Finanzierung des Öffentlichen Personennahverkehrs: Solidarisches Bürgerticket als lokales Modellprojekt ermöglichen

Antrag der GRÜNEN im Landtag

I.       Ausgangslage

Die Finanzierung des Betriebs des öffentlichen Nahverkehrs in NRW wird zum Großteil von den Fahrgästen erbracht (rund 70 Prozent) und der Rest durch die Kommunen getragen. Diese kommunale Finanzierung erfolgt entweder direkt aus dem jeweiligen kommunalen Haushalt oder wird mithilfe des kommunalen Querverbunds subventioniert. Da die Kommunen auch einen Teil der Investitionen in den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) stemmen müssen, wirkt sich jede Angebotsausweitung unmittelbar auf die Haushaltssituation in der jeweiligen Kommune aus, entweder direkt oder über den Querverbund indirekt. Manche Landkreise finanzieren nur ein völlig unzureichendes Busangebot oder verzichten außer den vom Land finanzierten Schülerverkehren vollständig auf ein eigenes ÖPNV-Angebot. Diese Situation ist angesichts der dringend notwendigen Verkehrswende nicht länger hinnehmbar. Hinzu kommt, dass die stetigen Preissteigerungen im ÖPNV in den letzten Jahren mittlerweile zu großem Unmut bei den Fahrgästen, insbesondere den Abo-Kundinnen und Kunden, führen. Hier stehen die Preissteigerungen in keinem Verhältnis mehr zu einem adäquaten Angebot, im Gegenteil hat vor allem die Bedienqualität im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) in den letzten Jahren zu wünschen übrig gelassen, das Preis-Leistungs-Verhältnis hat sich zu Ungunsten der Fahrgäste verschoben. Insofern ist es dringend notwendig, die Finanzierung des ÖPNV-Betriebs neu aufzustellen und nicht allein den Fahrgästen und kommunalen Haushalten aufzubürden.
Ein diskutierter Lösungsansatz ist eine solidarische Finanzierung unter Berücksichtigung des Angebots sowie die Beteiligung von Drittnutzern, die von einem guten ÖPNV-Angebot profitieren. Neben einer deutlichen Senkung der Fahrpreise bliebe in einem solchen Modell gleichzeitig genügend finanzieller Spielraum für eine qualitative und quantitative Ausweitung des ÖPNV-Angebots.
Ein denkbares Modell zur Umsetzung eines solchen Ansatzes in die Praxis ist das sogenannte Solidarische Bürgerticket, das in Wuppertal von Bürgerinnen und Bürgern erarbeitet und von verschiedenen Akteuren der Stadtgesellschaft (Wuppertal Institut, Bergische Universität, ProBahn, verschiedene Ratsfraktionen) unterstützt wird. („Solidarisches Bürgerticket für Wuppertal“, der Bürgerticket Initiative Wuppertal, 30. Januar 2019: https://www.buergerticket-wuppertal.de/wp-content/uploads/2019/01/2019_01_30_Solidarisches-B%C3%BCrgerticket_V2neu.pdf Bei diesem Konzept geht es darum, eine neue Form der Finanzierung des Öffentlichen Personennahverkehrs in Wuppertal zu schaffen, die eine Alternative zur bisherigen steuerlichen Querfinanzierung bietet. Durch die Liberalisierung des Strommarktes sind die Gewinnspannen der Energiesparte kontinuierlich geringer geworden, so dass die Kosten für den ÖPNV zunehmend schwerer gegen zu finanzieren sind. Die (logische) Folge sind Einschränkungen des Angebots und höhere Ticketpreise. Durch die solidarische Finanzierung werden alle Bürgerinnen und Bürger, die vom ÖPNV ausreichend angebunden werden, an den Kosten des ÖPNV beteiligt und im Gegenzug mit einer Fahrtberechtigung ausgestattet.
Die Kosten für das Solidarische Bürgerticket sollen in der Regel 50 Euro im Monat pro Person betragen, wobei verschiedene Ermäßigungen vorgesehen sind:
–        Personen mit einem monatlichen Einkommen von unter 1500 Euro zahlen 30 Euro, Personen mit einem monatlichen Einkommen von unter 900 Euro zahlen nur noch 12 Euro.
–        Für Schüler*innen werden 12 Euro im Monat erhoben bzw. 6 für das zweite und 0 Euro für jedes weitere Kind. Schwerbehinderte, nicht schulpflichtige Kinder und Härtefälle zahlen ebenfalls nichts.
–        Außerdem werden Personen von der Finanzierung ausgenommen, deren Wohnsitz über keine angemessene ÖPNV-Anbindung verfügen, da zum Beispiel die Entfernung der nächstgelegenen Haltestelle außerhalb eines politisch festzulegenden Umkreises liegt oder die Fahrthäufigkeit bzw. die Betriebszeiten keine angemessene Erschließung darstellen.
Auf eine vierköpfige Familie mit zwei berufstätigen Eltern (ein schulpflichtiges Kind, ein Kind im Kindergarten) entfallen danach monatlich 112 Euro, wobei jedes Familienmitglied jederzeit im Stadtgebiet kostenfrei den ÖPNV nutzen kann (zum Vergleich: hätte die Familie bislang zwei Ticket 2000 im Abo und ein Schokoticket genutzt, wären hierfür Kosten in Höhe von 195,77 Euro im Monat angefallen).
Aus dieser Preisstaffelung kann der ÖPNV laut Initiative auskömmlich finanziert und sogar noch verbessert werden, denn wenn jeder den ÖPNV finanziert und ticketfrei nutzen kann, muss auch das Angebot entsprechend angepasst werden.
Als Voraussetzung für die Einführung eines solchen Modellversuchs im Wuppertaler Stadtgebiet braucht es laut Initiative Bürgerticket eine Anpassung des Kommunalabgabengesetzes NRW (KAG NRW), um die Erhebung eines Beitrags eigener Art zu ermöglichen. Um diese gesetzlichen Veränderungsregelungen zu prüfen, hat die Fraktion Bündnis 90/ DIE GRÜNEN im Landtag NRW beim wissenschaftlichen Dienst des Landtags ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dessen Rahmen geklärt werden sollte, „welche rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssten, um in der Stadt Wuppertal das Konzept ‚Solidarisches Bürgerticket‘ für den Öffentlichen Nahverkehr umzusetzen?“ (Rechtsgutachten über die Realisierung des „Solidarischen Bürgertickets“ in Wuppertal, erstellt durch Prof. Dr. Urs Kramer, Institut für Rechtsdidaktik an der Universität Passau v. 20.12.2019 (Information 17/223)).
Das Gutachten kommt dabei zu der Schlussfolgerung, dass der Schaffung einer normativen Grundlage zur Einführung eines lokal begrenzten Solidarischen Bürgertickets keine rechtlichen Regelungen im Wege stehen:
„Vorbehaltlich der Wahrung der dortigen Grundprinzipien steht auch das Verfassungsrecht dem Solidarischen Bürgerticket in Wuppertal nicht entgegen ebenso wenig wie das Haushaltsrecht oder das Europäische bzw. europäisch determinierte Recht. Auch einer Änderung der Vorschriften des AEG oder des PBefG ist nicht erforderlich.“ (Rechtsgutachten über die Realisierung des „Solidarischen Bürgertickets“ in Wuppertal, erstellt durch Prof. Dr. Urs Kramer, Institut für Rechtsdidaktik an der Universität Passau v. 20.12.2019 (Information 17/223) S. 63f)
Allerdings müsste eine Vielzahl an Vorschriften geändert werden, so im ÖPNVG NRW, in der Satzung des Zweckverbandes VRR, im Verbundgrundvertrag des VRR (VGV VRR), im Verkehrsvertrag VRR Schienenpersonennahverkehr, im Einnahmeaufteilungsverfahren (EAV) sowie in der Richtlinie zur Einnahmeaufteilung (EARL) (Rechtsgutachten über die Realisierung des „Solidarischen Bürgertickets“ in Wuppertal, erstellt durch Prof. Dr. Urs Kramer, Institut für Rechtsdidaktik an der Universität Passau v. 20.12.2019 (Information 17/223) S. 62). Daher wird seitens des Gutachters die Einführung einer Experimentierklausel im ÖPNVG NRW empfohlen, auf deren Grundlage dann innerhalb des KAG NRW die normative Voraussetzung für die Erarbeitung und den Beschluss einer kommunalen Nahverkehrsbeitragssatzung erfolgen kann. Damit wäre dann auch klar gestellt, dass es sich hierbei nur um die Ermöglichung eines Modellprojektes handelt mit dem Ziel, alternative Finanzierungsmöglichkeiten im Öffentlichen Personennahverkehr zu er- proben.

II.      Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

1.      die Voraussetzungen zu schaffen für die Aufnahme einer Experimentierklausel in das Ge- setz über den öffentlichen Personennahverkehr in Nordrhein-Westfalen (ÖPNVG NRW), auf dessen Grundlage dann Kommunen die Erprobung alternativer Finanzierungsmodelle für den Öffentlichen Personennahverkehr umsetzen können.
2.      das Kommunalabgabengesetz NRW (KAG NRW) dahingehend zu ändern, dass die Kommune befugt wird, über das städtische Einwohnermeldeamt einen kommunalen Nahverkehrsbeitrag zu erheben.
3.      dafür Sorge zu tragen, dass Kommunen, die sich für die Einführung eines Bürgertickets entscheiden, weiterhin Zuschüsse des Landes wie zum Beispiel die Sozialticketpauschale oder Ausbildungspauschale zur Gegenfinanzierung des ÖPNV erhalten.
4.      die jeweiligen Kommunen bei der Evaluierung der Modellprojekte zu unterstützen und den Landtag über die gewonnenen Erkenntnisse, mögliche Übertragbarkeit auf weitere Landesteile und weitere rechtliche Anpassungsbedarfe zu informieren.