Opfer nicht aus dem Blick verlieren – Täter ermitteln und bestrafen

Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN

I. Ausgangslage

In der Silvesternacht 2015/2016 wurden viele Frauen in Köln und anderen Städten in NRW und ganz Deutschland Opfer sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum. Die sexualisierten und gewalttätigen Übergriffe auf Frauen haben die Menschen in NRW tief erschüttert und verunsichert. Die große Zahl der Anzeigen, die mittlerweile bei den Polizeibehörden eingegangen sind und noch immer eingehen, zeigt das ungeheuerliche Ausmaß der sexualisierten Gewalt gegen Frauen. Sie zeigt aber auch, dass viele Frauen durch die große öffentliche und politische Debatte den Mut gefasst haben, sexuelle Übergriffe nicht zu verschweigen, sondern zur Anzeige zu bringen. Die Ereignisse haben Sexualisierte Gewalt aus dem Dunkelfeld heraus in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. 
Es steht außer Frage, dass die ungeheuerlichen Taten aufgeklärt werden und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Die derzeitige Zuspitzung auf die mutmaßliche Herkunft der Täter führt jedoch dazu, dass die Opfer aus dem Blickfeld geraten. Das darf nicht zugelassen werden. Frauen sind in besonderem Maße von spezifischen Gewaltformen, wie sexualisierter Gewalt betroffen, die in unterschiedlichen Ausprägungen alltäglich stattfinden. Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Sie zerstört Leben, persönliche und gesellschaftliche Ressourcen und verursacht Kosten in Milliardenhöhe. Denn Gewalt schränkt die Betroffenen in ihrer Entfaltung und Lebensgestaltung ein.
Jeder Mensch hat nach dem Grundgesetz das Recht auf ein gewaltfreies Leben. Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte und Menschenrechte der Betroffenen und muss gesellschaftlich geächtet und bekämpft werden.
Es ist zu begrüßen, dass der Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz  bereits am 14.07.2015 einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes von Frauen vor sexuellen Übergriffen vorgelegt hat, der neue Mindeststandards im Sexualstrafrecht definiert. Insbesondere die Ausweitung der Strafbarkeit auch auf Fälle, in denen das Opfer aus Furcht, wegen Überrumpelung oder fehlender Durchsetzungsfähigkeit keinen Widerstand gegen die Handlung leistet, stellt eine wesentliche Verbesserung gegenüber der aktuellen Gesetzeslage dar und schließt eine Strafbarkeitslücke. Nachdem der Gesetzentwurf über Monate aufgrund der Blockade des Bundeskanzleramtes und des Bundesministerium des Innern (BMI) wegen von dort nicht gesehenem Reformbedarf auf Eis lag, ist er erst Ende Dezember zur Einleitung der Länderabstimmung freigegeben worden und wird nun erst mit unnötig großer Verspätung in Kraft treten können. 

II. Passgenaue Konzepte für verschiedenste Gewaltformen entwickeln, Frauenhilfeinfrastruktur stärken

Herausforderungen, fiskalische Verstärkung

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist ein alltägliches Phänomen in Deutschland und NRW. Dabei treten immer wieder neue Herausforderungen auf, neue Zielgruppen kommen in den Blick, Gewaltformen ändern sich. Auch die Vorfälle in Köln in der Silvesternacht stellen eine neue Qualität der Gewalt dar. Typischerweise ist sexualisierte Gewalt ein Delikt im Nahbereich, der Täter gehört oft zur Familie, zum Freundes-oder Bekanntenkreis. Damit ist sexualisierte Gewalt auch in besonderer Weise tabuisiert, werden Taten bagatellisiert, den Opfern wird nicht geglaubt. Dies ist verstörend und für die betroffenen Frauen besonders traumatisierend. Die Ereignisse von Köln und anderen Städten machen eine genaue Analyse notwendig, um Gewaltschutzkonzepte neuen Gewaltformen anzupassen.
Es ist darüber hinaus notwendig, nicht das generelle Problem von Gewalt gegen Frauen aus dem Auge zu verlieren. Die rot-grüne Koalition hat daher bereits diverse Maßnahmen ergriffen, um Frauen und Mädchen besser zu schützen. So wurden die finanziellen Mittel für den Bereich „Schutz und Hilfe für gewaltbetroffenen Frauen“ in den letzten Jahren insgesamt um rund 7 Mio. Euro erhöht.
Laut der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend veröffentlichten repräsentativen Studie "Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland" erlebte jede 4. Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Übergriffe durch ihren Partner bzw. ihre Partnerin. Laut einer Erhebung der Europäischen Grundrechtsagentur (European Union Agency for Fundamental Rights; FRA) sind sogar etwa ein Drittel der Frauen in den 28 einbezogenen Staaten der Europäischen Union im Laufe ihres Lebens Opfer körperlicher, sexueller und/oder psychischer Gewalt geworden. Diese Zahlen verdeutlichen das auch heute noch erschreckend hohe Ausmaß sexualisierter Gewalt in der EU. Frauen und Mädchen müssen sicher sein können, dass sie von Polizei und Justiz, aber auch von ihrem sozialen Umfeld und in der Öffentlichkeit  ernstgenommen werden.
Darüber hinaus kommt der Frauenhilfeinfrastruktur eine wichtige Rolle zu. Die breite Hilfestruktur in NRW von 62 Frauenhäusern, 58 allgemeinen Frauenberatungsstellen und 47 Fraueninitiativen gegen sexualisierte Gewalt, 8 spezialisierten Beratungsstellen gegen Menschenhandel und 2 Fachberatungsstellen zu Zwangsheirat ist dabei für die Frauen von immenser Bedeutung.
Bei der Erarbeitung des Landesaktionsplans zur  Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen rückt die Landesregierung in einem aufwändigen partizipativen
Verfahren neue Zielgruppen und Gewaltformen in den Fokus. Es geht darüber hinaus um neue Kooperationen (wie z.B. mit der Ärzteschaft) und um die Weiterentwicklung des bestehenden Schutz – Hilfesystems. Die Vorfälle in Köln werden auch im Rahmen des Landesaktionsplans  Niederschlag finden. Es ist gleichermaßen wichtig, die Flüchtlingseinrichtungen in den Blick zu nehmen. Auch hier gilt es, wirksame Gewaltschutzkonzepte durchzusetzen. Alle Frauen und Mädchen, unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus, haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung. Sowohl Ministerium für Inneres und Kommunales (MIK) als auch Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter (MGEPA) haben hierzu bereits Konzepte erarbeitet. In einem gemeinsamen Fachaustausch Ende Januar sollen zudem Optimierungsmöglichkeiten bezüglich Strukturen und Verfahren ausgelotet werden. Darüber hinaus arbeitet MGEPA auf der Grundlage eines Expertinnengesprächs im Dezember 2015 an einer gezielten und adressatinnengerechten Information von Flüchtlingsfrauen über ihre Rechte.

Anonyme Spurensicherung (ASS)

Erfahrungen von Frauenhilfeeinrichtungen, aber auch Untersuchungen belegen, dass von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen und Mädchen häufig im Anschluss an die Gewalthandlung nicht in der Lage oder bereit sind, die Tat anzuzeigen. Unabhängig von Alter und Herkunft geben mehr als die Hälfte der betroffenen Frauen an, aus Scham keine Anzeige erstattet zu haben.
Ohne Strafanzeige können Tatspuren im Regelfall jedoch nicht gesichert werden und stehen entsprechend für spätere Strafverfahren nicht als Beweismittel zur Verfügung. Die mündliche Aussage der Opfer ist ohne weitere Beweismittel für eine Anklageerhebung oft nicht ausreichend. Vor diesem Hintergrund strebt  das Land Nordrhein-Westfalen ein bedarfsgerechtes Angebot zur anonymen Spurensicherung nach sexualisierter Gewalt (ASS) an. Bundesweit einmalig werden, durch eine in Auftrag gegebene Bestandaufnahme in NRW bestehende ASS-Modelle und ausgesuchte Modelle anderer Bundesländer erfasst und wissenschaftlich untersucht. Die Untersuchung wurde Ende des Jahres vorgelegt und wird derzeit ausgewertet. Durch die Förderung einer Landeskoordinierungsstelle und bestehender sowie in Gründung befindlicher ASS-Angebote wird die gerichtsfeste Sicherung von Tatspuren ermöglicht und die Weitervermittlung der betroffenen Frauen an die Beratungsstellen der Frauenhilfeinfrastruktur gewährleistet.  

III: Perspektiven des Gewaltschutzes 

Strafbarkeitslücken bei sexueller Gewalt und Vergewaltigung schließen

Die  Bundesrepublik Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention verpflichtet, alle Formen von vorsätzlicher, nicht einverständlicher sexueller Handlungen unter Strafe zu stellen, wie es Artikel 36 der Konvention vorgibt. Die derzeitige Gesetzeslage entspricht diesen Anforderungen nicht. Daher hat die Landesregierung bereits 2014 im Bundesrat eine Entschließung erwirkt, in dem die Bundesregierung zu einer umfangreichen Reform aufgefordert wird, um die „Strafbarkeitslücken“ zu schließen Diese Einschätzung wurde auch von der Mehrzahl der eingeladenen Sachverständigen in einer Anhörung des Deutschen Bundestags im Januar 2015 bestätigt.
Auch eine Analyse im Auftrag des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe belegt, dass das deutsche Strafrecht das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gegenwärtig nicht ausreichend schützt. Diese Schutzlücke widerspricht  sowohl der Istanbul-Konvention als auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
Die Opfer von sexuellen Übergriffen müssen wissen, dass das Recht auf ihrer Seite ist. Dafür bedarf es insbesondere einer Reform der §§ 177,179 Strafgesetzbuch. Seit Mitte letzten Jahres liegt auf Bundesebene ein Referentenentwurf zur Verschärfung der §§ 177, 179 StGB vor.
Die Vorfälle von Köln machen noch einmal besonders deutlich, dass eine strafrechtliche Erfassung jedweden Verstoßes gegen die sexuelle Selbstbestimmung notwendig ist. Bislang müssen Täter oder Täterinnen Gewalt anwenden, androhen oder eine hilflose Lage der Opfer ausnutzen, damit der Straftatbestand der sexuellen Nötigung erfüllt ist. Werden Frauen belästigt, begrabscht und an Geschlechtsteilen angefasst, gehen die Täter zumeist straflos aus. Denn in der derzeitigen Rechtsprechung ist die Widerstandsleistung der Betroffenen der zentrale Bezugspunkt für eine Strafbarkeit. Es ist nicht hinnehmbar, dass Frauen ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung nicht nur durch erklärten Willen, sondern durch ausreichende Gegenwehr verteidigt müssen. Bei sexualisierter Gewalt muss strafrechtlich gelten: NEIN heißt NEIN!

Rollenbilder hinterfragen – Sexismus bekämpfen

Sexualisierter Gewalt liegen oftmals überkommene Rollenvorstellungen zu Grunde. Alltäglicher Sexismus ist dabei keine Frage von Kultur oder Schicht. Jeden Tag erleben Frauen in Deutschland sexualisierte Gewalt, auch im öffentlichen Raum. Geschlechterspezifische Gewalt hat vor allem mit ungleichen Geschlechterverhältnissen zu tun: Es geht darum, die eigene Macht auszuspielen, die Frauen zu demütigen und sie auf "ihren" Platz zu verweisen. Das ist nicht hinzunehmen. Es braucht einen starken gesellschaftlichen Konsens, Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu ächten.
Wenn jetzt muslimische Männer und Flüchtlinge unter Generalverdacht geraten, ist das falsch. Vielmehr kommt es darauf an, dem alltäglichen Sexismus in unserer Gesellschaft generell zu begegnen. Dazu gehört selbstverständlich auch, das Thema der Geschlechtergerechtigkeit als ein zentrales Thema in die Integrationsarbeit aufzunehmen. Alle Menschen, die in Deutschland leben, ob hier geboren oder zugewandert, müssen die Gleichberechtigung der Geschlechter akzeptieren. Sexismus und daraus resultierende sexualisierte Gewalt ist absolut inakzeptabel und verletzt nicht nur das individuelle Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, sondern auch den Grundkonsens eines freiheitlich demokratischen Rechtsstaates.

Empowerment stärken – Prävention weiterentwickeln

Frauen und Mädchen haben ein Recht darauf, sich selbst stark und sicher zu machen. Frauen und Mädchen müssen dabei unterstützt werden, ihre Rechte und ihre Interessen durchzusetzen. Dazu gehört auch, eigenmächtiges, selbstbestimmtes und selbstbewusstes Handeln zu unterstützen. Selbstbehauptung, Selbstsicherheit und Selbstverteidigung sind dabei Bausteine, um Frauen und Mädchen zu stärken und Ängste und Hemmungen abzubauen. Frauen und Mädchen dürfen sich nicht als Opfer fühlen, sondern haben das Recht, ihr Leben frei von Angst vor Gewalt zu leben. Empowerment und Selbstbehauptung sollen Frauen und Mädchen dabei unterstützen, die eigenen Grenzen deutlich zu machen und im Falle eines Übergriffes den Mut aufzubringen, den Täter/die Täterin tatsächlich anzuzeigen. Frauen und Mädchen sollen hierdurch in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt werden. Hier bieten die Frauenhilfestruktur sowie Sportvereine und –verbände bereits ein breites Angebotsspektrum.
Aber auch Jungen und Männer müssen in den Blick genommen werden. Gendersensible Jungenarbeit kann Jungen dabei unterstützen, gesellschaftlich angebotene Entwürfe von Männlichkeit (und Weiblichkeit) zu reflektieren. Nur so erhalten sie die Möglichkeit, selbstverantwortlich mit ihrem eigenen Rollenverständnis umzugehen und dieses zu erweitern. Unter diesen Voraussetzungen kann die Geschlechterdemokratie mit Leben gefüllt und ein die sexuelle Selbstbestimmung und Identität wahrender gesellschaftlicher Genderdialog angestoßen werden.

Der Landtag stellt fest:

Jede Form von Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist eine Menschenrechtsverletzung.
Sexismus und Diskriminierung bilden den Nährboden für sexualisierte Gewalt. Dies gilt es als Problem zu erkennen und gesamtgesellschaftlich zu bearbeiten.
Die Rechte von Frauen dürfen (von Rechtspopulisten) nicht instrumentalisiert werden, um gezielt gegen einzelne Bevölkerungsgruppen zu hetzen. Dem gilt es entschieden entgegen zu treten.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema sexualisierte Gewalt ist eine gesamtgesellschaftliche und ressortübergreifende Aufgabe.
Auch eine effiziente Gewaltprävention bedarf der kontinuierlichen Überprüfung. Sexualisierte Gewalt darf nicht nur dann Gegenstand der Debatte sein, wenn vermutet wird, dass die Täterinnen und Täter einem anderen Kulturkreis entstammen. 

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

Sich über den Bundesrat dafür einzusetzen, dass bestehende Gesetzeslücken bei sexualisierter Gewalt geschlossen werden und die sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland voraussetzungslos geschützt wird.
Das Bewusstsein und die Sensibilisierung für sexuelle Übergriffe gegen Frauen gesamtgesellschaftlich zu stärken und eine Kultur zu fördern, die alltäglichem Sexismus keinen Raum lässt. Insbesondere die Strafverfolgungsbehörden, die häufig erste Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Opfer sind, müssen auch weiterhin sensibel reagieren, um langfristig eine Veränderung im Hinblick auf das Anzeigeverhalten zu erzielen.
Gewaltschutzkonzepte in Flüchtlingseinrichtungen zu etablieren
Geflüchtete Menschen umfassend über die in Deutschland grundgesetzlich verankerte Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu informieren und die diesbezüglich bereits begonnen Arbeiten fortzuführen sowie dies zum selbstverständlichen Teil der Integrationskurse zu machen. 
Die Arbeit der Frauenberatungsstellen und -notrufe weiter zu stärken und Informationen über Hilfeangebote weiter zu verbreiten.
Sexualisierter Gewalt präventiv mit Hilfe von geschlechtersensibler Pädagogik entgegen zu wirken. Durch gendersensible Angebote in KiTa, Schule und der außerschulischen Jugendarbeit wird es Kindern und Jugendlichen ermöglicht, Geschlechterrollen und –sterotype sowie die Bedeutung von Sprache kritisch zu hinterfragen.