Trotz massivem Vertrauensbruch – wann übernimmt die Landesregierung die Verantwortung für die Tönnies-Belegschaft?

Kleine Anfrage von Mehrdad Mostofizadeh und Norwich Rüße

Portrait Norwich Rüße
Mehrdad Mostofizadeh

Die hohen Infektionszahlen in der Tönnies-Belegschaft mit dem Corona-Virus haben grundsätzliche Fragen darüber aufgeworfen, ob der Arbeitsschutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die oberste Priorität für die Betriebe, aber auch für die involvierten politischen Instanzen hat.
So wurde der Firma Tönnies mangelnde Kooperationsbereitschaft in der Aufarbeitung des Infektionsgeschehens vorgeworfen. Die Verantwortlichen der Firma behaupteten etwa, eine Herausgabe der Daten zu den Unterkünften der gesamten Belegschaft an die Behörden sei aus Gründen des Datenschutzes nicht möglich, obwohl die Herausgabe der Daten im Infektionsschutzgesetz zum Schutz der Allgemeinheit klar geregelt ist (https://blog.wiwo.de/management/2020/06/25/wenn-fleischunternehmer-toennies-mit-dem- datenschutz-wedelt-und-geburtstagslisten-verschwinden-drei-fragen-zur-dsgvo-an-arbeitsrechtler- philipp-byers-ueber-schutzbehauptungen-und-irrtuemer-beim-daten/ und  https://www.topagrar.com/management-und-politik/news/toennies-problem-laumann-hat-glauben-an- freiwillige-vereinbarungen-mit-fleischwirtschaft-verloren-12091054.html). Dem steht auch nicht die Datenschutzgrundverordnung im Wege. Ministerpräsident Armin Laschet bemühte sich daraufhin, eine härtere Gangart gegenüber Tönnies zu demonstrieren und ließ verlauten, man habe die Herausgabe der Daten verfügt, da Tönnies nur mangelnde Kooperationsbereitschaft zeige (https://www.wz.de/nrw/laschet-wirft-toennies-mangelnde-kooperation-vor_aid-51804717 ).
Auch NRW-Arbeits- und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann von der CDU betonte oftmals in vergangenen Ausschusssitzungen und in Interviews, dass es in der Fleischindustrie kein Vertrauen geben könne (https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/toennies-landesregierung-kommentar-100.html). Er habe schon seit langem aufgehört, sich über die Fleischindustrie zu ärgern (https://rp-online.de/panorama/coronavirus/coronavirus-bei-toennies-laumann-droht-fleischindustrie- und-forder-mehr-transparenz_aid-51770629).
Ein weiterer Anlass zur Verärgerung bietet jedoch ein Antwortschreiben des Bürgermeisters der Stadt Rheda-Wiedenbrück an die Grüne Ratsfraktion Rheda-Wiedenbrück vom 23.04.2020. Darin heißt es: „Der Kreis Gütersloh und das Land NRW haben in Abstimmung festgestellt, dass Tönnies einen Versorgungsauftrag als Unternehmen mit kritischer Infrastruktur hat, was dazu führt, dass nicht an allen Stellen der Mindestabstand gewährleistet werden kann, um die notwendige Produktion fortzusetzen. Der Schutz der Mitarbeitenden wird, so Tönnies, aber auch unter diesen Voraussetzungen bestmöglich gewährleistet (https://gruene-rheda- wiedenbrueck.de/userspace/NW/ov_rheda_wiedenbrueck/Presseartikel/20200504_Antwort_Frakt._B90_Die_Gruenen_Toennies_Schutzmassnahmen.pdf). Im Schreiben wird darauf hingewiesen, dass die Antworten durch die Firma Tönnies beantwortet wurden.
Während der Aussprache zur Aktuellen Stunde und in der Fragestunde im Landtag am 25.06. sowie in einer Sondersitzung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales am 26.06. dementierte Arbeits- und Gesundheitsminister Laumann diese Darstellung. Zwar sei Tönnies als Zerlegebetrieb systemrelevant, aber gehe mit dieser Einstufung lediglich ein Anspruch auf Notbetreuung bei Kindern einher. Es gebe keinerlei Aufweichungen des Arbeitsschutzes, so wie es in der Antwort dargestellt worden sei, die Corona-Arbeitsschutzverordnungen durch das Bundesamt hätten weiterhin Bestand. Das Ministerium ergänzte, dass es über das Schreiben aus Rheda-Wiedenbrück sehr irritiert sei und sich auf Nachfrage von Seiten des MAGS herausgestellt habe, dass hier eine entscheidende Fehlinterpretation durch Tönnies vorliege.
Weder wurde aber die Frage, ob diese eindeutig rechtwidrige „Fehlinterpretation“ von Seiten Tönnies‘ vorsätzlich erfolgte, noch wie solch grundlegende und relevante Unterschiede in der Auslegung zwischen der Landesregierung und dem Betrieb zustande kommen konnten, zu diesem Zeitpunkt abschließend beantwortet. Darüber hinaus verwundert die Vorgehensweise, dass der Bürgermeister von Rheda-Wiedenbrück diese Antwort und auch die vermeintlichen Konsequenzen offensichtlich vorbehaltslos übernommen hat.
Den vielen Hinweisen und Bekundungen zum Trotz, dass der Fleischindustrie nicht zu trauen sei, überließ die Landesregierung die Versorgung der Mitarbeitenden, die sich nun in Quarantäne befinden, allein den Städten und Gemeinden zusammen mit Tönnies. Eine Verantwortung von Seiten der Landesregierung sah Laumann nicht.
So sagte Gesundheitsminister Laumann im Rahmen der Fragestunde: „Wir müssen sehen, dass die Versorgung der Menschen eine Aufgabe der Gemeinden und der Städte ist. Die örtlichen Ordnungsämter müssen das organisieren und überwachen, dass das klappt. Wenn das über die Strukturen der Arbeitgeber, die meiner Meinung nach moralisch als Allererste in der Verpflichtung dazu stehen, nicht ausreichend funktioniert, kann man Hilfsorganisationen […], die sich dann strukturell vernünftig organisiert um diese Fragen kümmern. […] [Die Versorgungsfrage] kann ich nicht von Düsseldorf aus regeln. Im Übrigen ist klar geregelt, dass die Zuständigkeit dafür bei den örtlichen Ordnungsämtern und den Gemeinden liegt.“
Doch auch hier werden Zusagen von Seiten des Unternehmens nicht eingehalten.
Beispielsweise sollte Tönnies seine knapp 500 Mitarbeitenden in Oelde, die in über 150 Unterkünften untergebracht sind, selbst versorgen. Dies habe aber laut Sprecherin der Stadt nicht geklappt, sodass das Deutsche Rote Kreuz zusammen mit dem Ordnungsamt einspringen mussten, um die überwiegend rumänischen Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen (https://www.radiowaf.de/nachrichten/kreis-warendorf/detailansicht/drk-hilft-in-oelde-bei-der-versorgung-von-toennies-mitarbeitern.html). Dasselbe Szenario zeigt sich in der Stadt Ennigerloh (ebd.).
Auch im Kreis Gütersloh kritisiert Landrat Adenauer, dass die von Tönnies angeheuerten Subfirmen die Versorgung ihrer Mitarbeitenden vernachlässigen würden, die sie dem Landrat
zugesagt hätten (https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/nach-corona-ausbruch-kreis-guetersloh-toennies-subunternehmen-lassen-mitarbeiter-in-quarantaene-im-stich/25965986.html?ticket=ST-7942400-jWbCPSO9SHxTEVWz4xEg-ap4): „Es kann nicht sein, dass nun 60 Einsatzkräfte vom Roten Kreuz, dem Malteser Hilfsdienst, den Johannitern und dem THW im Dauereinsatz sind“, so Adenauer. Zudem würden den Krisenstab „immer wieder teils groteske Details“ vom Umgang der Subunternehmer mit ihren Angestellten und deren Angehörigen erreichen.
Erst kürzlich berichtete die Süddeutsche Zeitung, dass ein Tönnies-Subunternehmen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter widderrechtlich dazu drängt, Kurzarbeitsbescheide zu unterschreiben, um Gehaltsansprüche zu drücken (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kurzarbeit-toennies-subunternehmen-fleischindustrie-1.4954553).
Das Vertrauen in die Fleischbranche, explizit auf die Firma Tönnies mitsamt seinen Subunternehmen, wurde mehrfach erschüttert. Gerade jetzt ist die Landesregierung dazu angehalten die Versorgung, den Gesundheitsschutz und die Arbeitnehmerrechte der Mitarbeitenden zu überwachen.
Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung:
1.         Wie ordnet die Landesregierung die oben zitierte Antwort auf eine Anfrage der Grünen Rheda-Wiedenbrück und deren Folgen in Bezug auf bisherige und ggf. weitere Kooperationsbeziehungen mit Tönnies ein?
2.         Am 26.6.2020 hat Gesundheitsminister Laumann mit Blick auf das genannte Antwortschreiben gesagt, dass er ja nicht alle kommunalen Schreiben überwachen könne. Dennoch hat die Antwort der Firma Tönnies erhebliche Auswirkungen auf die Wahrung des Arbeitsschutzes. Sieht das MAGS als oberste Kontrollbehörde auch weiterhin keinen Bedarf seiner Aufsichtsfunktion (in rechtlicher und/oder fachlicher Sicht) nachzukommen, d.h. jetzt auch formal gegenüber den kommunalen Behörden die Diskrepanz in der Auslegung des Arbeitsschutzes durch Tönnies und die kommunalen Behörden, der CDU-geführten Stadt Rheda-Wiedenbrück und des CDU-geführten Kreises Gütersloh klarzustellen mit der Folge, dass dies auch vor Ort künftig konsequent ausgeführt wird?
3.         Inwieweit vertritt die Landesregierung angesichts der Verlängerung der Quarantäne und im Hinblick auf lautwerdende Beschwerden über die Versorgungssituation weiterhin die Position, dass die Versorgung und Unterbringung der Betroffenen in Quarantäne allein in der Verantwortung der Kommunen in Zusammenarbeit mit Tönnies und der Subunternehmen liegen soll?
4.         Wie bewertet die Landesregierung die derzeitige Situation der Beschäftigten von Tönnies und seinen Subunternehmern bezüglich einer angemessen Unterbringung und der allgemeinen Versorgung der Betroffenen (u.a. medizinische Untersuchung und Versorgung und Versorgung mit Lebensmitteln und sonstigen Dingen des täglichen Bedarfs)?
5.         Inwieweit hat die Landesregierung ein landesweites Konzept zur sorgfältigen Durchsetzung der Quarantäne unter anderem bezüglich der Unterbringung und Versorgung mit medizinischen Ressourcen und Dingen des täglichen und ggf. individuellen besonderen Bedarfs erarbeitet?