„Wir erleben massive rassistische und rechtsextreme Gewalt“

Verena Schäffer zum 5. Jahrestag der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Gewalt von Reichsbürger*innen, zunehmende Attacken gegen Geflüchtete und Muslim*innen, Zuspruch für Rechtspopulist*innen von Pegida bis AfD: Wie schätzt Du das derzeitige politische Klima ein?
Schäffer: Wir erleben heute eine Situation massiver rassistischer und rechtsextremer Gewalt. Die politisch rechts motivierten Gewaltdelikte sind seit dem vierten Quartal 2014, zeitgleich zu den HoGeSa-Demonstrationen und dem Aufkommen von Pegida, sprunghaft angestiegen. Bemerkenswert ist auch, dass zwei Drittel der ermittelten Täter*innen bei Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte vorher der Polizei noch nicht durch Aktivitäten im organisierten Rechtsextremismus aufgefallen waren. Das macht deutlich, dass Forderungen nach Schießbefehlen auf Flüchtlinge und andere menschenverachtende Parolen als Legitimation für diese Gewalt gegen Menschen genutzt werden. Damit sind die AfD, Pegida und andere aus meiner Sicht mitverantwortlich für diesen Hass und diese Gewalt.
Seit gut zwei Jahren widmet sich der Untersuchungsausschuss den Verbrechen des NSU, möglichen Unterstützer*innen und dem Behördenversagen. Was sind bislang Eure wichtigsten Erkenntnisse?
Schäffer: Wir haben zahlreiche Zeug*innen gehört und sehr viel Aktenmaterial gelesen. Im Dezember werden wir voraussichtlich die Beweisaufnahme beenden. Unsere abschließenden Bewertungen werden wir in einem umfangreichen Bericht festhalten.
Aber schon jetzt kann man sagen, dass insbesondere die Vernehmung der Opfer sehr eindrücklich war. Es wurde deutlich, wie absurd und unhaltbar die Anschuldigungen der Polizei gegenüber den Betroffenen waren. Da wurden Verbindungen in die organisierte Kriminalität vorgeworfen, für die es keine Anhaltspunkte gab. Ein möglicher rassistischer Hintergrund wurde dabei ganz offensichtlich ausgeblendet. Dies gilt vor allem für den Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße, aber auch für die Ermittlungen zum Mord an Mehmet Kubaşık in Dortmund.
Eine der Zeugenaussagen vor dem Untersuchungsausschuss hat neue staatsanwaltliche Ermittlungen ausgelöst. Es geht um den Fall Corelli.
Schäffer: Ja, das war ein wichtiger Punkt. Corelli war ein V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), der nach seiner Enttarnung im Jahr 2012 in ein Schutzprogramm des Verfassungsschutzes kam und 2014 in Paderborn starb. Der Diabetes-Experte Prof. Dr. Scherbaum revidierte vor dem Untersuchungsausschuss sein Gutachten zum Tod Corellis. Anders als früher von ihm behauptet, existieren Substanzen, unter anderem das Rattengift Varcor, mit denen sich ein hyperglykämisches Koma auslösen lässt. Die Staatsanwaltschaft Paderborn hat daraufhin die Ermittlungen wieder aufgenommen und lässt derzeit die Leichenasservate toxikologisch untersuchen. Ein Ergebnis steht noch aus.
In Eurer letzten Sitzung konntet Ihr nach vielem Hin und Her Dinchen Franziska Büddefeld, Abteilungsleiterin beim BfV, zum Fall des V-Manns Corelli befragen.
Schäffer: Wir wollten Frau Büddefeld bereits im Juni anhören, aber das BfV weigerte sich, seiner Abteilungsleiterin eine Aussagegenehmigung für eine öffentliche Sitzung zu erteilen. Die offizielle Begründung des BfV war der Schutz ihrer Person vor der Öffentlichkeit – was absurd ist, da sie als leitende Beamtin ansonsten öffentlich für das BfV in Erscheinung tritt, zum Beispiel Vorträge hält oder Ausstellungen eröffnet. Wir waren uns fraktionsübergreifend einig, dass wir sie öffentlich vernehmen wollten, da Untersuchungsausschuss-Sitzungen nach dem Gesetz grundsätzlich öffentlich sind. Nach unserem öffentlichen Protest, der Androhung rechtlicher Schritte und einem Gespräch mit den Obleuten des Untersuchungsausschusses im Bundestag hat es dann vergangene Woche endlich geklappt.
Was sind die zentralen Ergebnisse?
Schäffer: In der Sitzung ist deutlich geworden, dass das BfV in einer gemeinsamen Besprechung mit Polizei und Staatsanwaltschaft zwei Tage nach dem Auffinden des toten V-Mannes seine Eigeninteressen durchgesetzt hat. Das BfV wollte Corelli unter seinen im Schutzprogramm erhaltenen Tarnnamen bestatten lassen. Weder über die Benachrichtigung der Angehörigen noch über deren Erbansprüche ist bei der Sitzung nach Frau Büddefelds Aussage gesprochen worden. Die Brüder Corellis haben letztendlich nur durch eine Berichterstattung des „Spiegels“ von seinem Tod erfahren. Ohne diese wäre Corelli vermutlich unter falschen Personalien beerdigt worden.
Wir haben als GRÜNE zudem thematisiert, dass es eine Absprache zwischen dem BfV und der Staatsanwaltschaft Paderborn über die Pressearbeit gab. In dem Vorentwurf einer Pressemitteilung war noch die Rede vom Tod eines V-Mannes, der sich in einem Schutzprogramm des BfV befand. In der dann veröffentlichten Pressemitteilungen stand dann nur noch, dass eine Person in einem Schutzprogramm einer Sicherheitsbehörde verstorben sei. Frau Büddefeld begründete dies mit dem Schutzinteresse des Verfassungsschutzes.
Du und die anderen Grünen Ausschussmitglieder habt nach Euren Recherchen und Zeugenbefragungen die „Blutzeugen“-Theorie entwickelt, die viel Aufmerksamkeit erfahren hat. Was genau hat es damit auf sich?
Schäffer: Es gibt bisher keine Erklärung dafür, warum die NSU-Bombe ausgerechnet in dem kleinen Laden in der Kölner Probsteigasse gelegt wurde, der von außen noch nicht einmal als von Migrant*innen geführtes Geschäft zu erkennen ist. Wir haben im Zuge unserer Recherchen herausgefunden, dass der Tatort des Anschlags in unmittelbarer Nähe zum Todesort des von den Kölner Neonazis verehrten SA-Mannes und „Blutzeugen“, wie die Nationalsozialisten vermeintliche „Märtyrer“ aus ihren Reihen nannten, Walter Spangenberg liegt. Die 1998 gegründete Kölner Kameradschaft, die inzwischen verboten ist, trug ebenfalls den Beinamen Walter Spangenberg und hielt Heldengedenken für ihn ab.
Eine ähnliche Nähe zwischen NSU-Tatort und „Blutzeugen“-Todesort konnten wir in Dortmund feststellen. Nur 500 Meter vom Kiosk des vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık entfernt liegt der Ort, an dem 1930 der SA-Mann Adolf Höh von Kommunisten erschossen wurde. Auch in Dortmund gedachten Neonazis diesem Dortmunder „Blutzeugen“ der Nationalsozialisten. Wir fanden in den Akten des NRW-Verfassungsschutzes einen Hinweis darauf, dass sich die Dortmunder Neonazi-Kameradschaft auch „Sturm 11/Adolf Höh“ nannte.
Diese Nähe von NSU-Tatorten und „Blutzeugen“-Todesorten könnte ein Hinweis auf die Tatortauswahl des NSU sein. Die Auswahl der Opfer und der Tatorte ist eine der großen, noch immer ungeklärten Fragen im NSU-Komplex. Unsere „Blutzeugen“-Theorie kann diese Frage nicht sicher beantworten, aber ein Denkansatz, eine Hypothese für weitere Nachforschungen sein. Dass sich die örtliche Neonazi-Szene auf diese Blutzeugen bezieht, könnte sowohl bedeuten, dass der NSU ein Signal an die Neonazis vor Ort senden wollte als auch, dass es tatsächlich ein lokales Unterstützernetzwerk mit Ortskenntnissen gab.
Wie geht es in den kommenden Monaten mit dem Untersuchungsausschuss weiter?
Schäffer: Wir haben als Themenkomplex noch den bislang ungeklärten Bombenanschlag an der Düsseldorfer S-Bahn-Station Wehrhahn am 27. Juli 2000 auf der Tagesordnung. Ansonsten müssen wir jetzt vor allem den Abschlussbericht schreiben, die Zeugenaussagen bewerten und Handlungsempfehlungen diskutieren. Im Frühjahr werden wir den Abschlussbericht dann im Plenum debattieren und darüber abstimmen, da der Untersuchungsausschuss mit dem Ende der Legislaturperiode ebenfalls beendet sein muss.