Josefine Paul: „Kindern muss geglaubt werden“

Antrag der SPD-Fraktion zu Gewalt in "Kinderheilanstalten"

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Verschickung“, das war nach 1945 ein Sammelbegriff für das Verbringen von Kindern und Jugendlichen in sogenannte Kinderkuren wegen angenommener oder tatsächlicher gesundheitlicher Probleme. Sie sollten sich erholen, und – wir haben es schon gehört – sie sollten vor allem aufgepäppelt werden.
Die Ähnlichkeit mit dem Wort „Kinderlandverschickung“ der Nationalsozialisten – das fällt relativ schnell auf – ist wohl eher kein Zufall. Auch dabei ging es ja nicht rein um frische Luft und die Rettung vor dem Bombenkrieg, sondern es ging den Nationalsozialisten damals vor allem um Drill, um ideologische Erziehung, und das mit Mitteln, die für uns heute nicht mehr nachvollziehbar sind.
Was die sogenannten Verschickungskinder bis in die 1980er-Jahre hinein in diesen Einrichtungen erleben mussten, bezeichnet man zu Recht als Schwarze Pädagogik. Aber die traumatischen Erfahrungen und das Leid, das die Betroffenen oft erst Jahrzehnte später überhaupt beschreiben können, ist mit diesem Begriff nicht wirklich zu greifen.
Allein, weit weg von zu Hause und Eltern erlebten viele Kinder keine Erholung, sondern sie erlebten eine Hölle: eine Hölle aus Gewalt, Erniedrigung, Isolation, Angst und auch sexuellen Übergriffen. Viele von ihnen hatten Heimweh. Aber das durften sie ihren Eltern nicht mitteilen, weil Briefe zensiert wurden, weil Nachrichten nach Hause vielleicht abgefangen wurden, weil es gar nicht erlaubt war, mit den Eltern zu sprechen. Sie waren einsam, und sie spürten diese Einsamkeit, weil sie keiner gehört hat, weil sie keiner tröstete und weil keiner ihnen half.
Die Betroffenen berichten – das haben auch die Kollegen durch ihre zitierten Berichte schon deutlich gemacht – von erzwungenem Essen, selbst wenn sie sich erbrechen mussten, von Schlägen und von Demütigungen, wenn Kinder begannen, wieder einzunässen.
Bis zu 12 Millionen Kinder wurden verschickt, und viele erlebten Traumatisches, was sie teilweise ihr Leben lang begleitet. Das Schlimme ist: Auch später hörte man sie nicht. Erst waren es die eigenen Eltern, die sie vielleicht nicht hörten, die es vielleicht nicht glaubten und es sich vielleicht auch nicht vorstellen konnten. Dann hörte man sie aber auch in der Öffentlichkeit nicht; denn die Misshandlungen in den Kinderkurheimen waren lange ein Tabuthema. Die Betroffenen fanden kein Gehör, keine Unterstützung, und es gab auch keine öffentliche Debatte darüber.
Mir geht es genauso wie dem Kollegen Maelzer. Auch ich wusste lange überhaupt nichts von dieser Thematik. Es macht mich sehr betroffen, dass so viele Kinder über so viele Jahre und Jahrzehnte so Schreckliches erlebt haben, das nie ein Thema gewesen und bis heute nicht richtig aufgearbeitet ist.
Die „Initiative Verschickungskinder“ will dies jetzt ändern. Sie will Betroffenen eine Stimme geben. Sie will ans Licht bringen, woran staatliche Stellen, Sozialversicherungsträger, Gesundheitsämter, Kinderärzte und unterschiedlichste Träger beteiligt waren. Und sie will aufarbeiten – man muss es so deutlich sagen –, warum der Staat und staatliche Kontrollen damals versagt haben.
Auf der Website www.verschickungsheime.org kann man Berichte von Betroffenen lesen. Dort sollen Betroffene auch vernetzt werden. Dort haben Betroffene die Möglichkeit, ihre Erfahrungen und ihr Leid öffentlich zu machen und vor allem endlich die Gewissheit zu bekommen, dass sie mit diesen Erfahrungen nicht allein sind, dass es schon gar nicht ihre Schuld war und dass nichts an ihnen verkehrt war oder ist.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das Leid dieser Kinder können wir nicht ungeschehen machen. Aber es ist unsere gesellschaftliche und politische Verantwortung, endlich dieses dunkle Kapitel bundesdeutscher Geschichte aufzuarbeiten.
Es ist gleichermaßen wichtig, Betroffenen endlich Unterstützung zukommen zu lassen, ihnen tatsächlich eine Geschäftsstelle zur Verfügung zu stellen, Therapieangebote bereitzustellen und gemeinsam mit ihnen zu erarbeiten, welche Formen der Unterstützung – auch über das Opferentschädigungsgesetz etc. – hier richtig sein können.
Wir müssen ernst nehmen und endlich hören, was Kindern damals angetan wurde, was die heute Erwachsenen teilweise ihr ganzes Leben lang nicht oder kaum verarbeiten konnten.
Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, die den Mut haben, ihre Leidensgeschichte öffentlich zu machen und damit dieses Thema endlich ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, zum einen um das Unrecht aufzuarbeiten, zum anderen aber auch – das erkennt man, wenn man die Artikel der Betroffenen liest – verbunden mit dem ganz klaren Appell und der ganz klaren Aufforderung in Gegenwart und Zukunft, die für uns handlungsleitend sein sollte: Kindern muss geglaubt werden.
(Beifall von den GRÜNEN)

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