Fall Sami A. – Landesregierung ignoriert rechtsstaatliche Prinzipien

Kommunalinfo

Liebe Freundinnen und Freunde,
wir möchten Euch über die Hintergründe und Ergebnisse der heutigen gemeinsamen Sondersitzung des Rechts- und Integrationsausschusses informieren. Wie viele von Euch sicher mitbekommen haben, wurde Sami A. letzten Freitag trotz eines laufenden Verfahrens und ohne Wissen des zuständigen Verwaltungsgerichts nach Tunesien abgeschoben.
Wer ist Sami A.?
Sami A. kam 1997 als Student aus Tunesien nach Deutschland. Im Jahr 2000 soll er sich in Afghanistan in einem Ausbildungslager der Al-Qaida aufgehalten haben. 2006 gab es Ermittlungen der Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gegen ihn. Aus Mangel an Beweisen wurde das Verfahren 2007 eingestellt. Die Ausländerbehörde Bochum bemüht sich seitdem um eine Ausweisung.
Was ist geschehen?
Seit Juni wurden vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mehrere Klagen Sami A.s verhandelt. Eine Abschiebungsandrohung wurde vom Gericht als rechtmäßig bestätigt.
In einem zweiten Verfahren ging es um die Frage, ob allerdings ein Abschiebungshindernis besteht, da nicht auszuschließen sei, dass Sami A. in Tunesien gefoltert oder unmenschlich behandelt werden könnte.
Nach eigenen Angaben habe das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mehrmals beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nachgefragt, ob eine Abschiebung geplant sei und darum gebeten, das Gericht zu informieren und Sami A. nicht vor der gerichtlichen Entscheidung abzuschieben. Das BAMF soll dem Gericht daraufhin erklärt haben, dass ein bereits gebuchter Abschiebeflug am 12. Juli storniert worden sei, die bereits geplante Abschiebung am Morgen des 13. Juli soll nicht erwähnt worden sein.  
Am 13. Juli wurde Sami A. ohne Wissen des zuständigen Gerichts in den frühen Morgenstunden nach Tunesien abgeschoben. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen stellte seinen Beschluss am Abend des 12. Juli fertig und formuliert darin das Bestehen eines Abschiebehindernisses. Das Gericht schickte die Entscheidung über das Abschiebeverbot am nächsten Morgen, den 13. Juli, kurz nach 8 Uhr an das BAMF und die zuständige Ausländerbehörde. Um 9.14 Uhr wird Sami A. an die tunesischen Behörden übergeben und befindet sich seitdem in tunesischer Haft. Am Nachmittag des 13. Julis ordnete das Gericht die Rückholung Sami A.s an. Dagegen legte die Ausländerbehörde Bochum am Mittwoch Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Münster ein.
Unsere Position

  1. Selbstverständlich muss es Ziel staatlichen Handels sein, Gefährder ohne Aufenthaltsrecht außer Landes zu bringen. Man hätte Beschwerde gegen die Entscheidung des VG Gelsenkirchen einlegen können, um das Abschiebeverbot gerichtlich überprüfen zu lassen, das sind die Instrumente eines wehrhaften Rechtsstaates. Dies ist nicht geschehen. Stattdessen wurde Sami A. ohne Wissen des Gerichts nach Tunesien abgeschoben.
  2. Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren muss jedem gewährt werden. Auch wenn die Ergebnisse solcher Verfahren für die Bürger*innen manchmal schwer verständlich sind, sollten wir an diesen Grundpfeilern unseres Rechtsstaates festhalten statt übereilt Tatsachen zu schaffen.
  3. Deutschland ist ein Rechtsstaat und in einem solchen sind verfassungs- und menschenrechtliche Standards für jeden bindend. Hier darf niemand, auch kein Gefährder, in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm Folter drohen könnte. Rechtsstaatliche Grundsätze funktionieren nun einmal nur, wenn sie für alle und ohne Ausnahme gelten.
  4. Das Vertrauen in staatliche Behörden wird durch solche Aktionen gestört und auch das Vertrauensverhältnis zwischen Gerichten und Behörden in NRW ist nun beschädigt.
  5. Es geht nicht um kleine Tricksereien einer Behörde, es geht um die Unabhängigkeit unserer Justiz und grundlegende Prinzipien unseres Rechtsstaates.

Warum haben wir die Sondersitzung beantragt?
Es stellen sich viele Fragen und bislang haben wir von den zuständigen Ministern kaum Antworten bekommen. Wir wollten vor allem wissen:

  1. Wurden das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen und die Öffentlichkeit von den Behörden bewusst getäuscht oder aus welchen Gründen wurde das Gericht nicht über die geplante Abschiebung informiert?
  2. Hatte Sami A. die Möglichkeit seine Anwältin vor der Abschiebung zu kontaktieren?
  3. Wer wusste zu welchem Zeitpunkt von der geplanten Abschiebung?
  4. Warum wurde der Abschiebungsflug nicht abgebrochen, als der Beschluss des Gerichts dann vorlag?

Ergebnisse der Sondersitzung
Unsere Erwartungen an die gemeinsame Sondersitzung des Rechts- und Integrationsausschusses waren hoch – und sind enttäuscht worden. Viele Fragen sind ignoriert, unbeantwortet oder weggeschwafelt worden. Es wäre das Mindeste gewesen, dass sich Justizminister Biesenbach klar vor seine Gerichte stellt. Dazu hätte gehört, dass er sich eindeutig zu den Äußerungen unter anderem des Integrationsministers und seines Ministerpräsidenten, die Abschiebung Sami A.s sei rechtmäßig gewesen, positioniert. Dass Minister Biesenbach das nicht schafft, beschädigt ihn in seiner Glaubwürdigkeit nachhaltig. Wie eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der nordrhein-westfälischen Justiz und diesem Justizminister zukünftig noch möglich sein soll, bleibt für uns fraglich.
Integrationsminister Stamp hat in der heutigen Sitzung zugegeben, dass ihm Diskretion und Publicity vor Rechtsstaatlichkeit und Sorgfalt ging. Er hat die volle politische Verantwortung für eine chaotische und den Rechtsstaat beschädigende Abschiebung übernommen. Sami A. ist nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden ein Gefährder, er war ausreisepflichtig und wäre sehr wahrscheinlich auch zeitnah abgeschoben worden. Dass Minister Stamp gegenüber dem BAMF entscheidende Informationen bewusst unterschlagen hat, um zügig ein Exempel zu statuieren, hat erst die Aushöhlung unserer rechtsstaatlichen Prinzipien und eine rechtswidrige Abschiebung verursacht. Es bleibt unverständlich, warum Minister Stamp, nachdem ihm der Beschluss des Gerichts und damit die Rechtswidrigkeit der Abschiebung bekannt war, nichts unternommen hat, um die laufende Abschiebung zu stoppen. Zumal sich das gecharterte Flugzeug zu diesem Zeitpunkt noch in der Luft befunden haben soll.
Weitere Informationen:
Pressemitteilung Engstfeld/Aymaz: Landesregierung ignoriert rechtsstaatliche Prinzipien
Darstellung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen
Chronologie der Geschehnisse in der Süddeutschen Zeitung
Stefan Engstfeld im Interview mit dem WDR 5 Morgenecho
Interview mit Michael Bertrams, ehemaliger Präsident des NRW-Verfassungsgerichtshofs, im Kölner Stadt-Anzeiger