Norwich Rüße: „Ich finde es fahrlässig von Ihnen, dass Sie diesem Unternehmen vertraut haben und es nicht hinreichend kontrolliert haben“

Aktuelle Stunde unter anderem auf Antrag der GRÜNEN im Landtag zur Verbreitung des Corona-Virus in der Fleischindustrie

Portrait Norwich Rüße

Norwich Rüße (GRÜNE): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Nach dem massiven Coronaausbruch bei der Westfleisch in Coesfeld jetzt ein zweites großes Schlachtunternehmen in Nordrhein-Westfalen, das betroffen ist: die Firma Tönnies in Rheda-Wiedenbrück.
Warum fange ich eigentlich so an, dass ich die Firma Westfleisch noch einmal so ausdrücklich erwähne? Ich glaube, das ist aus zwei Gründen wichtig.
Erstens ist es wichtig, weil sich der Unternehmer Clemens Tönnies – das möchte ich noch mal in Erinnerung rufen –, nachdem die Vorfälle bei der Westfleisch da waren, lauthals vor die Kameras gestellt und gesagt hat, man dürfe doch eine ganze Branche jetzt nicht unter Generalverdacht stellen. Er hat an der Stelle – darauf möchte ich gleich noch näher eingehen den Versorgungsauftrag, den doch seine Branche hätte, noch mal betont.
Zweitens ist es wichtig, daran zu erinnern, weil es die Vorfälle bei der Westfleisch eben sechs Wochen vorher gab. Das heißt, die Vorfälle bei Tönnies sind eben nicht so plötzlich wie ein Meteorit aus dem All aufgeschlagen, sondern es gibt einen Vorlauf, aus dem man eine Menge hätte lernen können.
Mein Eindruck ist, wenn ich mir das Krisenmanagement dieser Landesregierung angucke, dass nicht genügend aus den Vorfällen bei der Westfleisch gelernt wurde.
(Beifall von den GRÜNEN)
Mein Eindruck ist – den teilen ja viele; das ist auch in fast allen Kommentaren so zu lesen –: Ihre Entscheidungen sind unabgestimmt. Sie sind teilweise so weit gegangen, dass Landräte sich uninformiert fühlen.
Der Ministerpräsident versucht sogar, indem er die Erklärung der Firma Tönnies übernimmt, eine Schuldzuweisung in Richtung der Arbeitskräfte aus Rumänien und Bulgarien vorzunehmen, was sich dann ja als völlig falsch herausgestellt hat. Schuld sind eben nicht die Menschen, die dort unter so kläglichen Bedingungen arbeiten müssen.
Sie wandeln an der Stelle auf den Spuren von Jürgen Rüttgers. Dieser hat sich damals genau derselben Wortwahl gegenüber Rumänen bedient, als er gesagt hat, die Menschen im Ruhrgebiet würden alle pünktlich zur Arbeit kommen, aber die Rumänen könnten das nicht. Ich möchte einmal fragen: Wer von uns würde wohl pünktlich in diese Schlachthöfe gehen, um dort zu arbeiten? Die Rumänen müssen das; sie tun das.
(Beifall von den GRÜNEN)
Das, was der Ministerpräsident da gemacht hat, war purer, billiger Populismus. Das hätte er unterlassen sollen.
Es geht bei der Firma Tönnies ja nicht um irgendein Schlachtunternehmen. Es ist der größte Schlachthof Europas mit 7.000 Mitarbeitern. Fast 17 Millionen Schweine werden jährlich von dem Unternehmen in seiner Gesamtheit geschlachtet. Das ist jedes dritte in Deutschland geschlachtete Schwein.
In diesem Unternehmen schuften rumänische und bulgarische Arbeitskräfte im Akkord für billiges Fleisch, das dann – der Zusammenhang ist mir wichtig – in den Kühltruhen von Aldi, Lidl, Penny, Norma, Netto – und wie sie alle heißen – liegt. Diese billigen Arbeitskräfte, Herr Diekhoff, das ist der Punkt. Durch ihren Einsatz haben sich diese Unternehmen einen Konkurrenzvorteil gegenüber jedem kleinen Schlachtunternehmen verschafft; denn kein Metzger bei uns im Münsterland kann für das Geld jemanden einstellen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Da wird einem der Vogel gezeigt. Dafür kommt doch keiner. Das ist der große Unterschied.
Dann noch eines, Herr Diekhoff. Sie haben vom Bürokratieabbau gesprochen. – Das Schlimme ist, dass wir an der Stelle Bürokratie abgebaut haben, dass wir die Einhaltung des Arbeitsschutzes nicht kontrolliert haben. Das hat Herr Laumann richtig festgestellt. Es ist nicht hinreichend überprüft worden.
Und das ist doch etwas, was wir ändern müssen. Da können Sie doch jetzt nicht sagen, Sie wollten insofern weniger Bürokratie. Das geht nicht.
(Beifall von den GRÜNEN)
Es geht auch nicht, was Christof Rasche heute Morgen ausgeführt hat, nämlich dass wir die Menschen überzeugen müssten, bessere Produkte zu kaufen. – Nein, an bestimmten Stellen muss der Staat handeln. Er muss für ordentliche Bedingungen sorgen, damit sowohl der Tierschutz als auch der Arbeitsschutz eingehalten werden.
Wohin freiwillige Selbstvereinbarungen führen, dafür ist das das Superbeispiel. Freiwillige Selbstvereinbarungen hat genau diese Branche gemacht. Genau diese Branche hat das getan. Was ist dabei herumgekommen? Kaum etwas. Man kann auch sagen: Nichts ist dabei rumgekommen. Die Arbeitsbedingungen sind weiterhin schlecht; die Wohnbedingungen sind überwiegend schlecht geblieben. Wir haben all diese Probleme hier im Landtag – ich bin zehn Jahre dabei – schon häufiger thematisiert.
Was zu tun ist, das wissen wir eigentlich. Sie, Minister Laumann – ich möchte Sie zitieren – haben vor sechs Wochen gesagt:
„Ich habe den Schutz der Bevölkerung in den Mittelpunkt meiner Arbeit zu stellen und nicht die Interessen der Schlachtindustrie.“
Das will ich Ihnen auch abnehmen. – Was mich überrascht hat und wozu ich von Ihnen gerne nähere Auskunft hätte, ist Folgendes: Wenn diese Landesregierung die Systemrelevanz der Schlachtbranche festgestellt und sie von daher weitgehend vom Infektionsschutzgesetz ausgenommen hat,
(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Nein!)
–  Sie können das ja gleich darstellen –, dann ist die Frage: Was haben Sie getan? Welche Auflagen haben Sie den Unternehmen gemacht? Denn laut diverser Berichte haben die Arbeiter weiter dicht an dicht gestanden, es ist weitergemacht worden wie bisher. Vor vier Wochen haben Sie im Landtag betont, sie hätten kein Vertrauen mehr in die Branche. Wenn Sie aber kein Vertrauen mehr hatten: Haben Sie denn über die Bezirksregierung Kontrolleure in die Betriebe geschickt? Haben die Kontrolleure nachgeguckt?
Und warum konnten solche Bilder von den Kantinen auftauchen? Warum gibt es diese Aussagen? Da scheinen doch die Kontrollen vorne und hinten nicht funktioniert zu haben.
(Beifall von den GRÜNEN)
Wir reden immer über die Bevölkerung, die geschützt werden muss. Ich möchte als Allererstes deutlich machen: Die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Schlachthöfen sind zu schützen. Die arbeiten an den gefährlichsten Arbeitsplätzen, die wir in Nordrhein-Westfalen haben. Sie müssten wir stärker in den Mittelpunkt stellen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Es geht nicht nur darum, ob wir Einkaufen gehen oder in Urlaub fahren können, sondern es geht darum, wie wir die Gesundheit dieser Menschen schützen. Wenn wir sie schon nicht ordentlich bezahlen, sollten wir sie wenigstens vor Erkrankungen schützen. Deshalb noch einmal: Erläutern Sie, welche Auflagen Sie gemacht haben.
Was für denkwürdige Auftritte hat Clemens Tönnies vor der Presse gehabt. Er hat sich als Familienunternehmer dargestellt, aber er weiß nicht einmal die Adressen der Arbeitnehmer in seinem „kleinen Familienbetrieb“ herauszurücken. Das ist der Gipfel.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ein Unternehmen, 7.000 Mitarbeiter, darunter auch Hygieneexperten, ein Unternehmen, das immer wieder hervorhebt, dass es hygienische Standards sondergleichen erfüllen muss, um am asiatischen Markt klarzukommen, dieses Unternehmen war nach den Vorfällen in den USA, die ja noch deutlich vor denen bei der Westfleisch waren, nicht in der Lage zu überlegen, welche Möglichkeiten bestehen, um eine Verkeimung der Klimaanlage bzw. der Lüftung zu vermeiden? Das kommt jetzt im Nachhinein als Erklärung; aber Hygieneexperten müssen vorher überlegen, wo die Gefahren sind, was in diesem konkreten Fall unter anderem mit der Klimatisierung ist. Es ist mir ein Riesenrätsel, wieso das Unternehmen das nicht gemacht hat. Das ist fahrlässig sondergleichen gewesen.
(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)
Ich sage Ihnen auch: Ich finde es fahrlässig von Ihnen als Landesregierung, dass Sie diesem Unternehmen so vertraut haben und es anscheinend nicht hinreichend kontrolliert haben.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich finde Ihr ganzes Handeln zögerlich. So wird das von allen wahrgenommen. Shutdown ja, vielleicht, nein, vielleicht doch. Der Kreis Warendorf ganz, teilweise, gar nicht, doch. Keiner weiß wirklich, welche Ansagen notwendig sind.
Da erwarten die Menschen anderes Handeln. Sie haben mit dem Vorgehen, das Sie in dieser Krise gezeigt haben, klargemacht: Nach drei Jahren im Amt können Sie es immer noch nicht! Sie können es einfach nicht! – Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN)