Master und Meister – NRW benötigt weiterhin duale Ausbildung und Studium als gleichwertige Ausbildungsalternativen

Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

I.

In der öffentlichen Debatte der vergangenen Monate ist die Frage, ob es eine Konkurrenz zwischen dem dualen Ausbildungssystem und den Hochschulen um die jungen Menschen in unserem Land gäbe, zugespitzt geführt worden. Von den Begrifflichkeiten „Akademisierungswahn“ und dem „Kampf um die Köpfe“ wird gerne Gebrauch gemacht, um den Anschein zu erwecken, dass sich Deutschland bildungspolitisch auf einem falschen Weg der Akademisierung der Gesellschaft bewegt. Dabei wird unterstellt, dass es eine Geringschätzung für das System der dualen Ausbildung gäbe, die allerdings Teil des Erfolges der Wirtschaft unseres Landes sei. Intendiert wird, dass somit die Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftserfolges in Frage gestellt sei.
Unstrittig ist, dass die Zahl der Neueinschreibungen auch an den Hochschulen des Landes NRW konstant auf einem hohen Niveau bleibt. 103.000 Studierende haben sich nach den vorläufigen Zahlen im Wintersemester an einer Hochschule in NRW eingeschrieben. Prof. Dr. Martin Sternberg, Präsident der Hochschule Bochum und ehemaliger Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz der Fachhochschulen, hat dies auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der aktuellen Zahlen im Oktober 2015 wie folgt kommentiert: „Die konstant hohe Zahl der Studierenden an den Hochschulen ist ein Zeichen unserer besonderen Attraktivität für junge Menschen.“
Der Ausbildungsmarkt in NRW bringt aber ebenfalls die Attraktivität der betrieblichen Ausbildung zum Ausdruck. Von Oktober 2015 bis März 2016 haben sich 102.730 Jugendliche bei den Arbeitsagenturen oder Jobcentern um einen Ausbildungsplatz bemüht. Dem standen insgesamt 87.229 Lehrstellenangebote gegenüber. Damit lag das Verhältnis von Ausbildungsangebot zu Ausbildungssuchenden bei 0,88 Stellen pro Bewerberin oder Bewerber. Dabei muss allerdings die regionale Heterogenität des Ausbildungsmarktes berücksichtigt werden, der aus sehr unterschiedlichen kleineren Ausbildungsmärkten besteht. Während es in einigen Städten und Landkreisen mehr Ausbildungsstellen als Bewerberinnen und Bewerber gibt, steht in einigen Städten weniger als ein halber freier Ausbildungsplatz pro Bewerberin oder Bewerber zur Verfügung. Hinzu kommen noch die Plätze in der schulischen Berufsausbildung und im Übergangssystem. Laut BIBB-Datenreport 2015 waren dies beispielsweise in NRW im Jahr 2014 insgesamt 60.191 Menschen im Sektor „Integration in Berufsausbildung (Übergangsbereich)“.
Nach Angabe von Christiane Schönefeld, Vorsitzende der Geschäftsführung der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit, hatten drei Viertel der aktuellen Bewerberinnen und Bewerber im August 2015 einen mittleren oder höheren Schulabschluss. Zwar sank die registrierte Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern um 2,6 Prozent, allerdings stieg die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber mit einer Fachhochschulreife um 1.632 oder 5,5 Prozent. Dies deckt sich mit dem bundesweiten Trend hochqualifizierter Jugendlicher im System der beruflichen Bildung. Bereits diese Bestandsaufnahme zeigt, dass die simplifizierende Debatte des „Akademisierungswahns“ bei der Bewältigung der Herausforderungen zukünftiger akademischer und beruflicher Bildung nicht weiter hilft. Elke Hannack, die stellvertretende Bundesvorsitzende des DGB hat dieses Symptom in einem Diskussionsbeitrag mit dem Titel „Schluss mit dem ‚Kampf um die Köpfe‘ Hochschule und berufliche Bildung brauchen eine gemeinsame Reformperspektive – und keine Systemkonkurrenz“ im Mai 2014 wie folgt analysiert:
„Das duale System leidet nicht unter einem Mangel an gut qualifizierten jungen Menschen. Die mangelnde Integration von Jugendlichen mit schlechten Startchancen ist das Hauptproblem. Nur noch 7 Prozent der Betriebe bilden Hauptschülerinnen und Hauptschüler aus. Rund 257.000 Jugendliche befinden sich in zahllosen Warteschleifen im Übergang von der Schule in die Ausbildung. Wenn sich die Zahl der Ausbildungsplätze im Sinkflug befindet, liegt das nicht am vermeintlichen Akademisierungswahn, sondern an Betrieben, die sich an eine Bestenauslese gewöhnt haben und Hauptschülerinnen und -schülern von vorneherein keine Chance mehr geben.“
Damit alle Schulabsolventinnen und Schulabsolventen gute Chancen auf dem Ausbildungsmarkt haben, ist weiterhin eine gute Qualität des schulischen Unterrichts sicherzustellen, bei der kein junger Mensch auf der Strecke bleibt. Im gemeinsamen Aufruf der Partner im Ausbildungskonsens NRW kam die oben zitierte Einschätzung 2014 ebenfalls zum Tragen:
„In einigen Regionen und Berufen Nordrhein-Westfalens fehlen bereits heute Bewerberinnen und Bewerber, künftig wird sich dies deutlich verstärken. Bei Fachkräften mit beruflicher Qualifizierung drohen besonders deutliche Engpässe. Der doppelte Abiturjahrgang hat hier nicht entlastet. Gleichzeitig ist in Nordrhein-Westfalen die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge zurückgegangen, in 2013 um rund 4.000. Auch in diesem Jahr ist die Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze rückläufig, selbst in Branchen, in denen jetzt schon Fachkräftemangel herrscht. Der Fachkräftenachwuchs ist die wichtigste Ressource für Ihr Unternehmen und für unsere Gesellschaft. Deshalb unser Appell: Investieren Sie in Ausbildung – jetzt! Lassen Sie sich nicht nur von Zeugnisnoten leiten. Geben Sie auch vermeintlich schwächeren Jugendlichen eine Chance! Denn Zeugnisnoten allein sagen nur wenig über die praktischen, personalen und sozialen Fähigkeiten aus.“
Laut Berufsbildungsbericht 2015 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung lag die Abbruchquote bei den Bachelorstudiengängen bundesweit bei 28 Prozent. Gleichzeitig wurden im Jahr 2013 genau 25 Prozent der Ausbildungsverträge aufgelöst. Zwar können Vertragsauflösungen unterschiedliche Gründe haben, wie einen Berufs- oder Betriebswechsel, einen Wechsel von einer außerbetrieblichen zu einer betrieblichen Ausbildung oder der Schließung des Betriebs. Aber das Bundesinstitut für Berufsbildung berechnete trotzdem eine tatsächliche Abbruchquote bei beruflichen Ausbildungen von immerhin 16 Prozent bundesweit für die Absolventenkohorte 2012.
Die Landesregierung hat mit dem Programm „Kein Abschluss ohne Anschluss“ auf die Notwendigkeit reagiert, zu einer verbesserten Berufsorientierung junger Menschen beizutragen, um somit die Gefahr einer Fehlorientierung oder die eines Ausbildungsabbruches zu verringern und unnötige Warteschleifen zu verhindern. Dabei werden insgesamt vier Handlungsfelder bearbeitet:
Die Stärkung der Studien- und Berufsorientierung,
die Schaffung von Angeboten im Übergang von Schule und Beruf,
die Erhöhung der Attraktivität der dualen Berufsausbildung und
die Begründung der kommunalen Koordinierung der Aktivitäten, um einen sinnvollen Ressourceneinsatz aller Beteiligten zu ermöglichen.
Die dabei entstandenen Aktivitäten werden vor Ort mit hohem Engagement vieler Akteure ermöglicht und begleitet. Sie bilden einen wesentlichen Beitrag, durch einen präventiven Politikansatz, Defizite beim Matching in dieser frühen Phase der Berufsorientierung zu vermeiden. Trotzdem werden die regionalen Unterschiede im Ausbildungsmarkt hierdurch alleine nicht ausgeglichen werden können. Hierzu bedarf es in Regionen mit zu wenigen Ausbildungskapazitäten der Einlösung der Zusagen aus dem Ausbildungskonsens, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Zum anderen wird die Förderung der regionalen Mobilität junger Menschen zu Beginn ihrer beruflichen Ausbildung notwendig sein, um das Ausbildungspotenzial in den wirtschaftlich starken Regionen nutzen zu können.
Die Attraktivität der dualen Ausbildung wird aber gerade bei den leistungsstarken Bewerberinnen und Bewerbern auch mit der Frage potenzieller beruflicher Entwicklungsmöglichkeiten verknüpft. Die Attraktivität der dualen Ausbildung ließe sich beispielweise verbessern, indem fachliche Zusatzangebote, Auslandlandsaufenthalte oder berufliche Wahlstationen in Partnerorganisationen angeboten werden. Darüber hinaus geht es zunehmend um Fragen der Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen, um eine Anschlussfähigkeit beider Bildungssysteme zu entwickeln. Diese Durchlässigkeit, die auch den Übergang von einem Studienabbruch in eine Ausbildung einschließt, wird aber zunehmend auch im Bereich der akademischen Ausbildung eingefordert, was am Auswahlverhalten der Jugendlichen zu erkennen ist. Die Schaffung attraktiverer Ausbildungen ist dazu dringend erforderlich. Der Erfolg der dualen Studiengänge zeigt, wie hochattraktiv die Verknüpfung von dualen Ausbildungsgängen mit akademischer Qualifikation ist. Auch die Einführung des trialen Studiengangs an der Hochschule Niederrhein, der ein Studium mit Berufsausbildung, Bachelor und Meisterabschluss vorsieht und eine erfolgreiche Kooperation mit einer Handwerkskammer darstellt, zeigt dass zunehmend auch akademische Qualifikationen im Handwerk benötigt werden. Das Hochschulzukunftsgesetz hat deshalb konsequent die Rahmenbedingungen für die Hochschulen geschaffen, um ein Studium von beruflich Qualifizierten, jungen Menschen zu ermöglichen. Die Einführung von Teilzeitstudiengängen, die Ermöglichung individueller Regelstudienzeiten, eine strukturierte Studieneingangsphase und eine verbindliche Studienberatung sind wichtige Elemente, um beruflich bereits Tätigen den Weg an die Hochschulen zu eröffnen und die Abbruchquoten im Studium generell zu senken. Die positive Entwicklung der Zahl der Studierenden mit beruflichem Hintergrund zeigt, dass dies die richtigen Maßnahmen sind, um die Durchlässigkeit der Systeme zu verbessern.

II. Der Landtag stellt fest:

Berufliche Bildung und Hochschulbildung auf hohem Niveau sind die notwendigen Garanten für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes. Deshalb begrüßt der Landtag ausdrücklich die in den vergangenen Jahren durch die Landesregierung vorgenommene inhaltliche und finanzielle Schwerpunktsetzung zur Verbesserung der Rahmenbedingungen an den Hochschulen unseres Landes. Zudem unterstützt er die Landesregierung darin, die Voraussetzungen zu verbessern, um die vorhandenen Ausbildungsplätze passgenau besetzen zu können. Dabei stellt das Programm „kein Abschluss ohne Anschluss“ einen wichtigen und wesentlichen Baustein dar. Auch die Berufsbildungszentren und überbetrieblichen Lernorte sollen gestärkt und auch für die Herausforderungen von „Wirtschaft 4.0“ fit gemacht werden.
Berufliche Ausbildung und Ausbildung an Hochschulen ergänzen sich komplementär. Bei ihnen handelt es sich weder um konkurrierende Systeme, noch um getrennte Welten. Ein modernes Verständnis von beruflicher Qualifikation und hochschulischer Bildung setzt auf ein hohes Maß an wechselseitiger Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit der erreichten Bildungsabschlüsse. Wechselseitige Durchlässigkeit bedeutet dabei auch, neue Wege zu finden, wie Hochschulabschlüsse in den Systemen der beruflichen Qualifikation anerkannt werden können. Der Landtag begrüßt deshalb die mit dem Hochschulzukunftsgesetz geschaffenen Möglichkeiten, die die Hochschulen in die Lage versetzen, berufsbegleitende Studiengänge zu etablieren.
Die Heterogenität der regionalen Ausbildungsmärkte in NRW erfordert weiterhin erhebliche Anstrengungen, um allen Jugendlichen die eine berufliche Ausbildung anstreben, auch eine Ausbildungsstelle – betrieblich oder ergänzend vollzeitschulisch mit abschließender Kammerprüfung – anbieten zu können. Dabei ist vor allem das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen noch immer zu niedrig. Der Landtag appelliert an die Partner im Ausbildungskonsens zu einer deutlichen Steigerung der Ausbildungsaktivitäten zu kommen, um dem Ziel gerecht zu werden,  allen Bewerberinnen und Bewerbern einen Ausbildungsplatz in NRW anbieten zu können. Der Landtag erkennt dabei ausdrücklich das vielfältige Engagement derjenigen an, die sich im Ausbildungskonsens und im Programm „Kein Abschluss ohne Anschluss“ engagieren. Ziel muss es aus Sicht des Landtages sein, die Zahl der ausbildenden Betriebe zu erhöhen.
Die Karrierechancen der dualen Berufsausbildung sollen ebenfalls gestärkt werden.
Nur 23 Prozent der Kinder von Nicht-Akademikerinnen und Nicht-Akademikern studieren an einer Hochschule, während es bei Kindern von Akademikerinnen und Akademikern 77 Prozent sind. Es ist deutlich, dass hier Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit gestärkt werden müssen. Um dies zu bewerkstelligen, ist das Talentscouting eines der Mittel, über das junge Talente gefördert werden können.
Bei der Entscheidung zwischen beruflicher oder akademischer Ausbildung müssen stets die Stärken und Bedürfnisse der jungen Menschen im Vordergrund stehen. Benachteiligungen auf Grund der geografischen oder sozialen Herkunft müssen ausgeschlossen bleiben. Letztendlich wird es sowohl Wissenschaft als auch Wirtschaft zugutekommen, wenn die jungen Menschen so weit wie möglich ihr Potenzial nutzen können.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

Die Bemühungen für beste und durchlässige Bildung und Ausbildung in Nordrhein-Westfalen fortzusetzen und weiter zu priorisieren.
Auf allen Ebenen dafür einzutreten, dass die duale Ausbildung und die Hochschulausbildung nicht gegeneinander ausgespielt werden und als zwei Elemente eines erfolgreichen Systems zur Ausbildung junger Menschen und zum Erhalt einer prosperierenden Wirtschaft gesehen werden.
Dafür zu sorgen, dass bereits vor der Ausbildungswahl für junge Menschen Beratungen angeboten werden, damit diese aufgeklärt wählen können, welche Ausbildungsart für sie die richtige ist.
Weiterhin intensiv dafür einzutreten, dass genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen und Programme wie „kein Abschluss ohne Anschluss“ fortzusetzen und gegebenenfalls auszubauen.
Verstärkt die Möglichkeiten zu unterstützen, welche wechselseitige Durchlässigkeit zwischen dualer Ausbildung und Studium fördern, beispielsweise studieren ohne Abitur und Berufs- und Ausbildungsberatung für Studienabbrecherinnen und Studienabbrechern.
Die Unterstützung von Angeboten zur Begleitung und Motivierung von jungen Menschen, die sich mit einem Ausbildungsweg schwer tun, systematisch fortzusetzen, also auch zu helfen scheinbare „Problemfälle“ in Ausbildung oder Studium zu bringen. Hierbei sind besonders Schulen, Arbeitgeber und Hochschulen gefragt.
Sich dafür einzusetzen, dass ebenso junge Menschen engmaschig unterstützt und beraten werden, die innerhalb ihrer Ausbildung oder ihres Studiums Krisen und Probleme haben.
Sich dafür einzusetzen, dass die Hochschulen duale und triale Studienangebote ausbauen.
Weiterhin einen Fokus darauf zu setzen Ausbildungsabschlüsse und Studienabschlussquoten zu erhöhen.
Das Talentscouting für Hochschulen fortzusetzen und auszubauen.
In der Hochschulvereinbarung Anreize dafür zu schaffen, dass erfolgreiches Studieren immer besser gelingt und die Durchlässigkeit in ein Studium und von einem Studium in eine Ausbildung erhöht wird.