Jetzt erst Recht! – Für eine vielfältige Gesellschaft, gegen Radikalisierung

Verena Schäffer zum Verfassungsschutzbericht 2015

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Sowohl das rechtsextreme, als auch das neosalafistische Spektrum sind heute stärker ideologisiert und vor allem auch gewaltbereiter als zuvor. Auch von der linken Szene gehen mehr Straftaten aus als im Vorjahr. Dabei steht mit 60,3 Prozent der größte Teil der politisch links motivierten Gewalttaten im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen mit der rechten Szene. Zu beobachten ist ebenfalls ein gegenseitiges Aufschaukeln von Rechtsextremismus und Neosalafismus. Rechtsextreme wollen mit Verweis auf neosalafistische Anschläge einen Generalverdacht gegen alle Menschen muslimischen Glaubens schüren, während im Neosalafismus mit Verweis auf rechtsextreme und rechtsterroristische Gewalttaten Ressentiments gegenüber der Mehrheitsgesellschaft aufgebaut werden. Vor dem Hintergrund der Situation in der Türkei kommen Konflikte zwischen türkischen Nationalisten/Rechtsextremen mit der PKK hinzu. Die Lage im Bereich der verfassungsfeindlichen Bestrebungen ist also sowohl besorgniserregend als auch komplex.
Bereits seit einigen Jahren lässt sich ein kontinuierlicher Anstieg politisch rechts motivierter Straftaten in Nordrhein-Westfalen beobachten. Im Jahr 2015 wurden laut Bericht 4.437 (2014: 3.286) rechte Straftaten registriert. Das ist ein Anstieg um 35 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Anteil der Gewaltdelikte ist zwar von 370 Straftaten in 2014 auf 289 Straftaten in 2015 zurückgegangen,175 der politisch rechts motivierten Gewaltdelikte im Jahr 2014 standen jedoch im Zusammenhang mit der HoGeSa-Demonstration vom 26. Oktober 2014. Rechnet man diese heraus, zeigt sich auch hier ein deutlicher Anstieg vom Jahr 2014 auf das Jahr 2015. Die meisten politisch rechts motivierten Straftaten werden den Themenfeldern „Nationalsozialismus/Sozialdarwinismus“ (2015: 2.610; 2014: 2.108), „Hasskriminalität“ (2015: 1.802; 2014: 1.020) und „Ausländer-/Asylthematik“ (2015: 671; 2014: 88) zugeordnet. Im Unterthema „Fremdenfeindlichkeit“ verdoppelte sich die Zahl der Delikte (2015: 1.605; 2014: 805). Dieser massive Anstieg flüchtlingsfeindlicher und rassistischer Straftaten zeigt sehr deutlich, dass die rassistische Ideologie neben dem Nationalsozialismus ein Kernelement des Rechtsextremismus ist.
Rechte Gewalt gegen Geflüchtete und Helfer*innen
Das treibende und verbindende Thema für rechtsextreme und rechtspopulistische Kräfte ist zurzeit die Debatte um Flucht und Migration. Bei Anfeindungen gegen Geflüchtete legen unterschiedliche rechtsextreme Gruppierungen und Parteien ihre Differenzen bei Seite und arbeiten punktuell zusammen. Die andauernde rassistische Stimmungsmache gegen Geflüchtete – und auch gegen Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzen – bereitet den Nährboden und die vermeintliche Legitimation für Straftaten. So sind die politisch rechts motivierten Straftaten gegen Flüchtlingsunterbringungen in Nordrhein-Westfalen von 25 Fällen in 2014 eklatant auf 222 Fälle in 2015 gestiegen. Bis Anfang Juni diesen Jahres sind bereits 114 Angriffe gegen Flüchtlingsunterbringungen gezählt worden. Die Hemmschwelle zu schweren Gewalttaten, wie Brandanschlägen und Körperverletzungen, ist deutlich gesunken. Bei den Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte kommen 75 Prozent der Tatverdächtigen aus der jeweiligen Region, 66 Prozent hatten vorher keinen Bezug zum organisierten Rechtsextremismus und über 33 Prozent gab es vor den Taten keine polizeilichen Vorerkenntnisse. Das zeigt, wie weit rassistische Einstellungen und die Bereitschaft, gewaltbereit zu handeln, auch jenseits des organisierten Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft verbreitet sind. Latent vorhandene Ressentiments werden von rechtsextremen und rechtspopulistischen Gruppierungen aufgegriffen und verstärkt.
Die neosalafistische Szene in NRW wächst
Besorgniserregend sind auch die Entwicklungen in der neosalafistischen Szene. Hier hat die Anzahl der Straftaten von 126 Fällen in 2014 auf zuletzt 141 Fälle in 2015 nur leicht zugenommen, die Anzahl der Gewaltdelikte ist von 11 Fällen in 2014 sogar auf 7 Fälle in 2015 gesunken. Angesichts der jüngsten Anschläge in Europa kann die vergleichsweise geringe Anzahl der Straftaten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass von der neosalafistischen Ideologie eine große Gefahr ausgeht. Die neosalafistische Szene hat in den vergangenen Jahren großen Zulauf erfahren, der insbesondere vor dem Hintergrund der Krisen im Irak und Syrien und der Propaganda der Terrororganisation „Islamischer Staat (IS)“ zu verstehen ist. Aktuell zählt der Verfassungsschutz 2.700 Personen in Nordrhein-Westfalen, die zur neosalafistischen Szene gehören. Bis zum Januar dieses Jahres sind 218 Personen aus NRW in die Krisengebiete im Irak und in Syrien ausgereist, darunter 56 Frauen. Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden geht sowohl von Rückkehrern als auch von hier radikalisierten Personen eine Gefahr aus. Der IS und seine Sympathisant*innen bekämpfen neben der westeuropäischen Mehrheitsgesellschaft auch Schiiten, Jesiden und Kurden. Die erschreckenden terroristischen Anschläge des IS in Westeuropa sind nur ein Teil der Gewalttaten, die der IS verübt. Die Kampfhandlungen und die zahlreichen Anschläge unter anderem in Syrien, im Irak, in der Türkei und zuletzt auch in der muslimischen Pilgerstadt Medina haben bereits viele Todesopfer gefordert. Sie zeigen, dass gerade Menschen muslimischen Glaubens vom IS angegriffen werden und die neosalafistische Ideologie die Religion instrumentalisiert, sie tatsächlich aber als eine politische Ideologie zu verstehen ist.
Gemeinsam gegen Radikalisierung
Gegen diese Radikalisierung gehen die Sicherheitsbehörden konsequent mit allen repressiven Mitteln des Rechtsstaats vor. Die Arbeit von Verfassungsschutz und Polizei haben wir als rot-grüne Koalition in den vergangenen Jahren mit zusätzlichen Mitteln für Personalstellen und durch die Fokussierung der Arbeit des Verfassungsschutzes auf die gewaltbereiten Bestrebungen weiter gestärkt. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen bedürfen aber auch einer starken Präventionsarbeit. Deshalb ist die Einrichtung des Aussteigerprogramms Islamismus und der weitere Ausbau der Wegweiser-Beratungsstellen ein wichtiger Schritt. Darüber hinaus arbeitet die Landesregierung auf unseren rot-grünen Antrag hin an der Erstellung eines ganzheitlichen Handlungskonzepts zum Umgang mit dem gewaltbereiten verfassungsfeindlichen Salafismus, im Rahmen dessen die Präventionsarbeit koordiniert und ausgebaut werden soll. Im Bereich der Rechtsextremismusprävention ist das Land bereits seit vielen Jahren mit einer großen Anzahl von Maßnahmen sehr aktiv. Erst im Mai wurde das integrierte Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus und Rassismus dem Landtag vorgestellt, das über 166 Maßnahmen umfasst und diese mit einer ressortübergreifenden Strategie hinterlegt. In Kürze wird darüber hinaus ein Förderprogramm für kommunale Handlungskonzepte gegen Rechtsextremismus gestartet.
Wir stehen der zunehmenden Radikalisierung also nicht unvorbereitet gegenüber. Staatliche Maßnahmen können aber nur dann wirklich Wirksamkeit gegen Radikalisierung entfalten, wenn sie von der demokratischen Zivilgesellschaft getragen werden. Das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen braucht das Engagement und Eintreten aller Demokratinnen und Demokraten gegen menschenverachtende und antidemokratische Kräfte. Dieses Engagement ist groß in NRW. Es verdient unsere Anerkennung und Unterstützung, damit es weiter wachsen kann.