Digitalen und stationären Einzelhandel zusammendenken – Innerstädtische Quartiere und ländliche Räume brauchen Vielfalt und Versorgungssicherheit

Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen

I. Sachverhalt

In der öffentlichen Debatte über die zunehmende Digitalisierung des Handels stehen in erster Linie die Bedrohungen und Risiken für den stationären Einzelhandel und somit für die Innenstädte im Vordergrund. 20 Prozent der Innenstadtbesucherinnen und Innenstadtbesucher in Deutschland geben aktuell an, verstärkt online zu bestellen und somit im Vergleich zu früher seltener in die Innenstadt zu fahren. Zwei Drittel der Händlerinnen und Händler berichten von sinkenden Frequenzen an ihrem Standort. Die Folgen sind bereits heute in vielen Fußgängerzonen dauerhafte Leerstände oder Unternutzungen. In ländlichen Räumen sorgt außerdem der demografische Wandel vielerorts für einen Rückgang der Nachfrage und setzt dort den Einzelhandel unter Druck. Das kann bis zum Zusammenbruch örtlicher Versorgungsstrukturen führen.
Der stationäre Einzelhandel überzeugt in vielen Fällen durch eine sofortige Verfügbarkeit der Waren, unkomplizierte Umtauschmöglichkeiten und kompetente Beratungsangebote, für den Online-Handel spricht hingegen die Einfachheit des Einkaufens von zuhause aus, die Preisvergleichsmöglichkeit und die große Auswahl. Somit ergeben sich für beide Verkaufskanäle Vorteile für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
In dem insgesamt stagnierenden Markt ist der Konkurrenzdruck besonders hoch und der Kampf um Marktanteile besonders intensiv. Der Vormarsch des Online-Handels ist zwar nicht der ausschließliche Grund für den Strukturwandel im Einzelhandel, wirkt in diesem Zusammenhang aber stark beschleunigend.
Dabei können bei einer Verknüpfung von Online-Handel und klassischem stationären Einzelhandel, einem sogenannten Multi-Channel-Vertrieb, der Umsatz des Handels gesteigert und beide Vertriebskanäle gestärkt werden, wenn es gelingt, nahtlose Übergänge zwischen analoger und digitaler Einkaufswelt zu schaffen. Ergebnis einer solchen Innovation des Handels wäre eine nachhaltige Verbesserung der Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit durch konstruktives Zusammenwirken der jeweiligen Akteure.
Gelingt außerdem auch auf der digitalen Plattform eine Verknüpfung von Einzelhandel mit ehrenamtlichen Quartiersaktivtäten, wie sie in Innenstädten durch Geschäftsstellen von Wohlfahrtsverbänden oder Quartiersmanagement zu finden sind, können sich die positiven Effekte geringer Zugangshürden und eines umfassenden Angebots im kommerziellen wie auch im ehrenamtlichen und öffentlichen Bereich gegenseitig verstärken.
Allerdings wird dieser Wandel hin zu Multi-Channel-Verkaufskonzepten Unterstützung brauchen: speziell für den alteingesessenen, inhabergeführten Einzelhandel bedeutet dieser Wandel im Vertrieb eine große Herausforderung, der ohne entsprechende Unterstützung und Beratung kaum zu bewältigen ist. Zugleich ist es gerade diese Gruppe von Händlerinnen und Händler, die mit ihren Geschäften in den nordrhein-westfälischen Innenstädten ein hohes Maß an Aufenthaltsqualität sichern. Für die Entwicklung ländlicher Kommunen ist die Aufrechterhaltung einer Nahversorgung durch den Einzelhandel ein wichtiger Aspekt für den Erhalt von Attraktivität und Lebensqualität. Schon seit den 1970iger Jahren sind immer größere Entfernungen von Wohnort zur nächsten Einkaufsmöglichkeit festzustellen. Studien wie die Bevölkerungsbefragung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zeigen, dass in Kleinstädten, Landstädten und ländlichen Gemeinden die fußläufige Erreichbarkeit einer Einkaufsmöglichkeit des täglichen Bedarfs von 93 Prozent im Jahr 1990 auf 75 Prozent im Jahr 2010 zurückgegangen ist.
Die Förderung digitaler Einzelhandelskonzepte hat insofern sowohl eine wirtschafts- als auch eine stadtentwicklungs- und sozialpolitische Dimension.
In Wuppertal hat sich das Modellprojekt „Online City“ gegründet mit dem Ziel, die traditionellen Einzelhandelsstandorte und -formen zukunftsfähig und für die Bürgerschaft langfristig attraktiv weiterzuentwickeln. Dazu soll die Servicekompetenz des stationären Einzelhandels mit den Vorteilen des Online-Handels verknüpft werden, damit beide Bereiche voneinander profitieren können.
Um dies zu verwirklichen, werden beispielsweise in der Wuppertaler Innenstadt in enger räumlicher Konzentration mehrere Onlinehandels- bzw. Dienstleistungsunternehmen angesiedelt. Durch zentrale Vermarktung sowie ergänzende, ebenfalls räumlich konzentrierte Dienstleistungs- und Serviceangebote werden Synergieeffekte für Anbieter und Kunden geschaffen. Zugleich soll der lokale Einzelhandel mit Schulungen und einem breit gefächerten Beratungsangebot motiviert werden, das eigene Angebot um Online-Komponenten als ergänzende Vertriebs- und Kommunikationskanäle zu erweitern. Gleichzeitig kann dieser auf die neuen zentral geschaffenen Serviceangebote zurückgreifen (Abhol- und Rückgabestelle, Drive-in-Schalter, Service für Same Day Zustellung u. ä.). Durch solche Onlineportale können zudem weitere quartiersbezogene Kooperationen angeregt und für die Bewohnerinnen und Bewohner sichtbar gemacht werden.
Am 3. November findet in Wuppertal der „local commerce congress“ statt, der die Online-City Wuppertal und ihre ersten Ergebnisse vorstellt.
Mit „Mönchengladbach bei ebay“ ist ein ähnlich gelagertes Projekt in der Stadt Mönchengladbach an den Start gegangen, das aus der Studie „mg.retail 2020“ entstanden ist. Es verfolgt das Ziel, den Einzelhandel in den städtischen Quartieren zukunftsfähig zu machen.
Um die bisherigen Grenzen zwischen Online- und Offline-Handel zu schließen, braucht es innovative und kreative Lösungsansätze. Hierfür sollten modellhaft unterschiedliche Projekte in Nordrhein-Westfalen initiiert und unterstützt werden, die eine möglichst optimale Übertragbarkeit der Ergebnisse und Erfahrungen auf andere Städte in NRW ermöglichen. Dabei kommt es auf eine frühzeitige Einbindung der jeweils relevanten Akteure vor Ort, aber auch des Einzelhandelsverbandes, der Industrie- und Handelskammern sowie der Wissenschaft an, um alle vorhandenen Erfahrungen und Kompetenzen im Rahmen eines »Praxistest« nutzen und auswerten zu können.

II. Der Landtag beschließt:

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  • unter Federführung des MWEIMH und Einbindung des MBWSV, des MKULNV, der kommunalen Spitzenverbände, der Industrie- und Handelskammern und des Einzelhandelsverbandes einen Projektaufruf vorzubereiten und zu starten, in dessen Rahmen modellhaft und zeitlich begrenzt in jedem der fünf Regierungsbezirke des Landes ein Projekt zur Verknüpfung von stationärem Einzelhandel und Online-Handel durchgeführt wird, mit dem Ziel,
  • die Zukunftsfähigkeit des standortgebundenen Einzelhandels durch Motivation und Know-How-Transfer zu befördern.
  • die Attraktivität und Funktionalität der Innenstädte und der Mittelzentren im ländlichen Raum zu fördern und Angebote für die Versorgung in den ländlichen Räumen zu entwickeln.
  • bei der Auswahl der Städte deren unterschiedliche Größen und die unterschiedlichen Anforderungen von urbanen Zentren und ländlichen Räumen zu berücksichtigen.
  • bei der Auswahl der Projekte außerdem auf eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Kommunen zu achten und eine Verknüpfung mit weiteren quartiersbezogenen Kooperationen (z.B. Feste, Märkte, ehrenamtliche Angebote, Aktivitäten des Quartiersmanagements) anzustreben.
  • die Durchführung und anschließende Auswertung der Projekte unter Mitwirkung der Einzelhandelsverbände sowie der Industrie- und Handelskammern erfolgen zu lassen.
  • eine wissenschaftliche Begleitung sicherzustellen.