, in einer Gesellschaft, in der sich staatliches Handeln aus der Würde des Menschen und seiner Freiheit und nicht aus dem Willen des Kaisers ableitet.

Wir können froh sein, dass die Werte, die einst unter dem schwarz-rot-goldenen Banner getragen wurden, dass Einigkeit und Recht und Freiheit heute verwirklicht sind.

Wir können dankbar dafür sein, dass der Gründungsanspruch der Bundesrepublik darauf basiert, dass es eben nicht mehr um Erbfeindschaft geht, sondern darum, den Willen zu haben, einem vereinten und versöhnten Europa in Frieden zu dienen.

Wenn wir auf die letzten 150 Jahre zurückblicken, dann tun wir das bitte mit dem Ziel, dass diese Werte erhalten bleiben und dass jeder, der versucht, sie zurückzudrängen, entschieden bekämpft wird. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von den GRÜNEN, Angela Freimuth [FDP] und Daniela Beihl [FDP])