Manuela Grochowiak-Schmieding: „Inklusion bedeutet uneingeschränkte Teilhabe. Wir müssen vermeiden, dass Barrieren überhaupt erst entstehen.“

Unterrichtung der Landesregierung zum Aktionsplan Inklusion

Manuela Grochowiak-Schmieding (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist normal, verschieden zu sein. In der Tat, es ist normal, verschieden zu sein, ob dick, ob dünn, lange Haare, kurze Haare, der eine ist ein Mathegenie, der andere sprachbegabt, der nächste verfügt über eher handwerkliches Geschick. All das ist überhaupt kein Thema in unserer Gesellschaft.
Dazu gehört natürlich auch, die Wahl für unsere Kinder zu treffen, in welche Kita sie gehen. Wir suchen die bestmögliche Schule aus. Wir schauen ganz genau hin: Wo wollen wir wohnen? Wo werden wir arbeiten? Was möchten wir arbeiten? Auch wie wir unsere Freizeit gestalten, ist selbstredend ganz individuell auf uns persönlich zugeschnitten.
Diese verschiedenen Talente, Veranlagungen und Wünsche werden insgesamt toleriert und akzeptiert. All das ist selbstverständlich – allerdings nicht immer.
Die Bereitschaft, dies zu akzeptieren und zu tolerieren, lässt insgesamt nach, wenn Menschen von tradierten, mitunter reichlich konservativen Normen abweichen. Dann sprechen wir von sozialer Armut, von kulturellem oder religiösem Hintergrund, und wir sprechen auch von Behinderung. Das sind Gründe, dass Menschen in ihrer Wahlfreiheit eingeschränkt sind.
Menschen mit Behinderung, das ist heute unser großes Thema. Einst versteckt, verhöhnt, in Irrenanstalten weggesperrt, bei den Nationalsozialisten zwangssterilisiert oder ermordet, hat man sich seit den 1950er-Jahren darauf besonnen, Menschlichkeit ins Spiel zu bringen, und damit begonnen, die Betroffenen nach dem Fürsorgeprinzip zu versorgen.
Wir haben das Kapitel „Schutzraum“ – so will ich es mal nennen – aufgeschlagen. Besondere Räume zur Förderung von Menschen mit Behinderung wurden geschaffen – von der Wiege bis zur Bahre. Man könnte auch sagen: Leben unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Kinder mit einem speziellen Förder- oder einem anderen Unterstützungsbedarf wurden in der frühkindlichen Förderung in heilpädagogischen Kitas untergebracht. Die schulische Bildung hat in besonderen, in Deutschland ganz speziell nach einzelner Behinderungsart ausgerichteten Förderschulen stattgefunden. Anschließend ging es zur Arbeit in die WfbM, in die Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
Menschen, die nicht in ihrer Familie bleiben konnten, wohnten in stationären Einrichtungen. Diejenigen, die innerhalb der Familie leben konnten, mussten tagtäglich lange und weite Anfahrtswege zu den Fördereinrichtungen in Kauf nehmen.
Es gab keine Wahlfreiheit bei eigentlich alltäglichen Dingen. Ich erinnere noch einmal daran: Was für uns alle so selbstverständlich ist – dass wir tagtäglich für uns selbst entscheiden können –, das ist diesen Menschen im Grunde genommen vorenthalten worden.
Natürlich hat sich dann auch Widerstand bei den Betroffenen geregt. Bereits 1977 wurde in Bremen die erste Krüppelgruppe von Horst Frehe und Franz Christoph gegründet. Diese Protestbewegung hatte zum Ziel, auch Menschen mit einem erhöhten oder anderem Unterstützungsbedarf ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Leben zu ermöglichen.
1981 – im Internationalen Jahr der Behinderten, das von großen Protesten begleitet wurde – erreichte diese Protestbewegung ihren Höhepunkt. Die politische Position war übrigens nicht die Forderung nach Integration; vielmehr sollte die nichtbehinderte Öffentlichkeit mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert werden.
Entmündigung, Isolation und die Verhinderung von Integration in die Gesellschaft durch immer neue Gettobildung wurden angeprangert. Das muss man sich einmal reinziehen: So haben es viele Betroffene empfunden, was ihnen da zugemutet wurde.
Im Grunde hat man auch auf die Unfähigkeit der Gesellschaft hingewiesen, auf den sozialen Umgang miteinander, der natürlich – das hat Frau Doppmeier allerdings richtig ausgeführt – auch dadurch begründet ist, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gar nicht mehr zusammenkommen. Wir sind ja getrennt worden.
Ich möchte noch Folgendes ergänzen: Die 80er-Jahre waren die Zeit, als erste alternative Wohneinrichtungen mit Assistenz zu Hause gegründet wurden sowie Beratungseinrichtungen und Vernetzungen der Betroffenen, wie zum Beispiel MOBILE in Dortmund, das heute als Kompetenzzentrum für selbstbestimmtes Leben vom Land gefördert wird.
In dieser Zeit ist also sehr viel durch Selbsthilfe und aus Eigenbetroffenheit heraus entstanden. Wahrscheinlich hat auch das mitgeholfen, dass 1994 unser Grundgesetz in Art. 3 dahin gehend ergänzt wurde: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
2003 wurde dann hier im Land das Behindertengleichstellungsgesetz formuliert, das zunächst den Charakter einer Zielvereinbarung und weniger einen fordernden Charakter hatte. 2009 wurde mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Deutschland das Recht auf Inklusion, das Recht auf uneingeschränkte Teilhabe an allem, was die Gesellschaft zu bieten hat, festgeschrieben und auch in Deutschland als Recht angenommen.
2010 wurde die Umsetzung der Forderungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention in Nordrhein-Westfalen im rot-grünen Koalitionsvertrag festgehalten. 2011 folgte der Antrag hier im Parlament mit der Aufforderung an die Landesregierung, entsprechende Schritte einzuleiten. Als Folge daraus kennen wir nun den Aktionsplan „Eine Gesellschaft für alle – NRW inklusiv“, dessen Fortschreibung uns Herr Minister Schneider gerade vorgestellt hat.
Bewusstsein schaffen und Sensibilisierung für den Inklusionsgedanken – das ist heute schon mehrfach angesprochen worden. Es ist richtig: Wir müssen dieses Bewusstsein und den Inklusionsgedanken allgemein in die Bevölkerung, in Verwaltungen, in Planungsbüros, in alle Institutionen, die unser Gemeinwesen in irgendeiner Form gestalten, um- und aufbauen, hineintragen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Insofern ist es auch richtig, hier entsprechende Werbekampagnen vonseiten des Landes zu fahren. Wir müssen die Betroffenen beteiligen, und das tun wir auch. Ein Zeichen dafür ist, dass in den beiden Kompetenzzentren für selbstbestimmtes Leben das Beratungsangebot landesweit ausgebaut werden soll.
Genau an der Stelle sind die Betroffenen im Boot, denn hier beraten Betroffene Betroffene und können den Menschen dort helfen, wo mitunter die Stellen, die eine Leistung erbringen sollen, versagen.
Die Gesetze müssen im Sinne der UN-BRK angepasst werden. Mit Ihrem Entschließungsantrag haben Sie gefordert – salopp gesagt –, mal ein bisschen auf die Tube zu drücken. Der Antrag hätte zur Folge, dass eine Zeitschiene eingehalten werden müsste, offenbar unabhängig von qualitativer Reife im laufenden Prozess. Das werden wir natürlich ablehnen; das ist uns zu billig, das ist uns zu wenig. Uns kommt es da mehr auf Qualität an.
Die Beschreibung von Aktionsfeldern und Maßnahmen ist ein umfassendes Feld dieses Aktionsplans. In der Tat: Wir haben nicht bei null angefangen; das können wir mit Fug und Recht behaupten. Die Integration und Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung ist ein Prozess, der bereits seit 30 Jahren im Gange ist.
Uns sind heute schon mehrfach Beispiele genannt worden. Ich möchte auch noch auf eines eingehen: die ambulanten Wohnangebote. Ich hatte es eingangs bereits gesagt: Ursprünglich sind Menschen, die nicht zu Hause leben konnten, in stationäre Einrichtungen gekommen. Wir haben jetzt seit etwa zehn Jahren den entsprechenden Prozess beschleunigt, sodass ambulante Wohnangebote oder kleine Wohngruppen gegründet und gefördert werden konnten und können. Wir haben mit den Landschaftsverbänden NRW ganz wichtige Partner im Boot, die bei der Umsetzung sehr gute Arbeit leisten.
Das ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass man den Menschen solche Dinge nicht mit der Brechstange von oben verabreichen kann, nach dem Motto: Jetzt macht mal. – Vielmehr muss man Anreize setzen, damit auf allen Seiten der Wunsch und der Wille gegeben sind, bestimmte Maßnahmen tatsächlich anzugehen.
Die Integrationsfirmen sind ein ebenso gutes Beispiel. Während in den 50er-, 60er-, 70er- und oft auch noch in den 80er-Jahren das Arbeitsgebiet für Menschen mit Beeinträchtigung hauptsächlich in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung – in der WfbM – lag, gibt es jetzt immer mehr Integrationsfirmen, wo diese Menschen Beschäftigung finden. Auch im ersten Arbeitsmarkt bieten sich ihnen immer mehr Möglichkeiten, ein Arbeits- und Erwerbsleben aufzunehmen und so auch für die eigene Alterssicherung vorzusorgen.
Thema „Schule“: Wir haben das Schulrechtsänderungsgesetz. Auch hierzu haben wir einen langen Beratungsprozess und Werdegang hinter uns. Auch hier ist es nicht so, dass wir – wie es manchmal von der Opposition hier dargestellt wird – von heute auf morgen mit der Brechstange ein System umstellen wollen. Das hat zum Beispiel in Italien vor 30 Jahren stattgefunden. Da hat man von heute auf morgen Förderschulen geschlossen und Betroffene in Regelschulen unterrichtet. Inzwischen hat man dort einen 30-jährigen Prozess hinter sich, und auch da hat es – wir haben das im Ausschuss im letzten Jahr erleben dürfen – insgesamt betrachtet eine überaus positive Entwicklung gegeben.
In Deutschland gehen wir einen anderen Weg. Wir hatten 25 Jahre Vorlaufzeit. Aufgrund von Elterninitiativen und Eigeninitiativen sind Möglichkeiten geschaffen worden, Kinder mit Beeinträchtigung auch in der Regelschule zu unterrichten; mit dem Schulrechtsänderungsgesetz haben sie jetzt ein Recht darauf. Und damit haben sie eine begründete, rechtlich festgelegte Wahlmöglichkeit; vorher war eine Wahlmöglichkeit in dieser Form nicht gegeben.
Wir müssen uns natürlich auch überlegen, wo es noch hingehen soll. Jenseits der berechtigten und richtigen Forderung nach einem Bundesleistungsgesetz, das einen bundeseinheitlichen Rahmen für die Eingliederungshilfe in unserem Land geben soll und schnellstmöglich formuliert und umgesetzt werden muss, müssen wir natürlich überlegen: Wie soll es hier in unserem Lande weitergehen?
Inklusion bedeutet uneingeschränkte Teilhabe. Wir müssen vermeiden, dass Barrieren überhaupt erst entstehen. Es reicht nicht, einfach nur an vielen möglichen oder unmöglichen Stellen Fördertöpfe aufzustellen, mit denen ein bisschen Geld für eine kleine Maßnahme zur Verfügung gestellt wird. Ich denke, wir sollten da andere Visionen entwickeln.
Wir müssen uns überlegen: Warum sollen die Normen, die es jetzt schon für barrierefreie Bauten gibt, nicht selbstverständlich und grundsätzlich angewendet werden? Warum werden nicht gleich von vornherein überall – nicht nur in öffentlichen Bauten, sondern generell – breitere Türen gebaut? Warum werden Bäder – oder mindestens eine sanitäre Anlage in den Häusern – nicht generell rollstuhlgerecht gebaut? Das sind Dinge, die wir überlegen und voranbringen müssen, um so später teure Umbauten oder Nachrüstungen zu vermeiden.
Die Betroffenen sollten auch nicht mehr per Einzelantragsverfahren ihr Recht einfordern müssen. Eigentlich sollten sie nur ihren Bedarf anmelden, und die Einrichtungen, in die gehen, sollten die Unterstützungs- und Hilfsmittel selbstverständlich zur Verfügung halten.
Kommunikationshilfen – sie sind heute schon mehrfach angesprochen worden – sind sicher richtig. Ich glaube aber, dass wir da generalistischer denken müssen. Es reicht nicht, ein paar tausend Euro zur Verfügung zu stellen und immer nur auf Antrag für einzelne Sitzungen Hilfe zu leisten. Wir müssen sehen, dass wir Menschen im System heranziehen, die zum Beispiel die Gebärdensprache können. Was hindert uns daran, in der Kita, in der Schule und an der Hochschule deutsche Gebärdensprache, die als offizielle Sprache in Deutschland anerkannt ist, zu lehren?
Also: Wir müssen die Situation vom Kopf auf die Füße stellen. Die Betroffenen haben ein Recht auf Teilhabe, auf selbstbestimmtes Leben. Die Institutionen müssen sich entsprechend einrichten.
Ich möchte mit einem kleinen Zitat des Diplom-Betriebswirts und Analytikers Rainer Stawski enden: „Visionen sind die Leitbilder der Gegenwart“, und in der Zukunft werden sie umgesetzt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall von den GRÜNEN)

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