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Monika Düker (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gab es im letzten Jahr noch eine jährliche Verdoppelung der Zugangszahlen von Asylsuchenden nach Deutschland und auch nach NRW, werden wir in diesem Jahr eine Vervierfachung, vielleicht sogar eine Verfünffachung der Zugangszahlen erleben. Kamen vor sieben Jahren noch 5.000 bis 7.000 Flüchtlinge pro Jahr nach Nordrhein-Westfalen, sind das jetzt die Zahlen pro Woche. Ja, diese Zahlen fordern alle unheimlich. Sie bringen alle an den Rand der Leistungsfähigkeit. Aber hier sind – das will ich sagen – alle an den Rand der Leistungsfähigkeit gelangt: das Land, die Hilfsorganisationen, die Kommunen und auch der Bund.
Wie reagiert jetzt Politik? Wir haben die Situation nun häufig genug in Reden beschrieben. Was zeigt hier die Debatte? Leider – das konnten wir heute auch wieder par excellence von der CDU erleben – ergeht sich Politik, lieber Herr Laschet, hier in altgewohnten Reflexen:
Erster Reflex – ganz beliebt – ist das Schwarze-Peter-Spiel. Immer ist der jeweils andere – natürlich möglichst im anderen politischen Lager oder auf einer anderen politischen Ebene – schuld. Wenn der nur alles richtig machen würde, wäre alles gut. Dabei geht es um ein Organisationsversagen der Landesregierung, und es wird gesagt: Die Kommunen sind die Armen. Der Bund macht alles prima. Und wenn Armin Laschet Ministerpräsident wäre, dann würde das hier aber mal richtig gut klappen.
(Beifall von der CDU – Zuruf von der CDU: Ganz genau!)
Herr Laschet, das nimmt Ihnen niemand mehr ab. So billig kommen Sie hier nicht davon! Das funktioniert nicht!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Leider reihen sich bei diesem Schwarze-Peter-Spiel – ich muss es leider sagen; das darf ich hier als Grüne auch – auch Sozialdemokraten ein. Der Oberbürgermeister von Dortmund ist heute schon oft zitiert worden. Was er mit seiner Erstaufnahme macht, funktioniert so auch nicht. Ja, es kommen fast 80 % der Flüchtlinge nach Dortmund, weil die Leute wissen, dass sich dort eine Erstaufnahme befindet. Ja, sie stehen vor der Tür und können nicht aufgenommen werden. Vielleicht aber, liebe Stadt Dortmund, nimmt man eher als erstes den Hörer in die Hand und bespricht sich mit dem Innenministerium, als die Presseerklärung dazu zu schreiben, um genau zu wissen, wer hier versagt hat. – Nein, das Land schickt der armen Stadt Dortmund nicht die Flüchtlinge. Nein, das Land ist hier nicht schuld. Vielleicht setzt man sich zusammen, macht einen Round Table, bespricht die Probleme und findet dann auch Lösungen.
Der zweite Reflex besteht in dem guten alten Prinzip Abschreckung: weniger Taschengeld, Sachleistungen. Arbeitsmarktzugang? – Fehlanzeige! Das wird erst einmal erschwert. Es hat ja einen Pull-Effekt. Weiter geht es dabei um die Wiedereinführung von Visa. Und jetzt kommt die ultimative Zauberformel der CDU in der Überschrift Ihres Antrages: Die sicheren Herkunftsländer müssen her. Das wird – Sie haben das jetzt auch noch einmal gesagt – mit der vollmundigen Behauptung – ich weiß gar nicht, woher Sie die eigentlich nehmen – verbunden: Wenn wir das alles machen, dann kommen die schon nicht mehr. Ich meine, der Zaun in Ungarn zeigt ja gerade, wie solche Systeme funktionieren: nämlich gar nicht.
Lieber Herr Laschet, ich glaube, mit diesen alten Reflexen überlebt man – das sei Ihnen zugestanden – die nächste Talkshow, die nächste Debatte – da kann man einmal richtig auf den Putz hauen – oder das nächste Zeitungsinterview. Ich kenne sie im Übrigen aus den 90er-Jahren. Damals war ich Kommunalpolitikerin und habe damals angesichts der steigenden Zahlen genau dieselben Reflexe erlebt. Es war genau dasselbe Muster, was Sie auch hier wieder an den Tag legen. Das eignet sich für die Talkshow, aber das eignet sich nicht, Herr Laschet,
(Armin Laschet [CDU]: Die Grünen machen eine andere Politik in Hessen!)
Probleme zu lösen. Vor allen Dingen lenken Sie mit diesen alten Reflexen davon ab. Das sage ich hier auch noch einmal ganz klar, vielleicht auch selbstkritisch in die eigene Richtung. Wir sollten uns mal alle an die eigene Nase fassen, ehrlich eigene Versäumnisse eingestehen, Verantwortung übernehmen, Realitäten anerkennen und vor allen Dingen wirksame, vielleicht auch schwierigere, kompliziertere Lösungen gemeinsam mit nach vorne bringen. Und die gibt es. Es gibt Antworten und Ansätze, die man aber besser gemeinsam in dieser Situation findet.
Zunächst zum Problem der Strukturen: Ja, ich habe die Zahlen gerade genannt. Unsere Aufnahmekapazitäten sind nicht auf diese steigenden Zahlen eingestellt. Das ist so. Das hätte man vielleicht früher wissen können, ja, vielleicht auch Sie, als Sie Unna-Massen geschlossen haben. Aber das mache ich Ihnen hier auch nicht zum Vorwurf, weil uns das nämlich nicht weiterbringt. Wir müssen diese Strukturen ausbauen, und das – das gehört zur Ehrlichkeit – wird dauern.
Wenn Sie sich jetzt hinstellen und jede Woche eine neue Zahl, was das Land an Erstaufnahmekapazitäten braucht, in den Raum stellen, 30.000, 40.000 oder 50.000 – Herr Kuper sagt, das haben wir doch schon immer gesagt, es müssen mehr sein –: Da ist doch kein Dissens. Ich glaube, wir sollten uns auch nicht über die Zahl der Plätze streiten. Es geht darum, Ziel muss sein, dass in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes tatsächlich die Menschen so lange bleiben können – nicht nur um ihr Asylverfahren abzuwarten, sondern auch um anzukommen, um hier eine Verfahrensberatung zu bekommen, um zur Ruhe zu kommen, ja, auch ihr Asylverfahren abzuwarten, wenn der Bund denn dafür die Stellen zur Verfügung stellt. Das ist doch ein gemeinsames Ziel.
Ob das 30.000, 40.000 oder 50.000 sind: Herr Laschet, diese Zahlen bringen uns überhaupt nicht weiter. Im Ziel sind wir uns, denke ich, einig. Das heißt, wir brauchen diese Strukturen. Sie werden so schnell nicht ausgebaut – weder auf Landesebene noch auf kommunaler Ebene. Das ist so. Das sollten wir gemeinsam auch ehrlich den Menschen sagen.
Aber – und jetzt kommt die gute Nachricht dabei; das sagen nicht nur wir Grünen, sondern das sagen uns alle Statistiker ich zitiere eine Überschrift gestern aus dem „Pressespiegel“ –: Die Asylsuchenden von heute sind die Steuerzahler von morgen.
Ja, wir brauchen diese Menschen, und zwar alle. Wir können sie sehr gut gebrauchen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Die Demografie-Enquetekommission hat uns das schwarz auf weiß, im Übrigen interfraktionell – was will man mehr? –, als Erkenntnis geliefert: wenn – das können wir tatsächlich als Chance begreifen – wir politisch die richtigen Weichen stellen.
Herr Laschet, 2006 haben Sie etwas ganz Kluges gesagt – ich habe es noch einmal gegoogelt; das kann man alles nachlesen –, nämlich:
„Die Union sollte sich von der These verabschieden, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Diese These war schon immer falsch. Das war eine Lebenslüge.“
Herr Laschet, heute stellen Sie sich hierhin und sagen: Ja, und wir brauchen auch ein Einwanderungsgesetz. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Einsicht! Nur dieser Einsicht folgt keine reale Politik durch Ihre Partei. Das ist doch das Problem.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Ihre Kanzlerin, Ihre Vorsitzende hat jetzt zu der aktuellen Debatte gesagt: Einwanderungsgesetz ist für uns kein aktuelles Thema. – Dann setzen Sie sich bitte mit dieser Einsicht in der CDU durch. Denn leider haben Sie außer dieser Rhetorik nicht viel Durchsetzungsvermögen, muss ich feststellen, denn Ihre Partei verschanzt sich.
Stichwort „Lebenslüge“ von damals: Sie begehen den Fehler, dass Sie sich wieder hinter einer neuen Lebenslüge verschanzen, nämlich dass man – Herr Kuper hat es gerade wieder gesagt – diesen neuen Migrationsbewegungen nur mit dem Asylrecht begegnen kann, ansonsten gibt es nichts. Und wer hier nicht unter das Asylrecht fällt, den – siehe Abschreckungsrhetorik – schieben wir schnell wieder ab. Dann ist das Problem gelöst. So funktioniert es eben nicht. Das Asylrecht ist keine Antwort auf die Probleme, die wir auf dem Westbalkan haben. Aber vielleicht – ich habe heute Morgen den Reden bei der Trauerfeier für Wilhelm Lenz sehr aufmerksam zugehört – brauchen wir in der CDU ein bisschen mehr Modernisierungswillen wie die eines Wilhelm Lenz, der in den 70er-Jahren sehr wegweisende Erkenntnisse hatte. Vielleicht hätte er zu dieser ganzen Frage eine etwas pragmatischere Ansicht als das, was die CDU derzeit zu bieten hat.
Wir brauchen weniger Zaudern und Zögern, weniger „ja, aber“-Politik, Herr Laschet, sondern mehr Lösungen. Mit „ja, aber“ meine ich: Ja, die sollen hier arbeiten, drei Monate, dann dürfen sie arbeiten, aber Deutschkurse kriegen sie nicht,
(Armin Laschet [CDU]: Wer sagt denn das? Wer erzählt denn so einen Quatsch?)
damit sie überhaupt einen Arbeitsplatz bekommen. Während des Asylverfahrens – das dauert leider gerade sehr lange; siehe BAMF-Problematik – haben Flüchtlinge in unserem Land keinen Anspruch auf einen Deutschkurs. Das ist so. Alle Anträge mit diesen Forderungen, die wir im Bundesrat mit Nachdruck gestellt haben, wurden abgelehnt. Oder: Ja, arbeiten sollen sie auch, aber die bürokratische Barriere Vorrangprüfung bleibt – 15 Monate.
(Zuruf von Armin Laschet [CDU])
Haben Sie schon einmal einen Flüchtling gefragt, was das heißt, wie so eine Vorrangprüfung abläuft, wenn er einmal einen Arbeitsplatz gefunden hat? Das dauert vier Wochen, dann ist der Arbeitsplatz meistens weg.
Ja, die jungen Flüchtlinge sollen hier eine Lehre machen. Ja, das haben sie im Bundestag endlich zugestanden. Aber danach, selbst wenn der Arbeitgeber sagt, wir brauchen diesen jungen Menschen, soll, wenn der Asylantrag abgelehnt wurde, der junge Mensch mal ganz schnell wieder verschwinden.
(Armin Laschet [CDU]: Stimmt doch gar nicht, ist doch alles Quatsch!)
Das ist das Gegenteil von pragmatischer Einwanderungspolitik, die Sie hier rhetorisch anmahnen, Herr Laschet.
(Beifall von den GRÜNEN)
Das sind Fakten, Herr Laschet.
(Armin Laschet [CDU]: Das sind keine Fakten!)
Sie müssen sich mit denen auch einmal konfrontieren lassen. Natürlich sind das Fakten. Ihre Fraktion hat im Bundestag den Antrag abgelehnt, dass jugendliche Flüchtlinge, die erfolgreich eine Lehre hier abschließen, aber keinen anerkannten Asylstatus haben, danach nicht abgeschoben werden. Sie haben es nicht zugestanden, dass diese Flüchtlinge hier ein Bleiberecht bekommen.
(Armin Laschet [CDU]: Das hat die SPD gemacht!)
Das Umswitchen im Kopf ist das, was bei Ihnen fehlt, dass ein Asylsuchender auch tatsächlich ein Einwanderer sein kann und vielleicht auch für unsere Gesellschaft ein Gewinn sein kann.
(Beifall von den GRÜNEN)
Es ist nach wie vor für einen Asylsuchenden unmöglich, von seinem Asylantrag, der abgelehnt wird, zu einem Einwanderer zu werden und vielleicht einen Einwanderungsantrag zu stellen. Ich könnte weitere Beispiele dieser „Ja, aber“-Politik aufzählen. Sie verweigern sich nach wie vor diesem Gedanken. Sie erhalten diese neue Lebenslüge weiterhin aufrecht: Hier darf keiner rein. Asyl ja – aber der Rest bleibt bitte vor den Toren, auch wenn wir sie gebrauchen können, und auch, wenn wir diesen Migrationsdruck haben.
Zusammenfassend lässt sich sagen:
Erstens. Beim Asyl brauchen wir schnellere Entscheidungen. Es kann nicht sein, dass wir Menschen jahrelang – und es sind inzwischen Jahre! – auf ihre Entscheidung warten lassen. So können diejenigen, die bleiben dürfen, nicht integriert werden; und diejenigen, die gehen müssen, haben keine sichere Perspektive, was mit ihnen passiert. Dann ist nachher die Abschiebung umso brutaler.
Ja, wir brauchen schnellere Entscheidungen durch das Bundesamt, und wir brauchen endlich Integration von Anfang an. Das heißt, mit der Asylantragstellung muss geschaut werden: Was kann dieser Mensch? Was braucht er? Welche Bedarfe hat er? Was bringt er mit? Da muss sofort ein Integrationsplan erstellt werden, und dann müssen die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Zweitens: Westbalkan. Ja, hier liegt die Anerkennungsquote bei unter 1 %. Aber die Realität sieht doch so aus: Die Menschen werden sich diese Wege weiter bahnen – als sicher eingestufte Herkunftsländer hin oder her. Wir sollten diese Einwanderung nicht leugnen, sondern wir sollten sie steuern und gestalten. Wir sollten sie außerdem als Chance für uns nutzen und diesen Menschen legale Wege nach Deutschland und nach Europa aufzeigen.
Das sollte uns nicht davon abhalten, vor der Tür der Europäischen Union einmal auf die Fluchtursachen zu schauen. Die Innenausschusssprecher waren in diesem Sommer mit dem Innenminister im Kosovo. Dort haben wir uns sehr eindrücklich informieren können, was denn die Fluchtursachen eigentlich sind.
Viele Flüchtlinge wissen sogar, dass sie nicht hierbleiben können. Aber angesichts der absoluten Perspektivlosigkeit in ihren Ländern sagen sie: Wir versuchen es mal. Ich möchte für meine Kinder eine andere Zukunft haben. Wenn auch nicht für mich, so möchte ich für meine Kinder eine Perspektive aufzeigen.
Warum? – Weil dort nach wie vor keine staatlichen Strukturen existieren, weil dort nach wie vor eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht. Die EU bekommt vielleicht so etwas wie Bankenkrisen in den Griff, aber direkt vor ihrer Haustür verhandelt sie mit Beitrittskandidaten und schafft es nicht, diese Kandidaten – ich sage es mal so – dazu zu zwingen, ihre Beitrittsperspektiven nicht nur unter der Bedingung eines ausgeglichenen Haushalts zu stellen. Vielmehr müsste die Beitrittsperspektive für die Westbalkanländern auch darin bestehen, dort die Korruption effektiv zu bekämpfen,
(Armin Laschet [CDU]: Was soll das denn jetzt?)
dort die Menschenrechte durchzusetzen und Minderheiten nicht zu diskriminieren.
Auch hier hat die EU noch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen, die sie bislang noch nicht angepackt hat.
(Armin Laschet [CDU]: Beschimpfen Sie hier doch nicht die EU!)
– Herr Laschet, mehr Pragmatismus!
(Zuruf von Armin Laschet [CDU])
Wir brauchen das alles, aber nicht mit neuen Lebenslügen, die Sie hier aufbauen. – Danke schön.
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der Regierungsbank)