Josefine Paul: „Wir müssen die deutsche Einheit als Auftrag sehen, in einem geeinten und vielfältigen Deutschland Demokratie und Freiheit zu leben“

Antrag der Fraktion von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN zu "30 Jahre deutsche Einheit"zu ehrenamtlichen Einsatzkräften

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich will mit einer persönlichen Grenzerfahrung anfangen. Ich bin 1982 in Helmstedt geboren. Diese Kleinstadt war damals ein Ort an der deutsch-deutschen Grenze. Der eine oder die andere mag vielleicht noch Erinnerungen an den Grenzübergang Helmstedt/Marienborn haben.
Auch aus westdeutscher Perspektive war dort für uns damals die Welt – in Häkchen – „zu Ende“. Wann immer wir Besuch bekommen haben, ist man Grenze-Gucken gefahren, weil Westdeutsche auf diese Art und Weise die deutsche Teilung erleben konnten; denn die Westdeutschen waren in ihrer Lebensrealität nicht unbedingt damit konfrontiert. Aber dort an der deutsch-deutschen Grenze, am Grenzzaun, am Grenzübergang wurde sie für alle erfahrbar.
Vielleicht hatten sich viele in Westdeutschland auch damit abgefunden, dass es zwei deutsche Staaten gibt, weil man es auf dieser Seite von Grenze und Mauer nicht so bemerkt hat.
Heute liegt meine Geburtsstadt Helmstedt mitten im wiedervereinigten Deutschland. Aber ich frage mich schon: Wo stehen wir jetzt eigentlich, wenn sich der Rauch der festlichen Feuerwerke verzogen hat? Wie lebendig ist die deutsche Einheit, auch und gerade aus westdeutscher Perspektive?
Deshalb ist es gut, dass wir auch hier im Landtag immer wieder Anlässe haben, um miteinander über die friedliche Revolution und die deutsche Einheit zu sprechen. Das darf aber nicht nur eine historische Rückschau sein, sondern es muss auch darum gehen, wie wir Räume schaffen können, um über Gemeinsamkeiten, über Herausforderungen und über die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu diskutieren.
Denn auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es immer noch zwei unterschiedliche Erzählungen über die deutsche Einheit, die Wende, die friedliche Revolution.
Die ostdeutsche Perspektive nimmt sehr stark Bezug auf die friedliche Revolution, auf die Montagsdemonstrationen und schließlich auf die Wende, auf den Mauerfall, aber eben auch – Carina Gödecke hat darauf hingewiesen – auf den 9. Oktober.
Das ist für uns in Westdeutschland kein so entscheidendes Datum, obwohl es eigentlich historisch bedeutsam ist. Denn an diesem 9. Oktober hat sich bei der großen Demonstration in Leipzig entschieden, dass die friedliche Revolution überhaupt möglich war; es hätte auch eine blutige Niederschlagung wie auf dem Tian’anmen-Platz geben können. Das heißt, der 9. Oktober war entscheidend für die friedliche Revolution und damit auch später für die deutsche Einheit. Er hat in der westdeutschen Perspektive aber oft keinen Platz. Da sehen wir den 3. Oktober, und wir sehen den 9. November.
Im wiedervereinigten Deutschland hat diese Leistung viel zu wenig Anerkennung gefunden. Das gehört auch zur gesamtdeutschen Geschichte. Es geht um die Frage, ob der Westen – wenn man das so pauschalisierend sagen darf – die Leistung, die der Osten zur Demokratisierung unseres gesamten Landes beigetragen hat, genug gewürdigt und genug gesehen hat. Denn die Erfahrungen mit der Wiedervereinigung, die den Osten und die Ostdeutschen prägen, sind deutlich andere als die der Westdeutschen.
Tiefgreifende Einschnitte in das gesamte Leben, Arbeitslosigkeit und ein noch immer geringeres Lohn- und Rentenniveau sind Erfahrungen, die im Westen oft nicht gesehen werden – vielleicht sind sie den Leuten auch gar nicht bekannt – und auch nicht genügend anerkannt werden.
Fragt man heute nach den Einstellungen in Ost und West zur deutschen Einheit – die Bertelsmann Stiftung hat das gerade getan –, dann lautet das Ergebnis: 83 % der Ostdeutschen sind immer noch der Auffassung, die Menschen im Osten seien nach der Wiedervereinigung unfair behandelt worden. Im Westen sind 50 % dieser Meinung.
Ein Grund könnte darin liegen, dass die Wende, die friedliche Revolution und die deutsche Einheit für Ostdeutsche tiefgreifende persönliche Wendepunkte dargestellt haben, während wir Westdeutsche, wenn wir nicht gerade persönliche Grenzerfahrungen gemacht haben, das häufig nicht erlebt haben.
Es fehlt weiterhin eine gemeinsame Erzählung, die es schafft, die unterschiedlichen Erfahrungen, die unterschiedlichen Lebensleistungen, aber auch die unterschiedlichen Perspektiven von Ostdeutschen und von Westdeutschen auf diese Zeit gleichermaßen zu berücksichtigen. Allerdings darf sich auch diese gemeinsame Erzählung nicht nur in Gedenktagen erschöpfen, sondern Erinnerung muss weitergehen.
Aber vor allem geht es um die Frage, welche Konsequenzen wir daraus für das weitere Zusammenwachsen ziehen können, wie wir es mit Leben, aber auch mit Begegnung und Austausch, mit Zuhören und Gesprächen füllen können.
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden: Demokratie ist ein Prozess. Sie lebt davon, dass die Menschen sich in ihr wiederfinden. Es muss ein Alarmsignal für uns sein, wenn es Menschen gibt, die sich abgehängt fühlen, die sich nicht mitgenommen fühlen, die sich eben nicht in diesen Prozessen wiederfinden.
Das bedeutet für uns: Wir müssen die deutsche Einheit als Auftrag sehen, in einem geeinten und vielfältigen Deutschland Demokratie und Freiheit zu leben, aber immer verantwortungsvoll und mit dem verantwortlichen Blick in die Zukunft. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

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