Sprachliche Bildung geschieht im Alltag – Sprachförderung im Elementarbereich neu ausrich-ten

Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Die sprachliche Entwicklung des Kindes steht neben der motorischen Entwicklung, dem Erwerb sozialer Kompetenzen und der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten im Zentrum elementarer Bildungsarbeit. Sie bildet eine wesentliche Grundlage für eine gelingende Bildungsbiographie. Sprachlicher Bildung in der frühen Kindheit ist daher besondere Aufmerksamkeit zu widmen, alle Kinder brauchen sie. Sprachliche Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln sich aber nicht von selbst, sie werden angeeignet unter bestimmten kommunikativen, interaktiven,  sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen.

Die Träger von Kindertageseinrichtungen stehen in der Verantwortung, in ihren pädagogischen Konzepten grundständige und alltagsintegrierte Sprachbildung für Kinder unabhängig von ihrem Alter vorzusehen. In Zeiten, in denen Kinder immer jünger in die Kindertageseinrichtungen kommen, setzt nach heutigem Verständnis ein Sprachstandsfeststellungsverfahren zwei Jahre vor der Einschulung viel zu spät an. Alltagsintegrierte sprachliche Bildung, die zudem das einzelne Kind in den Blick nimmt, kann einen Beitrag dazu leisten, dass mögliche Defizite in der Sprachentwicklung gar nicht erst entstehen. Dies gilt auch für Kinder mit zusätzlichem Unterstützungsbedarf beim Spracherwerb. Sprachstands-Diagnostik und die daraus folgenden für das einzelne Kind konzipierten zusätzlichen Sprachfördermaßnahmen sollen auf der Grundlage der pädagogischen Gesamtkonzeption aus einer Hand und alltagsintegriert durchgeführt werden. Die heute noch häufig eingesetzten zusätzlichen Sprachfördermaßnahmen, die losgelöst von der kindlichen Lebenswirklichkeit einem festgelegten Programmablauf folgen, sind nicht wirksam. Daraus folgt, dass ein Umsteuerungsprozess von einer rein auf zusätzliche Maßnahmen abzielenden Sprachförderung hin zu einer sprachlichen Bildung für Kinder jeden Alters erfolgen muss.

Dieser Umsteuerungsprozess muss wissenschaftlich fundiert werden und die Träger und Fachkräfte der Einrichtungen eng und praxisnah einbeziehen. Notwendig sind auch die entsprechenden Fort- und Weiterbildungsangebote, an denen sich das Land aufgrund des hohen Stellenwerts der sprachlichen Bildung künftig finanziell beteiligen sollte. Konzeptionell sind auch Tagespflegepersonen und der Übergang Kita-Schule bei der Neuausrichtung der sprachlichen Bildung einzubeziehen. Hierbei ist auf die Anschlussfähigkeit der Fördermaßnahmen an die Fachdidaktik und -theorie der Primarbildung sowie auf die adäquate pädagogische und organisatorische Begleitung des Prozesses zu achten. Eine gelingende Weiterführung von sprachlicher Bildung gerade im Übergang Kita-Schule muss ein wesentlicher Bestandteil bei der Implementierung der Bildungsgrundsätze NRW für Kinder von 0 – 10 Jahren sein.

Aufgrund des hohen Anteils von Kindern mit Migrationshintergrund in Nordrhein-Westfalen, ist auch auf die Förderung der herkunftssprachlichen Kompetenzen und die frühzeitige Einbeziehung der Eltern bei der Förderung der Mehrsprachigkeit bzw. dem Erwerb von Deutsch als Zweitsprache zu achten. Entsprechende Programme wie „Rucksack“ oder „Griffbereit“ sind bei den Kommunalen Integrationszentren vorhanden. Die Förderung der Mehrsprachigkeit und die damit verbundene Beherrschung von mindestens zwei Sprachen entsprechen nicht nur unserem kulturellen Bildungsideal, sie eröffnen Kindern auch gute Zukunftschancen.

Eine Neuausrichtung der sprachlichen Bildung muss außerdem begleitet werden von Maßnahmen zur strukturellen Verbesserung der Finanzierung von Kindertageseinrichtungen. Land und Kommunen stehen hierbei in einer gemeinsamen Verantwortung im Sinne der Kinder. Erzieherinnen und Erzieher verdienen mehr Unterstützung, denn sie legen gemeinsam mit den Eltern die Grundsteine für den Bildungserwerb und damit für die Zukunftschancen der Kinder.

Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zur Sprachstandsfeststellung und der sprachlichen Bildung von Kindern im Elementarbereich machen  eine Neuausrichtung dieses Bereichs erforderlich. Dazu gehört die Ablösung der verbindlichen Verwendung des Sprachstandsfeststellungsverfahrens Delfin 4 für Kinder, die eine Tageseinrichtung besuchen. Es setzt bei Vierjährigen zu spät an und es erfasst nicht die Sprachkompetenz von Kindern mit mehr- oder anderssprachigem Hintergrund. Die sich anschließenden Fördermaßnahmen stehen häufig nicht in einem systematischen Zusammenhang mit dem Testergebnis. Dieses Verfahren erfüllt zudem in seiner jetzigen Form eine wesentliche qualitative Grundvoraussetzung nicht: Sprachtest und Sprachförderung gehören institutionell in eine Hand.

Es kann festgestellt werden, dass bundesweit aus Wissenschaft und Praxis größte Zweifel am Erfolg von punktuellen Sprachtests und darauf aufbauender, zusätzlicher Sprachförderung im Elementarbereich bestehen. Sie haben offenkundig nicht zu den Ergebnissen geführt, die man sich davon versprochen hatte. Inzwischen wird vielmehr der Einsatz von alltagsintegrierten Sprachbeobachtungsverfahren favorisiert, da diese für eine alltagsintegrierte Sprachbildung aussagekräftiger sind, als ein punktueller Test.

Daher ist es eine logische Folge und im Grundsatz zu begrüßen, dass Bund und Länder eine gemeinsame Initiative zur „Weiterentwicklung der Sprachförderung, der Sprachdiagnostik und der Leseförderung“ ergriffen haben. Mit dem Forschungsvorhaben „Bildung durch Sprache und Schrift – BISS“ soll die Wirksamkeit von Sprachstandsfeststellungsverfahren und von Maßnahmen der Sprach- und Leseförderung evaluiert werden. Der Zeitrahmen für diese Evaluierung ist bis 2018 angesetzt. Dieser lange Zeitraum ist für die Qualität der Ergebnisse zwar notwendig, allerdings kann das Land Nordrhein-Westfalen nicht mit Maßnahmen zur Verbesserung warten, bis in 5 Jahren oder später Ergebnisse der Evaluierung vorliegen. Da Erkenntnisse über die unbefriedigende Situation bereits heute vorhanden sind, müssen – vor allem im Sinne der jetzt in Kindertagesbetreuung befindlichen Kinder – umgehend Verbesserungen vorgenommen werden. In Kitas soll künftig von Beginn an mit besser geeigneten und in den pädagogischen Alltag integrierbaren Instrumenten eine durchgängige Beobachtung und Dokumentation der sprachlichen Entwicklung erfolgen und die sprachliche Bildung intensiviert werden. Die Landesregierung ist aufgefordert, sich mit den Trägern der Kindertagesbetreuung auf evaluierte Verfahren zu verständigen, die künftig verbindlich anzuwenden sind und die wissenschaftlichen Qualitätskriterien entsprechen. Diese sollten durch dafür qualifizierte Erzieherinnen und Erzieher durchgeführt werden, die auch verantwortlich für die weitere sprachliche Bildung der Kinder in Kindertagesbetreuung sind. Dabei sind die Herkunftssprachen bei Kindern mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen.

Alltagsintegrierte sprachliche Bildung verlangt die Umwidmung eines Großteils der Mittel aus der bisherigen sprachlichen Individualförderung hin zu einer Stärkung der Kindertageseinrichtungen, die in besonderem Maße von Kindern aus benachteiligten  Familien und aus Familien, in denen kein Deutsch gesprochen wird, besucht werden. Der Übergangsprozess von der bisherigen zusätzlichen Sprachförderung für Kinder ab 4 Jahren hin zu einer alltagsintegrierten sprachlichen Bildung für Kinder jeden Alters bedarf der wissenschaftlichen Begleitung und eines behutsamen, fachlich fundierten und praxisnahen Vorgehens. Für die Umstellung sollte mit dem Kindergartenjahr 2014/2015 eine Übergangsphase vorgesehen und finanziert werden, in der die notwendigen Maßnahmen der Implementierung (z.B. Fortbildung) durchgeführt werden.

Die Individualverpflichtung der Kinder zur Sprachstandsfeststellung im Schulgesetz soll bestehen bleiben. Bei Kindern, die eine Kita besuchen, wird die Verpflichtung durch eine kontinuierliche Beobachtung und Sprachbildung in der Einrichtung und eine anschlussfähige Dokumentation für die Weiterarbeit in der Grundschule erfüllt. Zukünftig soll aber weiterhin bei Kindern, die keine Kita besuchen, der Sprachstand festgestellt werden. Nur so kann das Ziel erreicht werden, dass jedes Kind die Chance erhält, erfolgreich am Unterricht in der Grundschule teilzunehmen.

Vor diesem Hintergrund fordert der Landtag die Landesregierung auf:

  • die rechtlichen, fachlichen und finanziellen Voraussetzungen für eine Neuausrichtung der Sprachförderung hin zu einem primär alltagsintegrierten Konzept sprachlicher Bildung auf Basis anerkannter Qualitätsstandards und möglichst unter Berücksichtigung der Herkunftssprachen, zu schaffen,
  • für die Neukonzeption in diesem Sinne Wissenschaft, Träger, Kommunen, Eltern- und Beschäftigtenvertretungen intensiv einzubeziehen,
  • für eine wissenschaftlich fundierte und praxisnahe Aus-, Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen im Bereich sprachliche Bildung Sorge zu tragen und dafür Landesmittel vorzusehen,
  • perspektivisch auch den Bereich der Kindertagespflege in geeigneter Weise bei der Verbesserung der sprachlichen Bildung einzubeziehen,
  • die qualitative Weiterentwicklung von Sprachstandserhebungen und Sprachförderung durch geeignete Evaluierungsverfahren sicherzustellen,
  • ein Konzept der Beobachtung, Dokumentation und Förderung der sprachlichen Entwicklung von Kindern bis zum Alter von zehn Jahren zu entwickeln, das die Eltern, die Kindertageseinrichtungen und die Grundschulen einbezieht; dabei ist ein besonderes Augenmerk auf die Schnittstelle Kita-Schule zu richten,
  • Kindertageseinrichtungen im Rahmen der KiBiz-Revision zu stärken, um den Erzieherinnen und Erziehern die notwendigen pädagogischen Freiräume für eine gute sprachliche Bildung der Kinder zu verschaffen.

Darüber hinaus ist die Landesregierung aufgefordert, durch geeignete Instrumente die Wirksamkeit der genannten Maßnahmen zu überprüfen.