Sigrid Beer: „Inklusion ist kein Zustand, Inklusion ist ein Prozess“

Antrag der FDP auf Aktuelle Stunde zum Thema Inklusion

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere und freue mich, dass der FDP-Bundesvorsitzende heute Morgen auch mal anwesend ist.
(Zuruf von der FDP: Oh!)
Ich zitiere:
„Wir sind eine andere Opposition. Wir reden das Land nicht schlecht, um gut dazustehen.“
(Josef Hovenjürgen [CDU]: Sie handeln schlecht!)
„Wer sich vor der Angst vor Risiken lähmen lässt, der wird keine Chance ergreifen.“
(Josef Hovenjürgen [CDU]: Sprechen Sie doch mit den Lehrern, Frau Beer!)
Und nicht zuletzt das Wichtigste:
„Die erste Reform, die wir unserem Land empfehlen, ist eine Reform der Mentalität.“
Das sind ja wohl hohle Sprechblasen einer neulackierten FDP, die belegen, dass Sie reine Phrasenpolitik betreiben.
(Zuruf von der FDP)
Schauen Sie sich doch den Antrag zu der heutigen Aktuellen Stunde an. Sie reden das Land schlecht, ohne sich auch nur mit einem kurzen Blick an den Fakten aufzuhalten.
(Zuruf von Christian Lindner [FDP])
Sie blenden aus, dass das Land über eine Milliarde € in den Inklusionsprozess investiert hat und damit mehr als 3.200 Lehrerstellen zusätzlich in die Schulen bringt,
(Beifall von den GRÜNEN)
2.500 Plätze für Zusatzqualifikationen geschaffen hat, 2.300 neue Studienplätze, 300 Moderatorinnen für die Fortbildung weiterqualifiziert hat und mehr als hundert Inklusionskoordinatorinnen und Fachberatung zur Verfügung stellt.
100 Millionen € für Aus-, Fort- und Weiterbildung in diesem Land! Sie jedoch haben in der Zeit von 2005 bis 2010 nicht das Gelbe unter dem Fingernagel investiert, um auch nur einen Sonderpädagogen oder eine Sonderpädagogin mehr auszubilden!
(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)
Was ist denn Ihre Bilanz? – Da schaue ich auch den Kollegen Kaiser an. – 10.000 Lehrerstellen wurden gestrichen. Und Sie reden heute von den Bedingungen in der Schule? Sie sollten sich schämen!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])
Wir haben dafür gesorgt, dass wir 9.500 Stellen im System behalten. Diese Stellen werden für die Rahmenverbesserungen zur Verfügung gestellt und gehen in den Inklusionsprozess hinein. Und Sie haben keinen Pfifferling aufgewendet. Unsere Bilanz kann sich im Vergleich durchaus sehen lassen.
(Josef Hovenjürgen [CDU]: Sie sprechen nie mit den Betroffenen!)
Tausend Stellen waren haushaltswidrig nicht ausfinanziert, als wir die Landesregierung übernommen haben, Herr Hovenjürgen. Waren Sie nicht dafür mitverantwortlich? Ich sage nur: Verstoß gegen das Landeshaushaltsgesetz, Stellen nicht ausfinanziert – das ist reine Makulatur, reine Inszenierung.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD– Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])
Wir haben das Ganze materiell sichergestellt. – Wer von Qualität redet, Kollege Kaiser, der muss auch den Bericht des Landesrechnungshofs noch einmal zur Kenntnis nehmen, was die Qualität der kleinen Förderschulen vor Ort angeht, was die Ressourcensteuerung dort angeht, und wo wir den Prozess jetzt anders angesetzt haben.
Inklusion ist kein Zustand, Inklusion ist ein Prozess. Diesen Prozess steuern wir sehr sorgfältig, und diesen Weg gehen wir. Lähmungen in der professionellen Entwicklung aufbrechen, die Angst vor Veränderungen nehmen – das gehört in den anspruchsvollen Inklusionsprozess hinein. Das spiegelt auch die Umfrage des VBE wider. Darauf werde ich in meinem zweiten Beitrag noch einmal sehr ausführlich eingehen.
Die FDP dreht hier jedoch bewusst die Empörungsschraube, um Stimmung anzuheizen, anstatt an einem Mentalitätswechsel – den Sie doch propagieren, Herr Lindner – wirklich mitzuwirken.
(Beifall von den GRÜNEN und Norbert Römer [SPD])
Eine Reform der Mentalität, wichtigste und erste Reformen – bei der FDP eine hohle Phrase. Wenn wir schon dabei sind, dann will ich nur kurz den Blick auf das lenken, was bei der FDP tatsächlich in den Verpackungen der neuen Bonbonfarben steckt. Wer der FDP das Magenta-Kleidchen auszieht, sieht, dass sich im Inneren eigentlich nichts verändert hat. Da ist sie, unsere FDP, so wie wir sie kennen.
Wenn es nach der FDP geht, dann sortieren sich Lehrer und Schülerschaft demnächst nach neuen Anreizmodellen. Die Lehrer sollen hier mehr verdienen und Schulen dort mehr Geld bekommen, wo die besten Abschlüsse erreicht werden. Das wird sich nach dem kulturellen Kapital der SchülerInnen, die an einer Schule sind, schnell sortieren und besser sortieren. Dann können die Lehrer dort am meisten verdienen, wo die SchülerInnen zu Hause die besten Lernbedingungen vorfinden. Das ist dann beste Lehrerleistung, und dahin fließt das meiste Geld. – Schöne, ach so alte FDP-Welt, die dafür sorgt, dass sich die Welt sozial aufteilt und sich
(Zuruf von Christof Rasche [FDP])
nach dem Matthäus-Prinzip: „Wer hat, dem wird gegeben“, weiter sortiert. Der Rest wird dann durch den Markt geregelt. Das können wir.
(Beifall von den GRÜNEN – Christof Rasche [FDP]: Da toben die GRÜNEN!)
Kommen wir jetzt zu den wichtigen Fragen des Prozesses, der mit dem Ersten Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen systematisch angegangen worden ist, auch zu den Fragen von Einstellungen und Haltungen. 1.333 Lehrkräfte hat der VBE bundesweit befragen lassen, davon 255 aus Nordrhein-Westfalen. Das sind gerundet immerhin 21,8 % der Befragten.
40 % der 255 Lehrkräfte – das ist ein bisschen kompliziert; ich sage es einmal in Lehrerstellen und Köpfen: 90 Lehrer und Lehrerinnen – hatten Erfahrungen mit gemeinsamem Lernen. Ich habe beim VBE nachgefragt, habe aber keine genauere Auskunft darüber bekommen, wie diese Lehrkräfte sich nun auf Schulformen verteilen. Genauso wenig wissen wir, wie lange sie bereits im gemeinsamen Unterricht gearbeitet haben. Herr Beckmann konnte mir das nicht genau sagen. Er sagte, er habe nur diese Daten aus der Veröffentlichung; das sei aber repräsentativ. Dann gehe ich davon einmal aus.
Das bedeutet, dass pro Schulform ca. 11,25 Lehrerinnen und Lehrer befragt worden sind. Wenn sich dann in der einen oder anderen Schulform doch mehr Lehrkräfte am Telefon ausgesprochen haben, dann heißt das, dass es in bestimmten Kategorien sicherlich auch weniger als zehn Lehrkräfte waren, die dazu Auskunft gegeben haben.
Ich will noch auf eine weitere kleine Urschärfe in der Aussagekraft der Ergebnisse hinweisen, nämlich das Thema „Barrierefreiheit von Schule“. Was heißt dann hier „barrierefrei“? Vielleicht ist damit der Klassiker „Fahrstuhl“ gemeint. 44 % sagen, ihre Schulen seien vollständig bis nahezu barrierefrei. Das ist schon einmal eine Hausnummer, die man zur Kenntnis nehmen muss. 55 % sagen: nicht barrierefrei.
Wie groß ist der Anteil von Kindern mit körperlich-motorischen Einschränkungen dann im Rahmen des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs? Der sonderpädagogische Unterstützungsbedarf lag – das möchte ich in Erinnerung rufen – im Schuljahr 2013/2014 bei 7,1 %, davon wiederum bei 7,7 % im Bereich der körperlich-motorischen Entwicklung. Das sind nicht alles Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen. Sie sehen also, wie sich hier die Größenordnungen und Relationen verschieben.
Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit!
Sigrid Beer (GRÜNE): Es scheint sich doch mehr um Alarmismus zu handeln und nicht um ein hilfreiches Nach-vorne-Gehen, um Mentalität zu wandeln, um Angst vor Veränderungsprozessen zu nehmen – ein Prozess, den wir gehen wollen und gehen müssen, und den wir sorgfältig angelegt haben. Dazu aber gerne mehr im zweiten Teil. – Danke schön.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)


2. Runde:

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mit diesen Kindern stimmt etwas nicht“ – selbst wenn das jemand so gesagt haben sollte, finde ich es wirklich fahrlässig, dass Sie so etwas hier als ein Bild von Kindern transportieren. Das gehört sich so nicht! Das sage ich ganz deutlich.
(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zurufe von der CDU und der FDP: Oh!)
Was ist denn Normalität?
(Zurufe von Armin Laschet [CDU] und Josef Hovenjürgen [CDU])
– Das sind wir den Kindern schuldig, nicht in dieser Art und Weise und nicht in den Schulen so zu reden.
(Zurufe von Armin Laschet [CDU] und Josef Hovenjürgen [CDU])
– Herr Laschet, Sie waren mit in der Verantwortung,
(Zuruf von Armin Laschet [CDU])
als Sie das System ausgehöhlt haben, als Sie 10.000 Stellen gestrichen haben etc.
(Armin Laschet [CDU]: Guck doch mal 2015 an!)
Jetzt, im Jahr 2015 – das will ich Ihnen sagen, Herr Laschet –, haben wir dafür gesorgt, dass die Systemressourcen da sind.
Ich will Ihnen einmal erklären, wie das in anderen Ländern aussieht. Das ist doch wohl interessant.
(Josef Hovenjürgen [CDU]: Sie lassen die Leute allein!)
Ich nenne als ein Beispiel eines aus dem Land Brandenburg. Dort sind zurzeit 75 Pilotschulen ausgestattet, die von 2012 bis 2013 …
(Armin Laschet [CDU]: Zahlen, Statistik! Geht doch mal auf Bildung, Menschen, Kinder!)
– Herr Laschet, einfach mal zuhören; das hilft! – Bis 2015 laufen 75 Pilotschulen in Brandenburg.
(Armin Laschet [CDU]: Sie lesen doch nur Statistiken vor! Sprechen Sie doch mal mit den Menschen!)
Dann heißt es: Wie es weitergeht, soll in 2016 entschieden werden.
Solche Wege gehen wir hier nicht. Wir haben diesen Prozess sorgsam angelegt. Und wesentlich ist – die Ministerin hat es gesagt, Herr Laschet –: Wir haben dafür gesorgt, dass Fortbildung in diesem Land neu aufgesetzt wird und alle Lehrer und Lehrerinnen sie in Anspruch nehmen können.
(Armin Laschet [CDU]: Zusatzbildung ersetzt keine Sozialpädagogik! Dafür haben die zehn Semester studiert!)
– Wie bitte? Zusatzqualifikation, Herr Laschet. Zuhören hilft auch!
(Beifall von den GRÜNEN)
2.500 Stellen in der Zusatzqualifikation. Das ist das erste Mal, dass zusätzlich Studienplätze für Sonderpädagoginnen geschaffen worden sind.
(Josef Hovenjürgen [CDU]: Was ist schwierig in den Schulen?)
Da haben Sie doch kläglich versagt. Wir haben es gemacht. Wir stellen den Hochschulen das Geld zur Verfügung. Wir stellen den Schulen über die Inklusionsfachberatung die Beratung
(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])
und die Fortbildungen zur Verfügung. Das ist so wichtig.
Meine Kinder sind im gemeinsamen Unterricht erfolgreich beschult worden. Ich habe alle Höhen und Tiefen eines gemeinsamen Prozesses schon mitgemacht. Deswegen sind wir sehr aufmerksam, was die Sorgen und Befürchtungen von Lehrern in dem Veränderungsprozess angeht. Natürlich muss man das ernst nehmen, natürlich muss man damit umgehen, aber die notwendige Unterstützung ist da. Es geht immer nach dem Prinzip von Maria Montessori: Hilf mir, es selbst zu tun. Das ist genau der Ansatz. So müssen wir arbeiten.
Und das ist genau der Fehler, liebe Kollegin Pieper, dass dieser Ansatz mit Blick auf die Doppelbesetzung so nicht funktioniert, weil dadurch immer das Bild erzeugt wird, dass die Sonderpädagoginnen die Troubleshooter im System sind, die zusätzlich dazukommen müssen.
Es funktioniert und bleibt bei gemeinsamer Unterrichtsentwicklung mit den Kompetenzen der Sonderpädagoginnen, die unverzichtbar sind und natürlich ihre Spezialkenntnisse einbringen. Aber es ist nicht immer überall zu 100 % Doppelbesetzung notwendig.
Meine Kinder haben das auch so erlebt, und sie sind im Unterricht nicht beschädigt worden, sondern es hat sich eine andere Unterrichtskultur entwickelt, in der individuelle Förderung wirklich umgesetzt worden ist. Das ist das Prinzip, auf das wir hinaus müssen. Das wollen wir weiter unterstützen, und das tun wir.
Sie haben doch die Fortbildung in den Sand gesetzt. Sie haben versucht, das Landesinstitut dichtzumachen. Anderthalb Jahre lang haben wir eine Fortbildungsbrache gehabt. Wir setzen das jetzt systematisch auf. 300 Moderatorinnen, fortgebildet, stehen den Schulen zur Verfügung.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
In jedem Kreis stehen die Inklusionskoordinatoren, die Fachberatung, zur Verfügung.
Kollege Kaiser, ich lade Sie nach Paderborn ein. Denn da gibt es ein Beratungshaus, das die Eltern von der Frühförderung über die schulische Laufbahn begleitet, wo sie alle Expertise finden und wo auch die Laufbahnberatung stattfindet.
Das gibt es auch im Bereich der Bezirksregierung Münster. Dort machen die Kreise jetzt dieses gute Modell nach.
(Klaus Kaiser [CDU] unterhält sich mit Abgeordneten von den GRÜNEN.)
Herr Kaiser, kommen Sie mit nach Paderborn, um sich das anzusehen, ja oder nein? Dann können Sie gute Praxis kennenlernen, und die verstetigen wir im Land.
Noch einmal: Inklusion ist kein Zustand, sondern ist ein Prozess. Wenn Sie in den Prozess nicht einsteigen wollen, weil Sie hier noch nicht einmal zuhören, um in den Prozess hineinzukommen, dann ist das Ihre Karte. Aber bitte tun Sie mir einen Gefallen: Reden Sie nicht in dieser Art von „Kindern, mit denen etwas nicht stimmt“.
(Josef Hovenjürgen [CDU]: In Ihrer Politik stimmt was nicht!)
Wir nehmen Lehrer ernst, wir nehmen Eltern ernst, und für uns stehen die Kinder im Zentrum. Wir gehen mit niemandem fahrlässig um.
(Zuruf von Armin Laschet [CDU])
Sie machen den Alarmismus, der die Verunsicherung weiter in das Land trägt. Sie sind heute Morgen Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Josef Hovenjürgen [CDU]: Reden Sie mit den Menschen!)

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