Sigrid Beer: „Letztlich geht es um die Qualität des Unterrichts und um das konsequente Umsetzen der individuellen Förderung“

Antrag der Piraten zu G9

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Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Pieper! Ja, der Dank an die Kollegen und Kolleginnen ist berechtigt, nicht nur am Weltlehrertag, sondern wirklich an jedem Tag, weil die Lehrerinnen und Lehrer ihre Arbeit mit Leidenschaft, mit Engagement verrichten. Man kann es nicht oft genug sagen; da stimme ich Ihnen zu.
Aber dann müssen wir uns auch gemeinsam fragen: Womit beschäftigen wir die Kollegen und Kolleginnen? Wollen wir uns mit der Weiterentwicklung beschäftigen? Oder beschäftigen wir uns mit Abwicklung und Rückabwicklung und halten dadurch Unterrichtsentwicklung und Schulentwicklung insgesamt auf?
(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)
Das ist die Gretchenfrage, die wir beantworten müssen. Deswegen plädiere ich sehr dafür, nach vorne zu entwickeln und nicht rückabzuwickeln. Das ist die Linie, die wir in dieser Diskussion gern betonen wollen.
Einen Punkt will ich noch ansprechen. Sie haben darauf hingewiesen, dass es rund um Nordrhein-Westfalen Diskussionen gegeben hat – sei es in Niedersachen, sei es in Hessen. Dort ist man aber auch nicht befriedet. Obwohl man dort Wege eingeschlagen hat, zurück zu G9 zu gehen – Niedersachsen komplett –, herrscht dort keine Ruhe in der Schulentwicklung. In Hessen ist das auch nicht anders.
Bei uns in Nordrhein-Westfalen haben wir von vornherein ganz andere Wege zu G9. Es ist nicht despektierlich, wenn man seine Kinder zu einer Gesamtschule schickt und sie dort das Abitur nach neun Jahren machen lässt. Ich werfe es einigen Eltern vor, dass sie eine ganz gewisse Form von Lobbyarbeit machen, wo es heißt, es sei nicht akzeptabel, sein Kind das Abitur an einer Gesamtschule machen zu lassen.
Ich kann mir nicht vorstellen, Frau Kollegin Pieper, dass Sie so etwas mittragen. Deswegen fand ich auch das Bejubeln der Veranstaltung in Dortmund etwas merkwürdig. Das betrifft auch noch einen anderen Punkt. Sie haben diesen Antrag überschrieben mit „G9 für Nordrhein-Westfalen jetzt!“ Das steht aber genau für die Eltern, die einen Schulgesetzentwurf vorgelegt haben, mit dem sie anderen Schulformen acht Unterrichtsstunden wegnehmen wollen, um die Reform quasi gegenzufinanzieren.
(Monika Pieper [PIRATEN]: Das stimmt nicht!)
– Das steht doch dort! Schauen Sie bitte auf die Seite von „G9 für Nordrhein-Westfalen jetzt!“. Dort heißt es: Die Sekundarstufe I darf nur noch 180 Stunden betragen. – Das hieße, den Gesamtschulen, den Realschulen, den Hauptschulen, den Gemeinschaftsschulen, den Sekundarschulen acht Stunden wegzunehmen. So ist das!
Man muss da sehr genau die Interessen berücksichtigen. Wir machen es nicht mit – das sage ich sehr deutlich –, den anderen Schulformen Unterrichtsstunden wegzunehmen für das Modell einer Halbtagsschule, das für ein ganz bestimmtes Familienbild und Gesellschaftsbild steht. Da bin ich bei der Kollegin Voigt-Küppers. Darüber müssen wir diskutieren, und das muss auch ein Thema am „Runden Tisch Schulzeitverkürzung“ sein.
(Beifall von den GRÜNEN – Beifall von Eva Voigt-Küppers [SPD])
Die Qualität des Unterrichts und die konsequente Unterrichtsentwicklung, das individuelle Fördern – das ist doch jetzt die Punkte, über die wir uns unterhalten müssen. Es geht weder um die Heiligsprechung des G8, noch geht es um die Heiligsprechung des G9. Denn wir wissen ganz genau – da bin ich beim Kollegen Kaiser –: Es gibt Schulen, in denen funktioniert das G9 nicht gerade prickelnd; andererseits gibt es Schulen, in denen das G8 klasse funktioniert. Aus den Berichten, die uns von Schulen vorliegen – egal ob Gymnasien oder andere Reformschulen –, die sich auf den Weg gemacht haben, wissen wir: Letztlich geht es um die Qualität des Unterrichts und um das konsequente Umsetzen der individuellen Förderung.
Deswegen müssen wir raus aus den lähmenden Strukturdebatten. Jetzt haben wir die Chance, auch in dem Wettstreit der Modelle, die jetzt diskutiert werden, den Weg nach vorn zu finden und zu fragen: Wie kann man dem Lerntempo des einzelnen Kindes, des einzelnen Schülers und der einzelnen Schülerin gerecht werden? – Dieser Punkt muss nach vorne gestellt werden. Wir müssen uns verabschieden von alten, unfruchtbaren Debatten, die die Energien nicht wirklich in die Schulen lenkt, also dahin, wohin sie muss, nämlich in die Unterrichts- und in die Qualitätsentwicklung vor Ort.
Ich hoffe, dass das auch ein zentraler Punkt beim Runden Tisch sein wird, dem wir nach den Herbstferien selbst beiwohnen können. Ich erinnere an dieser Stelle gern daran, dass auch die Bildungskonferenz schon einmal über Brückenmodelle und flexible Modelle diskutiert hat. Ich glaube, dass die Diskussion inzwischen fortgeschritten ist und es einen Schwenk bei maßgeblichen Akteuren gegeben hat. Dazu zählt in der Tat die Landeselternschaft der Gymnasien. Deswegen müssen wir miteinander reden, wie es jetzt weiter nach vorn geht.
Eines darf auf Dauer nicht sein, und das ist diese beständige Unruhe an den Schulen. Die Hilferufe der Schulleitungen kann man vielfach in der Presse nachlesen. Da heißt es: Wir wollen Ruhe an den Schulen, wir wollen die Entwicklung nach vorn. Wir wollen uns auf jeden Fall nicht mehr mit unfruchtbaren Entwicklungen beschäftigen müssen.
Da bin ich jetzt auch noch einmal bei dem Kollegen Kaiser und bei der Kollegin Voigt-Küppers, die sehr deutlich gesagt haben, was wir nicht gebrauchen können, nämlich das, was wir schon einmal erlebt haben: dass den Schulen etwas auf den Schulhof gekippt wird und sie das ausbaden müssen. – Wir benötigen einen sorgfältigen Diskurs und eine Entwicklung nach vorne. Dafür werden wir uns einsetzen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Frau Beer. – Es gibt eine Kurzintervention, angemeldet von der Fraktion der Piraten, Frau Beer. Frau Pieper, bitte schön.
Monika Pieper (PIRATEN) TC „Monika Pieper (PIRATEN)“ f C l „5“ : Vielen Dank. – Liebe Kollegin Beer, zwei Dinge: Die ständige Unruhe an den Schulen, die wir nicht wollen, ist meines Erachtens gerade in dem Moment hier ausgebrochen, in dem die SPD und die Grünen mit großen Strukturumwälzungen kommen: Flexi-irgendwas irgendwann. – Keiner weiß so genau, was diese Flexi-Schule sein soll. Das wäre meiner Ansicht nach eine riesengroße Strukturdebatte, die Unruhe in die Schule bringt. Insofern verstehe ich es nicht, wenn Sie hier sagen, Sie möchten keine Unruhe und keine Strukturdebatte führen, sondern lieber schauen, was in der Schule passiert.
Die nächste Sache, die hier immer wieder genannt wird, ist, dass wir jetzt kämen, sei populistisch und Wahlkampf. Wir haben das schon vor drei Jahren gesagt. Wir haben das immer gesagt.
(Beifall von den PIRATEN)
Sie alle hier hätten die Zeit gehabt, das mit uns zu diskutieren. Dann werden hier Anträge abgelehnt. Dann werden Aktuelle Stunden abgelehnt. Dann will man hier nicht darüber diskutieren. Dann kann man sich aber nicht heute hierhin stellen und sagen: Ihr kommt hier auf den letzten Drücker und wollt kurz auf knapp. Das geht nicht bis 2017. – Das kann ich dann nicht nachvollziehen.
(Beifall von den PIRATEN)
Sigrid Beer (GRÜNE) TC „Sigrid Beer (GRÜNE)“ f C l „5“ : Liebe Kollegin Pieper, als Schulexpertin sollten Sie nicht von Flexi-irgendwas erzählen, sondern Sie sollten die Reformschulen in Nordrhein-Westfalen kennen. Das Dalton-Gymnasium hat den Deutschen Schulpreis erhalten. Die anderen Gymnasien und Berufskollegs, die sich auf den Weg gemacht haben, sollten Sie noch viel besser kennen. Sie sollten das Netz „Zukunftsschulen NRW“ kennen, die an den Konzepten individueller Förderung arbeiten.
Von daher finde ich, es ist unter dem Niveau einer Schulexpertin, wenn sie „Flexi-irgendwas“ sagt. Das sind die Schulen, die konsequent an individueller Förderung arbeiten.
(Beifall von den GRÜNEN – Monika Pieper [PIRATEN]: Eine tolle Reaktion! – Michele Marsching [PIRATEN]: Das war die Ministerin, die von „Flexi-irgendwas“ gesprochen hat! – Zuruf von Dr. Joachim Stamp [FDP])
– Herr Stamp, schalten Sie sich jetzt in die Bildungsdebatte ein? Das ist wunderbar.
Der andere Punkt ist doch, wir haben in der Tat miteinander am runden Tisch geredet. Die Verbände haben im April die Ergebnisse der Befragung vorgelegt. Seitdem hat es eine neue Virulenz und auch eine neue Dynamik in der Debatte gegeben. Wir haben sofort mit den Eltern darüber gesprochen. Wir sind jetzt an dem Punkt, dass wir miteinander nach vorne entwickeln müssen. Aber bitte: Das hat nichts mit Chaos, das hat nichts mit Beliebigkeit zu tun, sondern mit konsequenter Schulentwicklung der Schulen, die in Nordrhein-Westfalen schon so arbeiten und die wir uns zum Beispiel nehmen können, weil sie alle aus dieser lähmenden Strukturdebatte herauswollen.
(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

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