I. Ausgangslage
Die Digitalisierung ist ein Treiber der Globalisierung und prägt die Arbeitswelt bereits heute. Digitale Kommunikationsmittel erlauben es uns, rund um die Uhr und rund um den Globus zu kommunizieren. Roboter und Künstliche Intelligenz (KI) übernehmen immer mehr Aufgaben, die bisher Menschen vorbehalten waren. Für die NRW-Koalition von CDU und FDP ist es eine permanente Aufgabe, diesen Prozess zu begleiten sowie abzuwägen, wo Handlungs- und Regelungsbedarf besteht.
Neue Möglichkeiten ergeben sich daraus, dass viele Arbeitsstellen nicht mehr an einen festen Ort und feste Arbeitszeiten gebunden sind. Gleichwohl gilt dies nur sehr eingeschränkt für das Handwerk, das Gesundheitswesen oder den Einzelhandel. Die geltenden Arbeitszeitregelungen bilden diese Bandbreite unterschiedlicher Tätigkeiten nicht mehr ab. Ihnen liegt noch die Vorstellung von ausschließlich orts- und zeitgebundener Tätigkeitsausübung zugrunde. Dieser starre Blickwinkel wird den Anforderungen der zukunftsorientierten Arbeit nicht mehr gerecht.
Der digitale Wandel ermöglicht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein stärker selbstbestimmtes und lebensphasenorientiertes Arbeiten sowie die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Das Internet und mobile Endgeräte machen es möglich, Arbeitszeit und -ort flexibel zu gestalten. Dadurch verändert sich das Gleichgewicht zwischen beruflichen, privaten und familiären Anforderungen. Eine ausgeprägt familienfreundliche Unternehmenskultur steht für Teilzeitmodelle, individuell vereinbarte Arbeitszeiten, flexible Tages- oder Wochenarbeitszeiten, Vertrau-ensarbeitszeitmodelle, mobiles Arbeiten und Telearbeit.
Flexible Arbeitsformen erlauben es vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ihre Tätigkeiten unabhängig vom Arbeitsort wahrzunehmen und mit privaten Verpflichtungen zu kombinieren. Das führt zu mehr Selbstbestimmung bei der Arbeit und einer besseren Work-Life-Balance. Für viele sehr zeitaufwendige Anfahrtswege fallen weg, das steigert ihre Zufriedenheit, ihre Produktivität und verringert das Verkehrsaufkommen gerade zu Stoßzeiten. Laut einer im August 2020 veröffentlichten Studie des IZT-Institut für Zukunftsstudien im Auftrag von Greenpeace können in Deutschland pro Jahr etwa 5,4 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden, wenn in einem „fortschrittlichen Szenario“ 40 Prozent der Arbeitnehmer an zwei Tagen in
der Woche von zu Hause aus arbeiten würden. Dies entspreche 18 Prozent aller durch Pendeln entstehenden Emissionen des Treibhausgases. Zugleich fielen im Jahr gut 35 Milliarden bislang meist mit dem PKW zurückgelegte Personenkilometer weg, was die Straßen entlasten würde (https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications/2020-08-19_gpd_home-officestudie_deutsch.pdf). Es ergeben sich somit sowohl Vorteile für mobil, als auch für nicht mobil Beschäftigte.
Die Corona-Pandemie ist ein Katalysator dieser Entwicklung. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber waren zu neuen Kommunikationsformen gezwungen. Um Ansteckungen zu verhindern, wurde ortsunabhängiges Arbeiten empfohlen.
Sowohl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bewiesen vorher ungeahntes Anpassungspotential. In kürzester Zeit wurden Prozesse umgestellt. Nach ersten Erkenntnissen wurden die Herausforderungen in vielen Bereichen sehr gut gelöst (Quelle: Repräsentative Kurzbefragung des Bayerischen Forschungsinstituts für Digitale Transformation/Bidt, März 2020). Es kam es zu einer umfangreichen Ausweitung mobilen Arbeitens und der damit verbundenen Nutzung digitaler Instrumente. Bestehende Anwesenheitsvorschriften wurden gelockert. Vor allem (interne) Präsenztermine wurden bzw. werden seit einigen Monaten vermehrt online abgehalten.
Die tägliche Höchstarbeitszeit von acht, in Ausnahmefällen zehn Stunden, kann im Zeitalter von Homeoffice und der ständigen Erreichbarkeit mit dem Smartphone von den Beschäftigten einge- und auf den Tag verteilt werden. Dafür bedarf es jedoch einer Prüfung des Arbeitszeitgesetzes. Aktuell sind die Arbeitszeitregelungen statisch und nicht kompatibel mit den Anforderungen der digitalen Arbeitswelt. Die EU-Arbeitszeitrichtlinie mit einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden ist daher in einer modernen, digitalen Arbeitswelt geeigneter. Dieser Spielraum wird gegenwärtig jedoch zu wenig genutzt.
Gemeinsam mit den Sozialpartnern empfiehlt es sich daher, im Rahmen von Experimentierräumen arbeitszeitpolitische Neuerungen zu erproben. Der Koalitionsvertrag sieht auf Bundesebene eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz vor, Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen zu schaffen. Diese Öffnung würde es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ermöglichen, ihre Arbeitszeit selbst zu bestimmen und wäre ein wichtiger Schritt in Richtung betrieblicher Flexibilität in einer sich stetig wandelnden Arbeitswelt. Ein entsprechender Gesetzesentwurf des zuständigen Bundesarbeitsministers steht jedoch weiterhin aus.
In den vergangenen zwei Jahren haben sich die Mitglieder der Enquetekommission „Digitale Transformation der Arbeitswelt in Nordrhein-Westfalen“ umfassend mit den Implikationen für die Arbeitswelt und Gesellschaft sowie dem Handlungsbedarf für die Politik beschäftigt. Es bestand fraktionsübergreifender Konsens, dass das Arbeitszeitgesetz in seiner bestehenden Form die Lebensrealität der Arbeitswelt nicht hinreichend erfasst. Im unlängst veröffentlichten Abschlussbericht empfehlen deshalb alle Fraktionen, im Rahmen von Experimentierräumen zusätzliche Öffnungsklauseln sowie eine Umstellung von der täglichen Höchstarbeitszeit auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit zu erproben.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:
· Das für die digitale Arbeitswelt benötigte Potential für orts- und zeitunabhängiges Arbeiten ist vorhanden.
· Stark digitalisierte Unternehmen sind bereits gut vorbereitet und können als Leitbild fungieren.
· Arbeitgeber und Arbeitnehmer können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Wandel der Arbeitswelt aktiv mitzugestalten.
· Dabei ist die Balance zwischen der erforderlichen und möglichen Flexibilität und Sicherheit bzw. Gesundheitsschutz für die Beschäftigten zu finden.
· Es besteht Bedarf, die gesetzlichen Regelungen an den gesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Wandel anzupassen.
· Lern- und Experimentierräume bieten dabei die Möglichkeit, sich ergebnisoffen und ohne Zwang an Themen heranzuwagen. Auch ein Scheitern von Ideen ist auf dem Weg in Richtung zukunftsgerechte Arbeitswelt erlaubt.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
· sich auf Bundesebene für die Schaffung von Lern- und Experimentierräumen in Bezug auf eine zusätzliche Öffnungsklausel für mehr selbstbestimmte Arbeitszeit sowie eine mögliche Umstellung von der täglichen Höchstarbeitszeit auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit einzusetzen. Um den arbeitspolitischen Neuerungen gerecht zu werden, soll dies zunächst gemeinsam mit den Sozialpartnern im Rahmen von Experimentierräumen geprüft werden.
· die Sozialpartner beratend zu unterstützen, ein umsetzungsfähiges Konzept für Lern- und Experimentierräume in Nordrhein-Westfalen zu entwickeln, in denen Unternehmensleitung und Beschäftigte gemeinsam in einem kreativen Prozess Lösungen für die Arbeitswelt 4.0 entwickeln können.
· die Ergebnisse der eingerichteten Lern- und Experimentierräume durch wissenschaftliche Einrichtungen begleiten und evaluieren zu lassen.