Die europäische Solidarität in Krisenzeiten sicherstellen: NRW setzt sich für die Kooperation der EU-Staaten zur Bewältigung der Corona-Krise ein

Anrag der GRÜNEN im Landtag

I. Ausgangslage:
Die Corona-Pandemie hält die ganze Welt in Atem. Rund um den Globus kämpfen Menschen gegen die Ausbreitung des Virus. Das Leben jedes und jeder Einzelnen hat sich weltweit fundamental verändert. Das gemeinsame Ziel ist, das Virus einzudämmen und eine Überforderung der Gesundheitssysteme zu verhindern. Trotzdem haben bereits zu viele Menschen ihr Leben verloren.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zeigen, wie vernetzt die Staaten und ihre Wirtschaftssysteme in unserer globalisierten Welt sind. Nationalismus kann für die Überwindung der Krise aber nicht die Antwort sein. Vielmehr sind Hilfen für andere Staaten bei der Versorgung von Patientinnen und Patienten und mit notwendigen Materialien humanitär geboten. Offene Grenzen und freier Handel im europäischen Binnenmarkt sind darüber hinaus wichtige Errungenschaften, die es unbedingt zu erhalten gilt. Wie schon in früheren Krisen ist es notwendig, dass die Staaten der Europäischen Union zusammenarbeiten und sich untereinander besser über Maßnahmen und Hilfen abstimmen.
Die Grenzen in der Europäischen Union sollten nicht geschlossen sein. Vielmehr wäre es sinnvoll gewesen, von Anfang an grenzüberschreitende regionale und lokale Konzepte zu fahren. Da es jedoch an einer gemeinsamen europäischen Pandemieplanung und dafür notwendigen Abstimmungen der Gesundheitssysteme mangelte, erfolgte der Rückschritt ins Nationale und wurden viele Grenzen innerhalb der EU geschlossen. Die Grenzen zwischen Nordrhein-Westfalen, Belgien und den Niederlanden blieben glücklicherweise offen und ermöglichten zumindest einen eingeschränkten Grenzverkehr. Auch diese Einschränkungen müssen überwunden und ebenfalls an den anderen Grenzen im Schengen-Raum zu einem sinnvolleren Krisenmanagement übergegangen werden.
Wo regionale und lokale grenzüberschreitende Zusammenarbeit an Bedeutung gewinnt, müssen Kreise und Kommunen auch entsprechend unterstützt werden. Der Zusammenarbeit in den regionalen Gesundheitsstrukturen, insbesondere zwischen den Gesundheitsämtern bei der Pandemie-Bekämpfung, kommt beim Wegfall von Grenzschließungen und Einreisequarantänen besondere Verantwortung zu. Dies bedarf auch zusätzlicher Unterstützung, finanziell und ideell, durch die Landesregierung. Verstärkte Kooperationen, Erfahrungsaustausch, die Versorgung von Patientinnen und Patienten aus den Grenzregionen und weiter Maßnahmen müssen entsprechend zusätzlich gefördert werden.
Alle Maßnahmen zur kurz- und langfristigen Bewältigung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen sind nur mit einem tragfähigen und zukunftsorientierten Finanzierungsmodell möglich. Schon jetzt tut sich der alte Graben zwischen den finanzstarken Ländern im Norden und den  von der Eurokrise gebeutelten Staaten im Süden immer weiter auf. Nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie bei den unterschiedlichen Kapazitäten der Gesundheitssysteme: Die Pandemie zeitigt überall dort besonders tragische Folgen, wo aufgrund der Austeritätspolitik an essentiellen Elementen des Gesundheitswesens gespart wurde. Die Fehler bei der Bewältigung der einen Krise führen nur dazu, dass die nächste noch viel schlimmer wütet und die Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten stetig wachsen. Diese Fehler dürfen keinesfalls wiederholt werden, wenn uns noch etwas an einem geeinten Europa liegt. Es braucht daher ein umfangreiches europaweites Investitionspaket für den Wiederaufbau und eine solidarische Lastenverteilung. Durch gemeinschaftliche Anleihen –  sogenannte Corona-Bonds – ermöglichen wir es auch finanzschwächeren Ländern, sich die nötigen Finanzmittel zu tragbaren Konditionen zu leihen. Deutschland muss sich nun solidarisch zeigen und darf die Einführung der Corona-Bonds nicht länger blockieren.
Es braucht aber eine noch umfassendere europäische fiskalische Antwort auf die Corona-Krise in Form von Zuschüssen durch die EU: Einen solidarischen europäischen Wiederaufbaufonds, der als Priorität den Green Deal und die Digitalisierung fördert und an ökologische, soziale und wirtschaftliche Bedingungen geknüpft ist.
In den Eindämmungsmaßnahmen zur Corona-Pandemie bestehen Gefahren für viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, des Wirtschaftens, der Demokratie und der europäischen und internationalen Verständigung. Es handelt sich um einen für die Bundesrepublik Deutschland bisher einmaligen Fall, den sie als liberale Demokratie jedoch gut bestanden hat, insbesondere im Vergleich zu den autokratisch geführten und von Populisten regierten Staaten der Welt. Wichtig wäre ein stärker europaweit abgestimmtes Vorgehen bei der Pandemiebewältigung gewesen. Diese Krise zeigt uns erneut, dass wir mehr Europa brauchen, nicht weniger. Für zukünftiges Handeln in Pandemiefällen bedarf es von vorherein EU-weit abgestimmter Vorgehensweisen und plausibler Erläuterungen dieses Handelns.
Dass sich völkisch-nationale EU-Kritiker lautstark an den Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie abarbeiten, ist altbekannte Taktik, offenbart jedoch lediglich die Unfähigkeit von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten, in Krisenzeiten echte tragfähige Lösungen anzubieten, anstatt sich nur in Fundamentalkritik an der Regierungspolitik zu ergehen. So war es in der Euro- und Finanzkrise, so war es bei der Aufnahme großer Zahlen von Geflüchteten und so ist es nun wieder im Angesicht einer globalen Pandemie. Dieser Politikstil mag kurzfristige Aufmerksamkeit generieren, führt jedoch in keiner Weise zu einer Verbesserung der aktuellen Lage. Stattdessen brauchen wir europaweit harmonisierte, nachvollziehbare und ineinandergreifende Lösungen, vor allem für die drängendsten Probleme. Nur so erhalten wir das Vertrauen und die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger für die getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen.
Zu diesen Maßnahmen zählen nicht nur Kontaktverbot und Maskenpflicht, sondern auch die Abgabe medizinischer Ausrüstung wie Beatmungsgeräte oder Schutzkleidung an von der Krise besonders betroffene Länder sowie die solidarische Aufnahme von Covid-19-Patientinnen und Patienten aus europäischen Nachbarländern in nordrhein-westfälische Krankenhäuser. Solange unsere Krankenhäuser die Pandemie gut bewältigen können, muss es eine Selbstverständlichkeit sein, dass unsere Krankenhäuser im Notfall auch erneut Patientinnen und Patienten aus dem europäischen Ausland aufnehmen und um jedes einzelne Leben kämpfen. Auch wenn dieser Kampf manchmal verloren geht, so ist er doch jede Mühe wert. Unser Mitgefühl gilt den Familien und Angehörigen all derjenigen, die trotz größter Anstrengung durch das Klinikpersonal nicht gerettet werden konnten.
Neben akuten Bewältigungsmaßnahmen müssen wir den Blick jedoch auch auf die langfristigen Folgen der Krise richten. Die Corona-Pandemie hat die Defizite unseres auf in weiten Teilen stark an marktwirtschaftlichen Kriterien ausgerichteten Gesundheitswesens schonungslos offenbart. Ein ‚Weiter wie bisher‘ verbietet sich. Es ist ein Armutszeugnis, wenn Bürgermeister Schutzkleidung für ihr medizinisches Personal auf eigene Faust im Ausland bestellen müssen, weil weder Landes- oder Bundesregierung, noch die einzelnen Krankenhäuser ausreichend große Kontingente vorhalten. Produktionskosten für Schutzausrüstung immer weiter in den Keller zu drücken, ist kein Selbstzweck. Vielmehr entstehen durch die massive Auslagerung der Produktion ins Ausland unschöne bis gesundheitsgefährdende Nebeneffekte. Im Falle einer Pandemie bricht plötzlich der Nachschub ab, heimische Gewerbe können ihre Produktion nicht schnell genug umstellen und Regierungen verfallen zurück in den Nationalismus, indem sie versuchen, mit allen Mitteln möglichst viel Ausrüstung für die eigene Bevölkerung zu sichern. Das bedeutet nicht nur einen Rückfall in überwunden geglaubte Verhaltensweisen und die Aushebelung internationaler Kooperation, sondern führt bisweilen auch in die direkte Abhängigkeit von autokratischen Regimen. Eine „geheime“ Lieferung im Umfang von zwei Millionen Schutzmasken aus der Türkei nach NRW ist da nur das augenfälligste Beispiel (http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-9171.pdf). Statt Autokraten wie Erdoğan die Gelegenheit zu bieten, sich über vermeintlich großzügige Spenden in ein gutes Licht zu rücken, während für die eigene Bevölkerung in der Türkei selbst nicht genug Schutzausrüstung zur Verfügung steht, müssen die EU-Staaten dafür sorgen, dass medizinische Schutzausrüstung wieder in ausreichender Zahl dauerhaft in Europa produziert wird. Eine ausgebaute Pandemiewirtschaft und ein starkes Gesundheitssystem sind notwendige Bestandteile eines sozialen Europas.
Zu den langfristigen Lehren der Corona-Krise zählt ebenfalls, dass Europa bereit sein muss, gerade diejenigen internationalen Organisationen stärker finanziell zu unterstützen, die in Krisensituationen unerlässliche Arbeit zum Wohle der Bevölkerung leisten. Während einer globalen Pandemie muss die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unverzüglich und  uneingeschränkt handlungsfähig sein. Hier kann sich Europa nicht ruhigen Gewissens auf einen Präsidenten verlassen, der seiner eigenen Bevölkerung die Injektion von Desinfektionsmitteln empfiehlt und der finanzielle Mittel für den weltweiten Gesundheitsschutz nach Lust und Laune zusammenstreicht. In einem ersten Schritt muss die Europäische Union die aktuelle Finanzierungslücke, die durch den fehlenden Beitrag der USA entstanden ist, kurzfristig schließen. Darüber hinaus muss sie eine Strategie entwickeln, wie die Finanzierung der WHO auch unter unvorhersehbaren politischen Umständen in ihren Geldgeberländern zuverlässig abzusichern ist.
II. Der Landtag beschließt:
Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
1.     sich dafür einzusetzen, dass die Grenzen zwischen den EU-Staaten des Schengen-Raums dauerhaft und vollständig geöffnet und stattdessen grenzübergreifend abgestimmte regionale Schutz- und Eindämmungsmaßnahmen durchgeführt werden. Die Landesregierung muss dafür Sorge tragen, dass eine solche verstärkte regionale Abstimmung und Zusammenarbeit auch in den Grenzregionen von Nordrhein-Westfalen, Belgien und den Niederlanden erfolgt, wo es bisher keine Grenzschließungen gab.
2.    sich dafür einzusetzen, dass gemeinsame europäische Anleihen zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise aufgelegt werden. Der deutsch-französische Vorschlag vom 18. Mai ist hierzu grundsätzlich zu begrüßen, aber es ist darauf hinzuarbeiten, dass ein Wiederaufbaufonds für Europa deutlich größere Ausmaße erhält und durch Zuschussprogramme flankiert wird.
3.    weiterhin aktiv anderen europäischen Ländern das Angebot zu machen, besonders gesundheitsgefährdete Patientinnen und Patienten aus europäischen Nachbarstaaten aufzunehmen, wenn in diesen Staaten die Krankenhäuser überlastet sind, aber das hiesige Gesundheitssystem die Lage beherrschen und so die Chance erhöhen kann, dass das Leben der Menschen gerettet wird.
4.    sich dafür einzusetzen, dass die EU-Mitgliedsstaaten stärker miteinander kooperieren und entsprechende Kapazitäten aufbauen, um dauerhaft die Produktion von Schutzkleidung, -masken und -ausrüstung sowie weiteren medizinischen und Hygieneartikeln innerhalb der Europäischen Union sicherzustellen, wie teilweise in der deutsch-französischen Initiative vom 18. Mai vorgeschlagen.
5.    sich gegenüber der Bundesregierung dafür einzusetzen, dass sich diese dazu bereit erklärt, dass die Europäische Union die Finanzierungslücke bei der Weltgesundheitsorganisation schließt, die dadurch zustande gekommen ist, dass die Vereinigten Staaten von Amerika die fehlgeleitete Entscheidung getroffen haben, ihren Anteil an der Finanzierung der WHO einzufrieren.
6.    Kreise und Kommunen, die mit Partnerstädten in anderen europäischen Staaten zusammenarbeiten, um Schutz- und Eindämmungsmaßnahmen miteinander zu koordinieren und im Gesundheitsbereich verstärkt zu kooperieren, besonders finanziell und ideell zu fördern und zu begleiten.