Sigrid Beer: „Unabhängig von Regionalligavergleichen entscheidet die soziale Herkunft in Deutschland wie in kaum einem anderen europäischen Staat über den Bildungserfolg von Kindern.“

Aktuelle Stunde auf Antrag der CDU und FDP zur Schulpolitik

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, heute herrscht eine etwas andere Tonlage und wir führen eine etwas ruhigere Debatte, als das die Überschriften der Pressemitteilungen nach Erscheinen der Studie vermuten ließen. Das kann ich nur begrüßen, denn wir haben hier eine gemeinsame Aufgabe vor uns. Das Hin- und Herschieben von Schuldzuweisungen nützt gar nichts, weil es immer wieder unterschiedliche Verantwortlichkeiten gegeben hat. Wir können das Ganze nur gemeinsam schaffen.
Erlauben Sie mir jedoch, Frau Gebauer, an dieser Stelle noch auf eines hinzuweisen: Von den 4.000 Stellen, die unter Schwarz-Gelb in der Zeit von 2005 bis 2010 eingepflegt wurden, mussten wir erst einmal 1.000 nachfinanzieren. Die waren nämlich gar nicht im Haushalt angelegt. Allein bis 2015 haben wir nun 9.500 Stellen in den Haushalt eingebracht. Dabei berücksichtigen wir die demografischen Effekte. Sie hingegen hatten in der mittelfristigen Finanzplanung 10.000 Stellen abgesetzt.
Von daher ist es etwas schmal, was Sie hier heute vorgetragen haben. Ich kann es Ihnen auch nicht ersparen, Sie damit zu konfrontieren, dass das Landesinstitut von Ihnen einfach so aus der Landschaft gefegt wurde und wir dadurch in Nordrhein-Westfalen zwei Jahre lang eine Fortbildungsbrache gehabt haben.
(Widerspruch von der CDU)
Wenn Sie sagen, dass die Fortbildung für Sie so wichtig ist, dann muss ich darauf hinweisen, dass wir da zwei Jahre lang Stillstand gehabt haben. Dann gibt es die Kompetenzteams, die höchst unterschiedlich gearbeitet haben.
(Zurufe von Klaus Kaiser [CDU])
– Lieber Kollege Kaiser, Sie müssten doch eigentlich froh sein, dass wir jetzt wieder genau eine solche Qualitätsagentur aufbauen und dass wir die Kompetenzteams fortbilden. Nur so werden wir dem gerecht werden können, was hier eben postuliert worden ist, nämlich die Unterstützung von Lehrerinnen und Lehrern. Dies gilt es systematisch anzugehen und es nicht dem Zufall zu überlassen, dass man an die richtigen Leute gerät. Dies gehört in diesem Zusammenhang zur Klarheit und zur Wahrheit dazu.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Mein Wunsch ist es, dass wir die Wissenschaftlerinnen hier nach Düsseldorf holen und miteinander reden. Das ist sehr wichtig, denn wir müssen dieses ernüchternde Ergebnis für NRW miteinander analysieren.
Natürlich kann sich niemand mit diesem Ergebnis zufrieden geben. Wir müssen uns fragen: Was können wir von anderen Bundesländern lernen? Das ist doch hochspannend.
Zunächst einmal: Die anderen Länder – gerade die ostdeutschen Bundesländer – haben sehr stark mit Strukturlösungen auf die demografische Entwicklung reagiert. Hier handelt es sich nicht um eine Spielwiese, sondern hier liegt eine sachgerechte Antwort vor.
Von den Leistungsergebnissen in Sachsen können wir lernen, dass eine hohe Gymnasialquote nicht leistungsmindernd wirkt. Das ist ja eine der Thesen, die Sie gebetsmühlenartig immer wieder implizit unterschieben wollen.
Auch Manfred Prenzel – immerhin selbst PISA-Forscher –, Leiter des Leibniz-Institutes für die Pädagogik der Naturwissenschaften, führt aus, dass die ostdeutschen Bundesländer sich ihre Leistungserfolge sehr pragmatisch und sehr klar hintereinander erarbeitet haben. Es geht um die Vereinfachung der Schulsysteme, so analysiert er.
Es ist auch wichtig, dass der Fokus der Wertschätzung der naturwissenschaftlichen Fächer erhalten bleibt. In den neuen Bundesländern gibt es eine ganz andere Kultur und Tradition mit Blick auf die MINT-Fächer. Diese Fächer haben in der Tat einen größeren Anteil in der Stundentafel. Wir müssen nur gemeinsam, Kollege Kaiser, definieren, welche Fächer bei uns noch obendrauf gelegt oder weggelassen werden sollen.
Das ist der spannende Diskurs, den wir miteinander führen müssen: darüber, was in den Schulen gelernt werden soll, was Sinn macht fürs Leben, was Sinn macht für den Beruf, dass wir an einigen Stellen entschlacken und neu definieren müssen. Das ist die Herausforderung, die wir hier gemeinsam angehen müssen. Darauf darf man nicht einfach reflexhaft reagieren.
Die Bevölkerungsstruktur in den neuen Bundesländern spielt natürlich auch eine Rolle. Wir haben doch eine ganz andere Quote an Zuwanderern hier in Nordrhein-Westfalen. Der Kollege Bas wird sich damit gleich in seinem Beitrag noch tiefergehend beschäftigen. Die Ergebnisse der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte sind ebenfalls differenziert zu betrachten; hier müssen unterschiedliche Antworten gefunden werden. Das ist auch eine gemeinsame Aufgabe.
Der Generalbefund jedoch – das ist leider heute Morgen noch gar nicht angeführt worden – bleibt wieder einmal für alle Bundesländer der gleiche: Unabhängig von Regionalligavergleichen entscheidet die soziale Herkunft in Deutschland wie in kaum einem anderen europäischen Staat über den Bildungserfolg von Kindern. Das wissen wir seit Beginn der PISA-Erhebung, und das kann uns doch wahrhaftig nicht ruhen lassen! Es ist immer wieder eine grundsätzliche Ohrfeige für das deutsche Bildungssystem. Da nützt es nichts, in die Regionen zu schauen. Hier haben wir eine gewaltige Aufgabe gemeinsam zu bewältigen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Wir können uns das weder gesellschaftlich noch demokratisch erlauben. Wir können es uns auch mit Blick auf die Wirtschaft und die Fachkräfte, die dort gebraucht werden, nicht erlauben. Wir können es uns vor allen Dingen angesichts des Rechts der Kinder und Jugendlichen auf ihren Bildungserfolg nicht erlauben, diese Situation so zu belassen.
Ich möchte, dass wir es schaffen, eine Leidenschaft für das Forschen und Experimentieren in den Kindern und Jugendlichen zu wecken und vor allen Dingen zu erhalten.
Es gibt einen Schriftsteller der Renaissance, François Rabelais, der einmal sehr klar gesagt hat – ich finde, das ist immer noch die wunderbarste Beschreibung für individuelle Förderung –, dass es wichtig ist, wahrzunehmen: Kinder sind keine Fässer, die gefüllt werden wollen, sondern Fackeln, die man entzündet.
(Beifall von Hans Christian Markert [GRÜNE])
Das ist genau der Punkt: diese Leidenschaft, die Begeisterung für das Lernen zu wecken, dafür zu brennen, dass man sich anstrengen muss, dass man sich manchmal durchbeißen muss, aber vor allen Dingen, dass man mit Freude beim Lernen dabei ist.
Es gilt, für alle Kinder diese Chancen in der Gesellschaft zu eröffnen und sie zu unterstützen sowie auch die Lehrer und Lehrerinnen zu unterstützen, dass sie das leisten können. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Jetzt bitte keine Reflexe zurück zu altem Bimsen, falsch verstandenem Fachunterricht, sondern hin zu einem kompetenzorientierten Unterricht, in dem Mathematik und Naturwissenschaften einen hohen Stellenwert haben. Sie sollen auch in der Bildungslandschaft geschätzt werden und die entsprechende Anerkennung erfahren – neben der klassischen Sprachenkompetenz, in der wir 2009 ja gar nicht so schlecht abgeschnitten haben. Also: Gemeinsame Aufgaben!
Ich würde mich freuen, wenn wir die verantwortlichen Forscherinnen in den Schulausschuss einladen und dort wirklich einen sachorientierten Diskurs miteinander führen würden.
(Beifall von den GRÜNEN)

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