Mehr Transparenz und Beteiligung bei Corona-Schutzmaßnahmen

Positionspapier

Mehrdad Mostofizadeh

Mehr als ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie ist es höchste Zeit, die Debatte über konkrete Schutzmaßnahmen wieder in das Parlament zu holen. Als Grüne Landtagsfraktion formulieren wir konkrete Forderungen, um Kontrolle, Grundrechtsabwägungen und die öffentliche Debatte durch das Parlament zu stärken.

Die Corona-Pandemie stellt unsere Gesellschaft vor große soziale, wirtschaftliche und finanzielle Herausforderungen. Als im März diesen Jahres sehr schnell Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten, weil sich das Corona-Virus ausbreitete und die Gefahr bestand, dass die medizinischen Kapazitäten an ihre Grenzen stoßen könnten, zugleich viele wissenschaftliche Erkenntnisse und medizinische Behandlungsmöglichkeiten aber noch fehlten, musste die Landesregierung durch Verordnungen schnell reagieren können. Wir haben uns als Grüne Landtagsfraktion von Beginn an konstruktiv und kritisch in die Debatte eingebracht. Der Landtag NRW hat in kürzester Zeit den sehr umstrittenen Entwurf des Pandemiegesetzes der Landesregierung debattiert und in einer großen Anhörung mit vielen Expert*innen erörtert. Die breite Beratung im Parlament hat zu einem gemeinsamen Änderungsantrag von CDU, SPD, FDP und Grünen geführt, mit dem der Gesetzentwurf der Landesregierung deutlich verbessert und dann auch mit den Stimmen der vier genannten Fraktionen verabschiedet wurde.

Mehr als ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie ist es höchste Zeit, die Debatte über konkrete Schutzmaßnahmen wieder in das Parlament zu holen. Krisenzeiten sind Zeiten des Zusammenhalts und der politischen Zusammenarbeit. Zur wirksamen Bekämpfung der Pandemie waren und sind umfassende und schnelle Maßnahmen notwendig. Doch in einer Demokratie ist vor allem das Parlament Ort der Diskussion und Entscheidung über politische Maßnahmen. Insbesondere Maßnahmen die in Grundrechte eingreifen und zum Teil erhebliche Auswirkungen auf das tägliche Leben haben sowie Maßnahmen, die längerfristig gelten sollen, müssen durch das Parlament diskutiert und entschieden werden. Das Parlament ist das Verfassungsorgan mit der Gesetzgebungskompetenz und dem Auftrag zur Kontrolle der Landesregierung. Nur durch eine sorgsame Abwägung, die in öffentlichen Sitzungen erfolgt, kann das Vertrauen und die Akzeptanz der Bürger*innen in staatliches Handeln dauerhaft gesichert werden.

Die Corona-Pandemie hat massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Infrastruktur notwendig gemacht. Die tiefen Einschnitte in das öffentliche, wirtschaftliche und soziale Leben haben zum Teil gravierende Folgen für die unterschiedlichsten Bereiche unserer Gesellschaft. Aus diesem Grund müssen die getroffenen Maßnahmen und ihre Auswirkungen sowie die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse der letzten Monate gleichermaßen parlamentarisch diskutiert und ausgewertet werden.

Als Grüne Landtagsfraktion haben wir daher folgende Forderungen, um Kontrolle, Grundrechtsabwägungen und öffentliche Debatte durch das Parlament zu stärken:

1.) Corona-Schutzmaßnahmen gesetzlich regeln

Derzeit erlässt die Landesregierung auf Grundlage der Generalklausel im Infektionsschutzgesetz des Bundes die Rechtsverordnung „Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2“. Darin sind u.a. die Abstandsregeln und maximale Personenanzahl im öffentlichen Raum sowie das Verbot des Betriebs von Clubs und Diskotheken enthalten.

Der Erlass von solch umfassenden Maßnahmen, welche tiefe Eingriffe in Grundrechte vorsehen, ist jedoch nur kurzzeitig über eine Generalklausel möglich. Je mehr Erfahrungen es im Umgang mit einer Situation gibt, je mehr eine Maßnahme zum „Standard“ wird, desto klarer müssen die rechtlichen Vorgaben für die Anwendung der Maßnahme werden. Diese verfassungsrechtliche Vorgabe kann eine Generalklausel nicht erfüllen. Es braucht daher für die verschiedenen Maßnahmen eigene Ermächtigungsgrundlagen. Das Parlament muss über die Grundrechtseingriffe entscheiden und Regierungshandeln kontrollieren.

Die zahlreichen Urteile verschiedener Gerichte in den letzten Wochen, z.B. zum Beherbergungsverbot oder zur Sperrstunde, wurden zum Teil auch damit begründet, dass die Begründungen der jeweiligen Rechtsverordnungen nicht ausreichend die Grundrechtsabwägung zwischen Gesundheitsschutz und anderen Grundrechten, wie etwa die Berufsfreiheit, vorgenommen haben.

Die Schaffung von konkreten Ermächtigungsgrundlagen in einem Gesetz für einzelne Maßnahmen würden nicht nur die Rechtssicherheit stärken. Durch die öffentliche Debatte im Parlament und die Abwägung der Maßnahmen im Hinblick auf die Grundrechtseingriffe würde auch die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung gesteigert werden.

2.) Einrichtung einer parlamentarischen Pandemiekommission

Der Landtag richtet einen parlamentarischen Pandemiekommission als Sonderausschuss des Landtags ein. Die Pandemiekommission soll die Debatten im Landtag NRW zu den verschiedenen Aspekten zur Bekämpfung der Corona-Pandemie bündeln, interdisziplinär führen und zur Auswertung der öffentlichen Krisenbewältigung beitragen. Die Pandemiekommission befasst sich mit den Auswirkungen der Pandemie auf alle gesellschaftlichen Bereiche und legt Handlungsempfehlungen zum Umgang mit den sozialen und wirtschaftliche Folgen der Pandemie vor. Damit wird der parlamentarischen Diskurs deutlich gestärkt und Entscheidungen des Landtagsplenums vorbereitet. Durch die Beteiligung und Anhörung von Wissenschaftler*innen ist zudem gewährleistet, dass politische Entscheidungen wissenschaftlich fundiert getroffen werden können. Zudem soll die Landesregierung an den Sitzungen der Pandemiekommission teilnehmen, um einerseits den Austausch mit der Landesregierung und zum anderen deren parlamentarische Kontrolle zu gewährleisten.

Die Pandemiekommission besteht aus Abgeordneten sowie Sachverständigen, wie zum Beispiel Verfassungsjurist*innen oder Gesundheitsexpert*innen, aber auch Vertreter*innen der Zivilgesellschaft. Die Sitzungen des Pandemierats sollen in einem engen zeitlichen Turnus stattfinden, um Diskurse über Schutzmaßnahmen bzw. deren Auswirkungen sehr aktuell diskutieren und bewerten zu können. Zu den einzelnen Themen, wie etwa der Schutz in Pflege- und Senioreneinrichtungen oder der Schutz von Schüler*innen und Lehrkräften, können die jeweiligen fachpolitischen Sprecher*innen sowie weitere themenspezifische Expertinnen und Experten geladen werden.

Nach §48 der Geschäftsordnung des Landtags kann der Landtag die Einrichtung eines Sonderausschusses beschließen.

3.) Transparenz und Beteiligung auch in der Krise: Einrichtung eines Corona-Bürgerrates

Der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung befürwortet die notwendigen Maßnahmen zum Schutz vor der Corona-Pandemie. Wir sind uns bewusst, dass diese Maßnahmen der Bevölkerung viel abverlangen und die Einigkeit auf die Probe stellen. Gerade in einer Krisenzeit wollen wir die Bürger*innen stärker beteiligen und mehr Transparenz schaffen. Denn ein hohes Akzeptanzniveau erhalten wir nur mit einer Politik des Gehörtwerdens.

Wenn die Pandemie eine Anpassung der Schutzmaßnahmen erfordert, wollen wir die notwendigen Schritte durch unterschiedliche Beteiligungsformate wie Online-Konsultationen, lokale Bürgerforen (auch mit Wissenschaftler*innen) und Nachbarschaftsgespräche flankieren. Diese Beteiligungsverfahren müssen durch die Landesregierung, z.B. durch eine*n Landesbeauftragte*n für Demokratie und Beteiligung wie in Baden-Württemberg, koordiniert und unterstützt werden.

Die Landesregierung hat erkennbar keinen Plan, der über den Tag hinausreicht. Auch wenn wir heute nicht vorhersagen können, wie lange die pandemische Lage noch dauern wird, wollen wir gemeinsam mit der Bevölkerung eine Vision für das NRW nach Corona entwickeln. Dafür schlagen wir die Gründung eines Corona-Bürgerrates vor. Wir wollen die Erfahrungen und die Lebenswelt der Bürger*innen in die Corona-Politik des Landes einbeziehen. Bei einem Bürgerrat erhalten ausgeloste, für die Bevölkerung repräsentative Bürger*innen die Möglichkeit, Pläne und Maßnahmen zu diskutieren und abzuwägen. Am Ende steht ein für weite Teile der Bevölkerung tragfähiges Ergebnis, das dann durch die Politik umgesetzt werden kann.

Gerade im Kampf gegen Verschwörungsmythen ist Transparenz entscheidend. Solange es kein allgemeines Informationszugangsgesetz gibt, fordern wir die Landesregierung auf, ein Corona-Transparenzgesetz vorzulegen. Dieses soll die Behörden verpflichten, alle Daten, Informationen, Modelle und Studien, die als Grundlage für die Corona-Politik des Landes dienen, zu veröffentlichen. Ebenso muss die Landesregierung Transparenz darüber schaffen, von welchen Expert*innen sie beraten wird, um etwaige Interessenkonflikte frühzeitig zu vermeiden.

4.) Unterrichtung durch die Landesregierung

Die Landesregierung muss den Landtag umfassend über geplante Maßnahmen sowie unmittelbar nach den Konferenzen der Ministerpräsident*innen der Länder mit der Bundeskanzlerin unterrichten. In der Vergangenheit hat es mehrfach solche Konferenzen zeitgleich zum Plenum des nordrhein-westfälischen Landtags gegeben, ohne dass Ministerpräsident Laschet der Unterrichtung des Parlaments nachgekommen wäre. Die Übersendung von Rechtsverordnungen an die Abgeordneten reicht nicht aus. Der Diskurs über Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie darf nicht hinter verschlossenen Türen durch 16 Ministerpräsident*innen und der Kanzlerin geführt werden, sondern gehört in die Häuser der Demokratie – den Deutschen Bundestag und die 16 Landesparlamente. Wir brauchen mehr Transparenz, um die Akzeptanz für die Schutzmaßnahmen weiter zu erhalten.

5.) Evaluation und Lehren aus der Pandemie

Das im März beschlossene Pandemiegesetz sieht eine Evaluierung des Gesetzes bis Ende des Jahres 2020 vor, das Gesetz selbst läuft im März 2021 aus. Zu dem Bericht der Landesregierung zur Evaluation des Gesetzes werden wir eine Anhörung beantragen. Es reicht nicht, den Bericht der Landesregierung „nur entgegenzunehmen“. Wir Grüne wollen die Evaluierung im Parlament mit externem Sachverstand beraten und Lehren daraus ziehen.

Positionspapier_Parlamentarische_Beteiligung_27.10.2020_Beschluss