Stefan Engstfeld: „Ich verspreche mir eine Vitaminspritze für unser demokratisches System in Nordrhein-Westfalen.“

Gemeinsamer Antrag zu Einsetzung einer Verfassungskommission

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beschließen wir gemeinsam die Einsetzung einer Kommission zur Reformierung unserer Verfassung. Wir tun dies im Bewusstsein der Tatsache und im Respekt vor ihr, dass sie – seit gestern übrigens genau – seit 63 Jahren eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung eines demokratischen Nordrhein-Westfalens gespielt hat. Sie hat mit dazu beigetragen – das finde ich besonders erwähnenswert –, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg so etwas wie eine nordrhein-westfälische Identität entwickeln konnte.
Damit dieses Identitätsstiftende nicht schleichend an Wirkung verliert und damit unser Verfassungsrecht weiterhin Strahlkraft entwickeln kann, die letztlich den staatsbürgerlichen Zusammenhalt der Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen stärken soll, werden wir ab heute gemeinsam überprüfen, ob der fortgeschrittene gesellschaftliche Wandel, der von 1950 bis heute stattgefunden hat, noch hinreichend von ihr abgebildet wird.
Diese Überprüfung – meine Vorredner haben es gesagt – erstreckt sich zunächst aber nur auf den dritten Teil unserer Verfassung, der von den Organen und den Aufgaben des Landes handelt. Wir werden uns in der Kommission also erst einmal mit den Themen beschäftigen, die in Bezug zu unserer politischen, demokratischen Kultur in Nordrhein-Westfalen stehen.
Meine Damen und Herren, ich verspreche mir von der intensiven Befassung mit diesen Themen einen echten Schub. Ja, ich verspreche mir eine Vitaminspritze für unser demokratisches System in Nordrhein-Westfalen; denn gerade der dritte Teil hat einiges zu bieten.
Mit dem rasanten, inzwischen weit fortgeschrittenen digitalen Wandel haben sich für die Bürgerinnen und Bürger des Landes neue technische Möglichkeiten der Gewinnung politischer Informationen eröffnet. Dass der politische Alltag damit verstärkten Eingang in das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger gefunden hat, ist Tatsache. Das kann leicht anhand der unzähligen täglichen Kommentare auf Online-Portalen und in sozialen Netzwerken nachvollzogen werden. Der Ruf nach Transparenz von politischen Entscheidungen und nach demokratischer Partizipation darin wird lauter, sodass auch die in der Verfassung vorgesehenen plebiszitären Instrumente dahin gehend zu untersuchen sind, ob sie den Partizipationswünschen der Bevölkerung noch hinreichend Rechnung tragen.
Uns Grüne interessieren in der Kommissionsarbeit besonders folgende Fragestellungen – ich nenne Ihnen drei –:
Erstens. Ist das auf 18 Jahre festgelegte Wahlalter beim aktiven und beim passiven Wahlrecht noch zeitgemäß?
Zweitens. Können die Beteiligungsrechte der Bevölkerung an der Politik ausgebaut werden, bzw. sind die bestehenden Zugangshürden für Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide herabzusetzen?
Drittens. Gibt es verfassungsmäßige Bedenken dagegen, die politischen Partizipationsmöglichkeiten der bei uns in Nordrhein-Westfalen lebenden Bürgerinnen und Bürger aus der Europäischen Union auf der Landesebene auszubauen?
Meine Damen und Herren, anlässlich der Entwicklung des Föderalismus und des zusammenwachsenden Europas sind auch Fragen nach den parlamentarischen Mitwirkungsmöglichkeiten Nordrhein-Westfalens auf beiden Ebenen zu beleuchten. Es ist zu überprüfen, ob mit diesen Entwicklungen eine Stärkung der parlamentarischen Rechte einhergehen müsste, um einem eventuellen Verlust an demokratischer Mitsprachemöglichkeit auf nationalstaatlicher Ebene sowie bei der Einbindung in den europäischen Rechtssetzungs- und Entscheidungsprozess entgegenzuwirken.
Dass wir im Rahmen der Verfassungskommission gemeinsam an der Ausgestaltung und Umsetzung der Schuldenbremse arbeiten werden, kann der Herausbildung einer interfraktionellen Verantwortung für einen ausgeglichenen Haushalt ohne Kreditaufnahme nur dienlich sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grüne hoffen sehr und setzen auch sehr darauf, dass der Arbeitsprozess von einem Höchstmaß an Transparenz gekennzeichnet ist und von der interessierten Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt werden kann. Wir werden uns dafür einsetzen, dass effektive niederschwellige Mitwirkungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger bereitgestellt und auch genutzt werden.
Ebenfalls von besonderer Bedeutung ist für uns Grüne die Fragestellung, ob über die Ergebnisse am Ende des Arbeitsprozesses nicht ein Referendum, also eine Abstimmung aller wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger, durchgeführt werden sollte. Von der Bereitstellung dieses Mittels der direkten Demokratie versprechen wir uns positive Resonanz bei der Mehrzahl der Nordrhein-Westfalen und gleichzeitig eine Durchbrechung vorhandener politikverdrossener Grundeinstellungen bei leider viel zu vielen Menschen in unserem Land.
Aber, Herr Lienenkämper, ich will auch ergebnisoffen an die Kommission herangehen und mit meinem Redebeitrag nicht vorgreifen. Ich hoffe dennoch, dass wir eine rege und fruchtbare Diskussion gerade zu diesem Thema haben werden.
Es geht also bei der uns bevorstehenden Kommissionstätigkeit keineswegs um zeitgeistigen Modernismus, sondern um eine gemeinsame inhaltliche Überarbeitung gerade auch im Zusammenwirken mit der interessierten Öffentlichkeit, die Bewährtes achtet, aber Rechtsentwicklungen und neue Werteentscheidungen in Verfassungsrecht gießt. Denn auch höchstrangiges Landesrecht muss in gewissen Abständen einer Revision unterzogen werden, damit gar nicht erst die Gefahr entsteht, dass es irgendwann einmal komplett an den gesellschaftlichen Realitäten vorbeigeht. – Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und den PIRATEN)

Mehr zum Thema

Verfassungskommission