Positionspapier: Mehr Transparenz und Beteiligung bei Corona-Schutzmaßnahmen

Die Corona-Pandemie stellt unsere Gesellschaft vor große soziale, wirtschaftliche und finanzielle
Herausforderungen. Als im März diesen Jahres sehr schnell Schutzmaßnahmen getroffen werden
mussten, weil sich das Corona-Virus ausbreitete und die Gefahr bestand, dass die medizinischen
Kapazitäten an ihre Grenzen stoßen könnten, zugleich viele wissenschaftliche Erkenntnisse und
medizinische Behandlungsmöglichkeiten aber noch fehlten, musste die Landesregierung durch
Verordnungen schnell reagieren können. Wir haben uns als Grüne Landtagsfraktion von Beginn an
konstruktiv und kritisch in die Debatte eingebracht. Der Landtag NRW hat in kürzester Zeit den sehr
umstrittenen Entwurf des Pandemiegesetzes der Landesregierung debattiert und in einer großen
Anhörung mit vielen Expert*innen erörtert. Die breite Beratung im Parlament hat zu einem
gemeinsamen Änderungsantrag von CDU, SPD, FDP und Grünen geführt, mit dem der Gesetzentwurf
der Landesregierung deutlich verbessert und dann auch mit den Stimmen der vier genannten
Fraktionen verabschiedet wurde.
Mehr als ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie ist es höchste Zeit, die Debatte über konkrete
Schutzmaßnahmen wieder in das Parlament zu holen. Krisenzeiten sind Zeiten des Zusammenhalts
und der politischen Zusammenarbeit. Zur wirksamen Bekämpfung der Pandemie waren und sind
umfassende und schnelle Maßnahmen notwendig. Doch in einer Demokratie ist vor allem das
Parlament Ort der Diskussion und Entscheidung über politische Maßnahmen. Insbesondere
Maßnahmen die in Grundrechte eingreifen und zum Teil erhebliche Auswirkungen auf das tägliche
Leben haben sowie Maßnahmen, die längerfristig gelten sollen, müssen durch das Parlament
diskutiert und entschieden werden. Das Parlament ist das Verfassungsorgan mit der
Gesetzgebungskompetenz und dem Auftrag zur Kontrolle der Landesregierung. Nur durch eine
sorgsame Abwägung, die in öffentlichen Sitzungen erfolgt, kann das Vertrauen und die Akzeptanz der
Bürger*innen in staatliches Handeln dauerhaft gesichert werden.
Die Corona-Pandemie hat massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der öffentlichen
Infrastruktur notwendig gemacht. Die tiefen Einschnitte in das öffentliche, wirtschaftliche und soziale
Leben haben zum Teil gravierende Folgen für die unterschiedlichsten Bereiche unserer Gesellschaft.
Aus diesem Grund müssen die getroffenen Maßnahmen und ihre Auswirkungen sowie die
gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse der letzten Monate gleichermaßen parlamentarisch
diskutiert und ausgewertet werden.
Als Grüne Landtagsfraktion haben wir daher folgende Forderungen, um Kontrolle,
Grundrechtsabwägungen und öffentliche Debatte durch das Parlament zu stärken:
1.) Corona-Schutzmaßnahmen gesetzlich regeln
Derzeit erlässt die Landesregierung auf Grundlage der Generalklausel im Infektionsschutzgesetz des
Bundes die Rechtsverordnung „Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus
SARS-CoV-2“. Darin sind u.a. die Abstandsregeln und maximale Personenanzahl im öffentlichen Raum
sowie das Verbot des Betriebs von Clubs und Diskotheken enthalten.
Der Erlass von solch umfassenden Maßnahmen, welche tiefe Eingriffe in Grundrechte vorsehen, ist
jedoch nur kurzzeitig über eine Generalklausel möglich. Je mehr Erfahrungen es im Umgang mit einer
Situation gibt, je mehr eine Maßnahme zum „Standard“ wird, desto klarer müssen die rechtlichen
Vorgaben für die Anwendung der Maßnahme werden. Diese verfassungsrechtliche Vorgabe kann
eine Generalklausel nicht erfüllen. Es braucht daher für die verschiedenen Maßnahmen eigene
Ermächtigungsgrundlagen. Das Parlament muss über die Grundrechtseingriffe entscheiden und
Regierungshandeln kontrollieren.
Die zahlreichen Urteile verschiedener Gerichte in den letzten Wochen, z.B. zum
Beherbergungsverbot oder zur Sperrstunde, wurden zum Teil auch damit begründet, dass die
Begründungen der jeweiligen Rechtsverordnungen nicht ausreichend die Grundrechtsabwägung
zwischen Gesundheitsschutz und anderen Grundrechten, wie etwa die Berufsfreiheit, vorgenommen
haben.
Die Schaffung von konkreten Ermächtigungsgrundlagen in einem Gesetz für einzelne Maßnahmen
würden nicht nur die Rechtssicherheit stärken. Durch die öffentliche Debatte im Parlament und die
Abwägung der Maßnahmen im Hinblick auf die Grundrechtseingriffe würde auch die Akzeptanz der
Maßnahmen in der Bevölkerung gesteigert werden.
2.) Einrichtung einer parlamentarischen Pandemiekommission
Der Landtag richtet einen parlamentarischen Pandemiekommission als Sonderausschuss des
Landtags ein. Die Pandemiekommission soll die Debatten im Landtag NRW zu den verschiedenen
Aspekten zur Bekämpfung der Corona-Pandemie bündeln, interdisziplinär führen und zur
Auswertung der öffentlichen Krisenbewältigung beitragen. Die Pandemiekommission befasst sich mit
den Auswirkungen der Pandemie auf alle gesellschaftlichen Bereiche und legt
Handlungsempfehlungen zum Umgang mit den sozialen und wirtschaftliche Folgen der Pandemie
vor. Damit wird der parlamentarischen Diskurs deutlich gestärkt und Entscheidungen des
Landtagsplenums vorbereitet. Durch die Beteiligung und Anhörung von Wissenschaftler*innen ist
zudem gewährleistet, dass politische Entscheidungen wissenschaftlich fundiert getroffen werden
können. Zudem soll die Landesregierung an den Sitzungen der Pandemiekommission teilnehmen, um
einerseits den Austausch mit der Landesregierung und zum anderen deren parlamentarische
Kontrolle zu gewährleisten.
Die Pandemiekommission besteht aus Abgeordneten sowie Sachverständigen, wie zum Beispiel
Verfassungsjurist*innen oder Gesundheitsexpert*innen, aber auch Vertreter*innen der
Zivilgesellschaft. Die Sitzungen des Pandemierats sollen in einem engen zeitlichen Turnus stattfinden,
um Diskurse über Schutzmaßnahmen bzw. deren Auswirkungen sehr aktuell diskutieren und
bewerten zu können. Zu den einzelnen Themen, wie etwa der Schutz in Pflege- und
Senioreneinrichtungen oder der Schutz von Schüler*innen und Lehrkräften, können die jeweiligen
fachpolitischen Sprecher*innen sowie weitere themenspezifische Expertinnen und Experten geladen
werden.
Nach §48 der Geschäftsordnung des Landtags kann der Landtag die Einrichtung eines
Sonderausschusses beschließen.
3.) Transparenz und Beteiligung auch in der Krise: Einrichtung eines Corona-Bürgerrates
Der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung befürwortet die notwendigen Maßnahmen zum Schutz
vor der Corona-Pandemie. Wir sind uns bewusst, dass diese Maßnahmen der Bevölkerung viel
abverlangen und die Einigkeit auf die Probe stellen. Gerade in einer Krisenzeit wollen wir die
Bürger*innen stärker beteiligen und mehr Transparenz schaffen. Denn ein hohes Akzeptanzniveau
erhalten wir nur mit einer Politik des Gehörtwerdens.
Wenn die Pandemie eine Anpassung der Schutzmaßnahmen erfordert, wollen wir die notwendigen
Schritte durch unterschiedliche Beteiligungsformate wie Online-Konsultationen, lokale Bürgerforen
(auch mit Wissenschaftler*innen) und Nachbarschaftsgespräche flankieren. Diese
Beteiligungsverfahren müssen durch die Landesregierung, z.B. durch eine*n Landesbeauftragte*n für
Demokratie und Beteiligung wie in Baden-Württemberg, koordiniert und unterstützt werden.
Die Landesregierung hat erkennbar keinen Plan, der über den Tag hinausreicht. Auch wenn wir heute
nicht vorhersagen können, wie lange die pandemische Lage noch dauern wird, wollen wir gemeinsam
mit der Bevölkerung eine Vision für das NRW nach Corona entwickeln. Dafür schlagen wir die
Gründung eines Corona-Bürgerrates vor. Wir wollen die Erfahrungen und die Lebenswelt der
Bürger*innen in die Corona-Politik des Landes einbeziehen. Bei einem Bürgerrat erhalten ausgeloste,
für die Bevölkerung repräsentative Bürger*innen die Möglichkeit, Pläne und Maßnahmen zu
diskutieren und abzuwägen. Am Ende steht ein für weite Teile der Bevölkerung tragfähiges Ergebnis,
das dann durch die Politik umgesetzt werden kann.
Gerade im Kampf gegen Verschwörungsmythen ist Transparenz entscheidend. Solange es kein
allgemeines Informationszugangsgesetz gibt, fordern wir die Landesregierung auf, ein Corona-
Transparenzgesetz vorzulegen. Dieses soll die Behörden verpflichten, alle Daten, Informationen,
Modelle und Studien, die als Grundlage für die Corona-Politik des Landes dienen, zu veröffentlichen.
Ebenso muss die Landesregierung Transparenz darüber schaffen, von welchen Expert*innen sie
beraten wird, um etwaige Interessenkonflikte frühzeitig zu vermeiden.
4.) Unterrichtung durch die Landesregierung
Die Landesregierung muss den Landtag umfassend über geplante Maßnahmen sowie unmittelbar
nach den Konferenzen der Ministerpräsident*innen der Länder mit der Bundeskanzlerin
unterrichten. In der Vergangenheit hat es mehrfach solche Konferenzen zeitgleich zum Plenum des
nordrhein-westfälischen Landtags gegeben, ohne dass Ministerpräsident Laschet der Unterrichtung
des Parlaments nachgekommen wäre. Die Übersendung von Rechtsverordnungen an die
Abgeordneten reicht nicht aus. Der Diskurs über Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie
darf nicht hinter verschlossenen Türen durch 16 Ministerpräsident*innen und der Kanzlerin geführt
werden, sondern gehört in die Häuser der Demokratie – den Deutschen Bundestag und die 16
Landesparlamente. Wir brauchen mehr Transparenz, um die Akzeptanz für die Schutzmaßnahmen
weiter zu erhalten.
5.) Evaluation und Lehren aus der Pandemie
Das im März beschlossene Pandemiegesetz sieht eine Evaluierung des Gesetzes bis Ende des Jahres
2020 vor, das Gesetz selbst läuft im März 2021 aus. Zu dem Bericht der Landesregierung zur
Evaluation des Gesetzes werden wir eine Anhörung beantragen. Es reicht nicht, den Bericht der
Landesregierung „nur entgegenzunehmen“. Wir Grüne wollen die Evaluierung im Parlament mit
externem Sachverstand beraten und Lehren daraus ziehen.

 

Positionspapier_Parlamentarische_Beteiligung_27.10.2020_Beschluss