Manuela Grochowiak-Schmieding: „Wer möchte, dass die Transferleistungen von heute in der Zukunft nicht mehr nötig sein werden, wird den Umbau unserer Gesellschaft in ein gerechtes, ein inklusives Gemeinwesen befürworten“

Sozialbericht der Landesregierung

Manuela Grochowiak-Schmieding (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Erstes möchte ich meinen Dank an den Herrn Minister richten für diesen ausführlichen, detailreichen und ehrlichen Sozialbericht.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich möchte auch für die Gelegenheit danken, meine erste Landtagsrede zu einem solch wichtigen Thema halten zu können.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist eines der reichsten Länder der Erde. Deutschland ist das reichste Land in Europa. In Deutschland stehen wenige Superreiche immer mehr Menschen gegenüber, die in Bedrängnis geraten sind und sich fragen, wie und wovon sie ihren Lebensunterhalt überhaupt bestreiten sollen.
Der Sozialbericht des Landes NRW attestiert uns eine Gesellschaft, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht – eine Tatsache, die sich durch Streichung oder Verbesserung unbequemer Wahrheiten so, wie die FDP das auf Bundesebene offenbar tut, nicht auflösen lässt.
(Beifall von den GRÜNEN)
Dieses Verhalten des Bundeswirtschaftsministers, Philipp Rösler von der FDP, dokumentiert sehr anschaulich seine fehlende Empathie und seine mangelnde Bodenhaftung.
Meine Damen und Herren, auch der Aufruf der Bundesministerin für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz, Frau Aigner, für die Tafeln in München Lebensmittel zu spenden, weil Lebensmittel nicht in den Müll gehörten, lenkt in Wahrheit doch nur davon ab, dass Tafeln und Suppenküchen nötig geworden sind, damit sich Arme ernähren können. Nein, meine Damen und Herren, Verleugnen und Vernebeln sind keine Lösung.
Vielmehr müssen wir ganz genau hinschauen: Wer ist von Armut betroffen, welche Ursachen hat Armut, und wie wirkt sie bei den Menschen und in der Gesellschaft?
Der Sozialbericht trifft hierzu ganz klare Aussagen. Risiken für Armut sind unter anderem Migrationshintergrund, Alter, Jugend und Behinderung. Ich kann es auch drastisch ausdrücken: Alle, die etwas anders sind oder die ganz einfach etwas mehr Zeit für die Dinge brauchen, laufen Gefahr, aus dem System zu kippen. Das fängt schon in Kita und Schule an. Kinder, deren Eltern einen geringen sozialen Status genießen, Kinder aus kinderreichen Familien, Kinder mit ausländischen Wurzeln, Kinder, die bei einem alleinerziehenden Elternteil leben, haben geringere Chancen, werden in einem auf Aussortieren spezialisierten Schulsystem eher an den Rand gestellt als andere.
Vielen Kindern fehlt es an einer ermutigenden Erziehung, einer Unterstützung durch ihre Eltern, wodurch sie einerseits lernen, sich zu behaupten, andererseits aber auch lernen, Rückschläge wegzustecken, ohne gleich zu verzagen. Kinder werden zu oft seelisch und körperlich durch die Rohheit von Erwachsenen verletzt. Dadurch werden sie gehemmt, sich zu sozialisieren oder schlicht und ergreifend gute Leistungen in der Schule zu bringen.
Meine Damen und Herren, viele Jobs werden so schlecht bezahlt, dass die Menschen davon nicht leben können, und das sind dann die sogenannten Aufstocker.
Mittlerweile sind hiervon nicht mehr nur Geringqualifizierte betroffen, nein, auch gut ausgebildete Fachkräfte und ebenso Akademikerinnen und Akademiker. Ich spreche von Männern und Frauen, die einen oder mehrere Jobs haben, die tagtäglich ihrer Arbeit nachgehen und zum Wohlstand der Gesellschaft beitragen, aber sich von ihrer Hände Arbeit nicht ernähren und nicht kleiden können.
Sprüche wie „Leistung statt Neid“ oder „Leistung muss sich lohnen“ kommen bei diesen Menschen wie blanker Zynismus an.
(Beifall von den GRÜNEN)
Darüber hinaus kann mit Niedriglöhnen kein ausreichender Rentenanspruch erworben werden. Auch die von Frau von der Leyen propagierte Zuschussrente läuft bei diesen Menschen ins Leere, selbst wenn sie 40 Jahre in dieses System einbezahlen würden. Arme können es sich kaum erlauben, zusätzlich auch noch private Vorsorge zu leisten. Auch hier Augenwischerei der Bundesregierung, statt pragmatische und wirkungswolle Lösungsvorschläge zu liefern!
(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)
Dann doch besser eine Grundrente aus einer von allen Einkommen gespeisten Bürgerversicherung, wie wir Grüne sie seit Jahren in die Diskussion einbringen!
Meine Damen und Herren, ein Arbeitsmarkt, der mit immer weniger Beschäftigten immer mehr Arbeit bewältigen will, wird dem Bedarf an Arbeitsplätzen und der Fürsorgepflicht für seine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht gerecht. Die einen bekommen erst gar keine Arbeit, und die anderen werden arbeitslos, wenn sie wegen Stress am Arbeitsplatz längerfristig erkranken.
Die psychischen Behinderungen – ich spreche nicht von Erkrankungen, sondern von manifesten Behinderungen – bei Erwachsenen haben sich signifikant erhöht. Die Kosten hierfür werden natürlich gerne sozialisiert.
Ganz krass wird es, wenn Menschen einen besonderen Hilfebedarf haben. Nicht nur das alltägliche Leben wird durch zum Teil unüberwindliche Barrieren behindert, nein, diesen Menschen war lange Zeit beschieden, praktisch von Kindheit an ihr Leben in Sondereinrichtungen zu verbringen. Die Gelegenheit, ein selbstständiges Leben zu führen, war gar nicht eingeplant, schon gar nicht die freie Wahl auf einen Arbeitsplatz oder die freie Wahl des Wohnorts.
Nun, hier findet nicht zuletzt durch die UN-Konvention zum Recht von Menschen mit Behinderungen ein Umdenken statt. Wenn wir im Lande die Maßnahmen aus dem Aktionsplan der Landesregierung konsequent umsetzen, werden wir feststellen, dass Inklusion der gesamten Gesellschaft zugutekommt.
Inklusion, also Teilhabe, ist auch im heutigen Kontext das richtige Stichwort. Denn was macht Armut mit Menschen? – Armut grenzt aus. Armut macht krank. Armut macht einsam. Die Menschen werden mutlos, verzweifeln an sich selbst und am System, geben sich selbst verloren. Traurige Beispiele hierzu können Sie im Bericht im Kapitel „Armen eine Stimme geben“ nachlesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einer gut strukturierten Gesellschaft. Ja, tatsächlich, wir verfügen über Kindertagesstätten, über Schulen, Ausbildungseinrichtungen. Wir haben ein leistungsfähiges Gesundheits- und Pflegesystem. Vielfältige Angebote in Sport und Kultur bieten Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung für alle. Für alle? – Nein, wer arm ist, kann alle diese Angebote nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen, und zwar nicht etwa, weil er oder sie zu dumm, unwillig oder desinteressiert ist, sondern oftmals geht es um so etwas Profanes wie die Karte für Bus oder die Bahn, die nicht bezahlt werden kann und weshalb man erst gar nicht zum Ort des Geschehens kommt.
Sport und Kultur haben fast immer mit Gebühren oder Eintrittsgeldern zu tun. Selbst der Arztbesuch kann wegen der Zuzahlungen im Gesundheitswesen unerschwinglich werden.
„Arm am Beutel, krank am Herzen“, hat schon Johann Wolfgang von Goethe seinen Schatzgräber sagen lassen. Tatsächlich lässt sich Armut nicht nur am Geldbeutel festmachen: Wer arm ist, lebt weniger gesund. Beispielsweise führen eingesparte Arztbesuche oft genug zur Chronifizierung einer Krankheit mit den entsprechend höheren Folgekosten.
Ein anderes Beispiel: Eine Mutter hat gerade einmal 8 € Budget pro Tag für Lebensmittel und ist kaum in der Lage, sich und ihr Kind ausgewogen und gesund zu ernähren.
Wer arm ist, empfindet kaum positives Sozialprestige. Menschen, die in Armut leben, denen fehlt die Freiheit, das Leben zu führen, das sie gerne führen möchten. Sie fühlen sich ausgeschlossen und stehen am Rande unserer Gesellschaft.
Sprüche wie „Hilf Dir selbst, dann gehörst Du dazu! Du musst Dich einfach ein bisschen anstrengen! Sei nicht so faul!“ sind wenig hilfreich. Sie kommen von einer überwiegend an ökonomischem Wachstum und am eigenen Profit orientierten Gruppe, deren Grad der Entsolidarisierung damit sehr deutlich wird.
(Beifall von den GRÜNEN)
Wir wollen Wachstum, meine Damen und Herren. Ja, wir wollen Wachstum, allerdings ein Wachstum, das sich am Gemeinwohl orientiert und an dem alle Mitglieder der Gesellschaft partizipieren können.
(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Das legen Sie fest?)
– Sie ganz bestimmt nicht!
Damit dies gelingt, müssen wir weiter in die Qualität von Kitas und Schule investieren. Wir brauchen keine Schulen, die aussortieren, sondern wir brauchen Schulen, die ausbilden, und zwar gemeinsam alle Kinder, ungeachtet ihres sozialen oder kulturellen Hintergrunds, egal ob mit oder ohne Handicap. Wir hier in NRW sind auf einem sehr guten Weg.
(Beifall von den GRÜNEN)
Wir brauchen einen gerechten, existenzsichernden und fairen Arbeitsmarkt. Menschen, die heute im Leistungsbezug der Sozialgesetzbücher sind, brauchen keine Belehrungen oder Sanktionen. Diese Menschen brauchen in erster Linie Hilfe, Hilfe und Unterstützung zur Befähigung, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Und sie brauchen jetzt – jetzt! – die Absicherung ihres Existenzminimums. Hierzu ist eine verfassungskonforme Anhebung des Hartz-IV-Satzes durch die Bundesregierung nötig. Das Bundesverfassungsgericht hat das der Bundesregierung ja bereits ins Stammbuch geschrieben.
Wer möchte, dass die Transferleistungen von heute in der Zukunft nicht mehr nötig sein werden, wird den Umbau unserer Gesellschaft in ein gerechtes, ein inklusives Gemeinwesen befürworten.
(Beifall von einzelnen Abgeordneten der GRÜNEN)
Hierzu sind größte Anstrengungen nötig. Die präventive Politik der Landesregierung und der sie tragenden Fraktionen, also Rot-Grün, ist der richtige Ansatz. Hilfen bei Erziehung, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Pflege und Freizeitgestaltung; Hilfen, die darauf zielen, alle Menschen am strukturellen Reichtum unserer Gesellschaft teilhaben, ja teilnehmen zu lassen.
Zu teuer? – Na ja, was wir zurzeit treiben, ist auch nicht gerade billig. Und was Perspektivlosigkeit an Scherbenhaufen anrichtet und was die Nachsorge, das alles wieder abzuräumen, kostet, wissen wir mittlerweile auch.
Im Übrigen ist das Geld ja da. Es muss einfach nur ein bisschen anders verteilt werden. Denn: Sie von CDU und FDP können doch nicht ernsthaft meinen, dass es anständig ist, wenn 20 % der Haushalte 71 % des Gesamtvermögens untereinander aufteilen!
(Widerspruch von Dr. Stefan Berger [CDU])
Die Mehrheit der Bevölkerung hat ein ganz klares Urteil: Das ist nicht anständig, das ist ungerecht!
(Beifall von den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, der Zusammenhalt der Gesellschaft ist ein wichtiges Gut. Die Überwindung der Gerechtigkeitslücke ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir tun gut daran, alle gesellschaftlichen Kräfte zu mobilisieren. Ungeachtet der unterschiedlichen Ansätze in unseren Parteien und Fraktionen halte ich es für absolut wichtig, dass wir Wege finden, dies gemeinsam zu tun. – Recht schönen Dank!
(Beifall von den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

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