Josefine Paul: „Viel zu lange hat diese Landesregierung nach dem Motto gehandelt: Frauen und Kinder zuletzt“

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktionen von CDU, FDP und SPD zu den Auswirkungen der Pandemie

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir stecken nach wie vor tief in einer weltweiten Coronapandemie. Nach den aktuellen Zahlen hatten wir in dieser Woche bundesweit über 2.000 neue Fälle pro Tag. Wir verzeichnen damit bei den Infektionen einen neuen Höchststand seit April.
(Helmut Seifen [AfD]: Schwachsinn!)
Darum ist es richtig, dass sich das Parlament weiterhin mit den vielfältigen Folgen der Krise auseinandersetzt.
Gleichwohl gilt es zu konstatieren, dass die beiden Anträge, die diesen Aktuellen Stunden zugrunde liegen, keine neuen Dinge auf den Tisch gebracht haben. Es handelt sich um altbekannte Erkenntnisse, die jedoch nach wie vor aktuell sind. Das spannt vielleicht auch ein Stück weit das Feld auf, warum es so wichtig ist, darüber zu sprechen.
Es ist gut, dass wir uns noch einmal die Unterschiedlichkeit der Auswirkungen der Krise vor Augen führen. Herr Kollege Bombis, es ist eben nicht so, dass diese Landesregierung alle gleichermaßen im Blick hat, denn diese Krise hat auch nicht alle gleichermaßen getroffen.
Viel zu lange hat diese Landesregierung nach dem Motto gehandelt: Frauen und Kinder zuletzt.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Viel zu lange hat es blinde Flecken im öffentlichen Krisenmanagement gegeben.
Ganz ehrlich gesagt gefallen Sie sich auch viel zu häufig in der Rolle des Mahners. Es wird gesagt „Die Kommunen hätten“ und „Der Bund sollte“. Man gewinnt manchmal den Eindruck, Sie wären ein Krisenmanager mit beschränkter Haftung.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Die Konsequenz ist, dass Sie Familien, Träger und Kommunen mit dieser halbherzigen Politik im Regen stehen lassen.
Zur Frage der Retraditionalisierung, auf die leider nur am Rande dieser Debatte eingegangen wurde. Wir haben bereits vor der Sommerpause einen Antrag zu diesem Thema eingebracht und auf die Gefahren hingewiesen, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für soziale Gerechtigkeit bestehen.
Damals wurde von CDU und FDP noch gesagt: Alles nicht nötig, alles nicht so schlimm. – Es stellt sich aber doch die Frage, was seitdem passiert ist. Ich konstatiere: Mehr als Applaus – und auch der ist mittlerweile verklungen – ist schlicht nicht passiert.
Die Krise hat die gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht nur verschärft, sie hat auch wie unter einem Brennglas deutlich gemacht, dass es an der Zeit ist, das Problem nicht nur zu bewundern; das ist mir in dieser Debatte leider schon wieder viel zu viel der Fall gewesen.
Vielmehr müssen wir jetzt handeln, um die soziale Infrastruktur in diesem Land auch endlich krisenfest zu gestalten,
(Beifall von den GRÜNEN)
um vor allem die Situation zu überwinden, dass die Krise in der sozialen Infrastruktur leider der Normalzustand ist.
Diejenigen, die die Unterstützung in der Akutzeit am dringendsten gebraucht hätten – da komme ich auf die Frage zurück, ob bei der Krisenbewältigung alle gleichermaßen im Blick gewesen sind –, haben sie am wenigsten bekommen. Das darf uns nicht noch einmal passieren.
Das betrifft die Menschen im Sozialleistungsbezug, die nämlich zu einem großen Teil ohne weitere Unterstützung geblieben sind.
Das betrifft die alten Menschen in den Alten- und Pflegeeinrichtungen, die zu lange isoliert waren.
(Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])
Das betrifft nicht zuletzt Kinder und Jugendliche, die quasi in ihren Zimmern verschwunden sind und damit auf einmal aus den Augen und aus dem politischen Sinn gerade dieser Landesregierung waren.
Wir müssen unsere soziale Infrastruktur stärken, denn gerade die Kleinen und die Schwachen müssen doch im Mittelpunkt einer Krise stehen.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Herr Löttgen, weil Sie gerade schon gelacht haben: Es sind doch nicht die Möbelhäuser und die Bundesliga der Männer, die im Mittelpunkt stehen müssen. Es hätten von Anfang an die Familien sein müssen, die Kinder, die Frauen und diejenigen, die den Laden am Laufen halten.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Es ist aber nicht nur ein gesellschaftlicher, sondern auch ein wirtschaftlicher Aspekt. Auch hier müssen wir leider feststellen, dass es insbesondere die Kleinen sind, die es in dieser Krise besonders trifft.
Da reicht es nicht, Kollege Schmitz, Kollege Bombis, sich auch weiterhin dafür zu beweihräuchern, welche Soforthilfemaßnahmen man geleistet hat, denn die Zahlen sind nach wie vor dramatisch; das muss man zur Kenntnis nehmen.
Trotz der gegebenen Hilfen geben 66 % der Betriebe in der Gastronomie an, derzeit um ihr Überleben zu kämpfen: milliardenschwere Umsatzeinbußen und darüber hinaus auch weiterhin Beschäftigtenrückgänge, die nur durch Kurzarbeitergeld, durch die Streckung von Insolvenzanzeigepflichten verzerrt werden.
Das heißt, die Situation kann sich dramatisch verschlechtern. Das bedeutet, es geht hier um Arbeitsplätze und darum, dringend zu handeln.
Es geht aber auch – das ist vielleicht auch ein wichtiger Aspekt – um einen Teil unseres kulturellen und gesellschaftlichen Lebens. Wenn der wegbricht, ist das schlecht für uns alle.
Die regierungstragenden Fraktionen müssen schon einen ganz besonderen Humor haben, die Aktuelle Stunde mit dieser Begründung zu beantragen. Sie verweisen ernsthaft darauf, dass die Temperaturen jetzt geringer werden, weshalb Eile geboten sei.
Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit und in einer außergewöhnlichen Situation, aber auch in dieser Pandemie bleibt eines gewiss: Auf den Sommer folgt der Herbst, und auf den Herbst folgt der Winter. Das ist auch in diesem Jahr so.
(Beifall von den GRÜNEN und Dr. Günther Bergmann [CDU] – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Das ist weder eine neue Erkenntnis, noch begründet es die Aktualität dieser Aktuellen Stunde. Es zeigt aber ein deutliches Problem dieser Landesregierung: Mit Ihrem Krisenmanagement arbeiten Sie immer von der Hand in den Mund. Sie hätten schon längst mit der Konzeptentwicklung weiter sein sollen, und nicht erst dann die große Aktualität begründen, wenn der Herbst sich klimatisch nicht mehr leugnen lässt. Das ist doch auch Teil der Wahrheit.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ihr Antrag suggeriert auch – ich hoffe, dass das so nicht der Fall ist –, Sie hätten jetzt angefangen, mit der DEHOGA zu sprechen. Ich unterstelle, dass das nicht der Fall ist, aber dann stellt sich auch wieder die Frage der großen Aktualität, die Sie in Ihrem Antrag dargestellt haben.
Es wurde mehrfach gesagt – auch von den Kollegen Schmitz und Bombis –, es sei jetzt nicht mehr Zeit für Sonntagsreden, sondern Zeit zum Handeln. – Dann tun Sie das doch auch.
(Zuruf von der CDU)
Dann kommen Sie doch bitte endlich auch ans Handeln. Ermöglichen Sie technische Lösungen. Fördern Sie sie jetzt, und machen Sie sich gemeinsam mit der notleidenden Gastronomie auf den Weg, Lösungen zu finden.
Die Ausweitung der Außengastronomie war für die warme Jahreszeit sicherlich hilfreich. Ich finde, dass sie in unseren Städten auch ein großer Zugewinn an Lebensqualität gewesen ist – das können wir ruhig beibehalten –, aber natürlich ist das keine Lösung für die Wintermonate.
Ich will deutlich sagen, dass es natürlich nicht nur um technische Lösungen, sondern auch darum gehen muss, existenzsichernde Hilfen in die Branche zu bringen.
Seit Monaten betteln Gastronomie, Schausteller und die Kulturschaffenden um Gehör und Unterstützung, doch sie finden an dieser Stelle zu wenig Gehör. Auch dafür muss es Lösungen geben.
Herr Professor Pinkwart, sehr geehrte Damen und Herren von Schwarz-Gelb, Sie müssen diesen Branchen helfen, denn damit drohen jetzt ganz wichtige Teile unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens wegzubrechen.
Es geht um technische Unterstützung bei Luftfiltersystemen, aber auch darum, wie über diesen Bereich hinaus mit konkreten Finanzhilfen abgesichert werden kann, was das Zusammenleben in unserer Gesellschaft ausmacht. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von .
Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr Minister Pinkwart, Sie haben gerade gesagt: „Bildung, Bildung, Bildung“, das sei der Schlüssel. Darin sind wir durchaus noch einer Meinung. Aber auch hier stellt sich wieder die Frage, wie es mit der Umsetzung aussieht.
(Sven Wolf [SPD]: Deswegen hat er ja zur Digitalisierung nichts gesagt! Das war ihm zu peinlich!)
Es hat sich sehr deutlich gezeigt, dass aus der in Deutschland leider nach wie vor vorhandenen Bildungsungerechtigkeit in der Coronakrise auch noch ein Digital Gap geworden ist. Wie viele Familien, Kinder und Jugendliche fanden sich am Ende ihres Datenvolumens wieder, und es war noch ganz viel Monat übrig? Auch auf diese Frage muss man eine Antwort geben.
Die Landesregierung hat sich zwar auf den Weg gemacht, hat dafür aber natürlich kein Geld on top vorgesehen. Außerdem hat es auch wieder zu lange gedauert. Schon wieder sahen sich die Kommunen und die Träger damit konfrontiert, dass die notwendigen Vorbereitungen nicht getroffen wurden. Erneut hat es lange gedauert, bis die Förderbedingungen klar waren. All diese Dinge haben doch wieder einmal mehr gezeigt, dass sich die Bildungsungerechtigkeit in diesem Land verstärkt hat.
Von der weltbesten Bildung, die Sie, Herr Professor Pinkwart, immer so vollmundig versprochen haben, ist doch spätestens nach dieser Krise nichts mehr übrig geblieben.
(Beifall von den GRÜNEN – Zurufe von Ralph Bombis und Dietmar Brockes [FDP])
Das Chaos, das in den Schulen herrschte und herrscht, und das Chaos, das zum Teil auch in den Kitas geherrscht hat, hat doch gezeigt, dass es wenig Verlässlichkeit für Eltern, Kommunen und Träger gab.
(Dietmar Brockes [FDP] – Ralph Bombis [FDP]: Das ist doch Unsinn, und das wissen Sie doch selber!)
Wenn die Anordnungen für Montagmorgen erst am Freitagsabend kommen, dann kann man nicht davon sprechen, dass diese Krise zu einem Bildungsschub geführt hat,
(Ralph Bombis [FDP]: Das ist doch Unsinn!)
dann kann man nur davon sprechen, dass diese Krise zu einem Chaosschub geführt hat.
(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP] – Glocke)
Wenn Sie sich so sehr aufregen, zeigt das doch nur eindeutig, dass auch Sie sich bewusst sind,
(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP] – Glocke)
dass an Ihrem Krisenmanagement zumindest für die Familien, Kinder und Jugendlichen in diesem Land sehr vieles zu kritisieren ist.
(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN – Ralph Bombis [FDP]: Das ist doch Unsinn!)
Diese Krise hat auch deutlich gemacht, dass Kinder kein Anhängsel ihrer Eltern sind und Jugendliche übrigens auch keine sorglose und desinteressierte Generation. Leider war diese Landesregierung viel zu lange desinteressiert an Jugendlichen, Kindern und Familien und ihren Belangen.
Den Kindern und Jugendlichen wurden ihre Lebensräume genommen. Auf einmal waren sie isoliert. Irgendwie hat sich auch keiner so richtig darum gekümmert und sich gefragt: Was macht das mit jungen Menschen, wenn sie in einer solch wichtigen Phase ihres Lebens ihrer Peergroups und ihrer Lebensräume beraubt werden? Was macht das mit jungen Menschen?
(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])
Viele junge Menschen – dazu gibt es schon Befragungen und Studien – fürchten jetzt um ihre Zukunft und fragen sich: Kann ich meiner Ausbildung noch nachgehen? Wird es den Betrieb, in dem ich meine Ausbildung machen möchte, noch geben?
Das sind Fragestellungen, mit denen sich junge Menschen beschäftigen. Es wäre schön, wenn die Landesregierung mit diesen jungen Menschen sprechen und ihre Interessen, Sorgen und Nöte ernst nehmen würde.
Ich höre gerne die Garantie und die Zusage der Landesregierung, dass Kitas und Schulen nicht mehr flächendeckend geschlossen werden sollen. Auch das ist ein wichtiges Zeichen. Aber dazu gehört, dass man mit klaren Konzepten vorangeht. Was bedeutet das in Bezug auf digitales Lernen, vor allem inhaltlich? Was bedeutet das in Bezug darauf, dass wir Gruppen möglicherweise räumlich entzerren müssen, damit sie eben nicht wieder isoliert werden müssen? Was heißt das in Bezug auf das Personal?
Auf all diese wichtigen Fragen hören wir nur wolkige Antworten. Das ist kein klares Konzept. Dann ist eine Garantie relativ schnell nicht mehr das Papier wert, auf dem sie geschrieben steht.
Es geht aber nicht nur um die Schulen und Kitas als Lebensräume junger Menschen. Junge Menschen haben auch noch andere Lebensräume, und es ist wichtig, dass sie diese anderen Lebensräume haben. Viele von uns waren gestern zum Beispiel gemeinsam unten beim BDKJ am Lagerfeuer.
Die Frage, wie junge Menschen selbstbestimmt ihr Leben gestalten können, ist in dieser Pandemie viel zu kurz gekommen. Darauf muss viel stärker geachtet werden.
Ich bleibe dabei – denn auch wenn Sie immer wieder sagen, diese Forderung langweile Sie, so wird sie deswegen noch lange nicht falsch – und fordere nach wie vor: Holen Sie nicht nur die Autoindustrie und sonst wen an den Tisch, sondern machen Sie auch einen Familiengipfel! Holen Sie endlich diejenigen an den Tisch, die so sehr unter dieser Krise gelitten haben und auch ein Mitspracherecht haben sollten! Wer Kinderrechte ernst nimmt, holt Kinder und Jugendliche mit an den Tisch, fragt sie nach ihren Bedürfnissen und nimmt ihre Sorgen und Ängste ernst. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN – Josef Hovenjürgen [CDU]: Das hat man leider während Ihrer Regierungszeit nicht gemerkt! Sie haben von dem, was Sie alles besser wissen, nichts umgesetzt! Bei Frau Beer angefangen, und bei Ihnen endet das!)