Mehrdad Mostofizadeh: „Diese Krise verschärft soziale Spaltungen aufs Schärfste“

Gesetzentwurf der Landesregierung zur Bewältigung der Corona-Pandemie - zweite Lesung

Mehrdad Mostofizadeh

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte zunächst einmal Danke sagen, und zwar dafür – das möchte ich betonen, weil es mir wichtig ist –, dass die Verwaltung so intensiv gearbeitet hat und der Sitzungsdokumentarische Dienst – das finde ich immer noch sensationell – wenige Stunden nach Ende der Anhörung, die hochgradig spannend war, das Protokoll geliefert hat. Vielen Dank dafür –
(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)
und auch vielen Dank an die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen. Ja, das war ernst gemeint, was die Regierung gesagt hat: Wir wollen Änderungen an diesem Gesetzentwurf annehmen, wir wollen sie diskutieren, und wir wollen sie auch umsetzen. – Vielen Dank dafür, dass eine so offene und tatsächlich auch vernünftige Gesprächsrunde stattgefunden hat.
Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen – das will ich an dieser Stelle sagen –, verwundert mich eines schon. Der Kollege Preuß hat es vorhin in seiner Rede angesprochen. Der Gesundheitsminister macht daraus ebenfalls keinen Hehl. Auch der Ministerpräsident hat es ziemlich deutlich adressiert, als er mich in der Sitzung vorhin persönlich angesprochen hat.
Ich verstehe ja, dass der Gesundheitsminister unter Druck steht. Weil er unter Druck steht, ist das Parlament gehalten – auch die Kolleginnen und Kollegen und die anderen, die da sind –
, ein Stück weit aufzupassen. Denn am Ende verantwortet das Parlament das, was hier zu geschehen hat. Es geht nicht, allein aus einer Notsituation heraus Entscheidungen zu treffen. Deswegen ist es wichtig, auch einmal Stopp zu rufen und zu sagen: So, wie du dir das hier vorstellst, geht das heute nicht weiter.
(Beifall von den GRÜNEN und Marc Herter [SPD])
Ich sage das auch vor folgendem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass erst jetzt eine Situation entstehen würde, in der man Entscheidungen darüber treffen muss, wo Patientinnen versorgt werden. Ich kann Ihnen sagen: Jeder niedergelassene Arzt, jede niedergelassene Ärztin kämpft täglich darum, ob eine Behandlung im Krankenhaus oder woanders stattfinden kann, ob sie wichtig genug ist, ob die Plätze dort vorhanden sind. Diese Situation ist nicht erst jetzt entstanden.
Jetzt ist die Situation dramatisch, weil es oftmals um Leben und Tod geht, wenn die Möglichkeit besteht, dass keine Beatmungsgeräte vorhanden sein könnten. Aber wer sich im Gesundheitswesen ein bisschen auskennt, wer vielleicht selber einmal auf einer Pflegestation gearbeitet hat oder wer als Niedergelassener unterwegs ist, beschäftigt sich täglich mit diesen Fragen. Er muss sich täglich mit der Frage von Triage – da geht es nicht immer um Leben und Tod, aber um Sortierung, um Bestellung, um Priorisierung – auseinandersetzen.
Deswegen ist es wichtig, dass die Rahmenbedingungen verlässlich sind, kategorisiert sind, geeignet sind und so ausgestaltet sind, dass sie halten und insbesondere in Krisen, in schwierigen Situationen halten. Es ist unsere Aufgabe, das hier auch krisenfest zu formulieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Deswegen komme ich zurück zu dem Thema der Geeignetheit – nicht nur der Eingriffstiefe. Zu der Frage, wie tief wir in die Grundrechte der Menschen eingreifen dürfen, ist jetzt eine Menge gesagt worden. Es geht aber auch um die Frage, ob es geeignet war. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Idee, einen Zwangsdienst oder eine Zwangsrekrutierung vorzusehen, war nicht geeignet. Wir müssen zunächst dafür sorgen, dass nicht nur im ärztlichen Bereich, sondern auch im pflegerischen Bereich ein Freiwilligenregister vorhanden ist, das funktioniert. Das heißt, dass es nicht nur mengenmäßig aufgebaut wird, sondern auch bestimmt ist, wer wohin kommt, wo der Bedarf besteht und wie es auszugestalten ist. Dahinter muss ein Konzept stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es ist grundfalsch, Leute erst zu rekrutieren und zwangszuverpflichten, bevor man selbst seine Hausaufgaben gemacht hat. Deswegen haben wir diesen Passus auch so vehement abgelehnt.
(Beifall von den GRÜNEN)
An dieser Stelle will ich noch auf einen Aspekt zu sprechen kommen, weil der Ministerpräsident und der stellvertretende Ministerpräsident sich an meine Fraktionsvorsitzende gewandt haben, was die Frage der kommunalen Spitzenverbände und der Kommunen anbetrifft. Lieber Herr stellvertretender Ministerpräsident Stamp, was Sie vorhin dargestellt haben, ist schlicht falsch. Noch letzte Woche hat der Städtetag das beschlossen.
(Monika Düker [GRÜNE]: Richtig! So ist es!)
In einem schriftlichen Beschluss des Vorstandes stellt er fest, dass unter anderem die Altschuldenfrage und die Frage des Flüchtlingsaufnahmegesetzes zu klären sind.
(Monika Düker [GRÜNE]: Genau!)
Kommen Sie mir nicht damit, dass die Kommunen das nicht drückt. Noch heute haben alle drei kommunalen Spitzenverbände genau diese Frage an die Landesregierung adressiert. Genau das müssen wir in den nächsten zwei, drei Wochen hier im Parlament auch klären. Das ist heute damit nicht abgeschlossen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Christian Dahm [SPD]: Vollkommen richtig!) Ich möchte an dieser Stelle …
 (Zuruf von Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration)
–  Was war die Frage?
(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Waren Sie da eingeladen oder ich?)
–  Sie haben eben behauptet, dass die kommunalen Spitzenverbände das nicht an Sie adressiert hätten.
Ich komme nun aber auf einen anderen Punkt zu sprechen. Herr Gesundheitsminister, Sie haben gestern ausgeführt, Sie hielten es für richtig, dass Art. 1 § 15 so im Gesetzentwurf stehen bleibt, wie er grundsätzlich formuliert war. Gestern Nachmittag waren Sie noch der Auffassung – zumindest ist das so über den Ticker gegangen –, dass es auch so bleiben müsste.
Heute wird ja die Entscheidung fallen, dass § 15 kassiert wird und dass § 14 auch deutlich eingeschränkt wird – wobei ich Ihnen in Bezug auf § 14 sagen muss: Ich bin ganz bei Ihnen, was das anbetrifft. Aber dann sorgen Sie jetzt doch dafür, dass in dieser Landesregierung das Thema „Pandemiewirtschaft“ eine Rolle spielt, dass wir vor Ort die Kapazitäten aufbauen, dass nicht nur in Bielefeld, sondern insgesamt hier Strukturen aufgebaut werden und dass in Deutschland auch Maschinen über die Fließbänder gehen, mit denen Schutzkleidung hergestellt wird. Nehmen Sie die Anregungen der Bevölkerung an. Schließlich werden von Ingenieurinnen und anderen auch Vorschläge gemacht, wie man das verbessern kann.
Natürlich verstehe ich, dass da auch Fehler gemacht werden – das ist überhaupt nicht das Problem; wer würde die nicht machen? – und dass einem auch Leute auflauern, die jetzt Geschäfte machen wollen. Alles geschenkt! Das ist nicht der Punkt.
Aber wir müssen die Angebote annehmen, und wir müssen unserer Verantwortung auch nachkommen.
Denn am Ende des Tages werden wir uns die Frage stellen müssen, wie viel Arbeitsteilung in der Welt wir wollen. Selbst wenn wir die Maschinen hier in Deutschland haben, stellen sich folgende Fragen: Haben wir Vlies vorrätig und andere Materialien vorliegen? Können wir die Medikamente produzieren, die wir in dieser Situation brauchen?
Wenn sich am Ende des Tages die Situation darauf zuspitzt, dass wir diese ganzen Anordnungen des Zu-Hause-Bleibens deswegen erlassen müssen, weil wir keine FFP2-Masken haben, ist das letztlich auch eine Kapitulation der Gesellschaft vor ihren eigenen Strukturen. Und das darf uns auf Dauer nicht passieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Ich möchte zumindest zwei, drei Aspekte der Debatte von vorhin noch einmal aufgreifen. Es geht doch jetzt nicht um eine Exitstrategie, sondern um die Frage, unter welchen Bedingungen wir in der Gesellschaft bis zu einer Grundimmunisierung oder bis zu einem Vorliegen eines Impfstoffes miteinander umgehen wollen. Die Gegebenheiten werden bleiben. Wir müssen dann immer noch den Umgang miteinander klären. Wir müssen noch in drei Monaten die Frage klären, ob ich meine 90-jährige Schwiegermutter besuchen kann oder nicht – wenn meine 90-jährige Schwiegermutter im Pflegeheim überhaupt noch am Leben ist. Immerhin
wissen wir, dass die durchschnittliche Verweildauer in einem Altenpflegeheim nur bis zu acht Monate beträgt. Wenn wir die Maßnahmen auf acht oder zehn Monate ausdehnen, sind 80 % derjenigen, die jetzt in den Pflegeheimen sind, dann nicht mehr am Leben.
Dafür müssen wir eine Lösung finden. Ich finde es auch richtig, dass Sie das jetzt adressieren. Es muss die Frage einerseits nach dem Umgang miteinander und andererseits natürlich auch nach dem Schutz der Patientinnen und Patienten sowie der anderen Personen beantwortet werden – völlig richtig. Das gilt für den Friseur und für den Masseur. Das gilt aber auch für die Intensivstation, wo bereits jetzt – nicht erst in Zukunft – Situationen entstehen, in denen Menschen mit mäßiger Schutzkleidung und teilweise unter schlechtem Umgang arbeiten.
Deswegen schlage ich vor – das wäre auch meine Bitte für den AGS –, dass wir das nicht nur einmal diskutieren, sondern dauerhaft. Wir müssen dauerhaft Lösungen für jede Detailfrage in unserer Gesellschaft finden, und zwar nicht nur in ingenieurstechnischer Hinsicht, sondern auch unter verfassungsrechtlichen, sozialpolitischen und sonstigen Abwägungen.
Denn eines ist klar – das merken wir ganz hart –: Diese Krise verschärft soziale Spaltungen aufs Schärfste, weil diejenigen, die gespart und etwas zurückgelegt haben, sich besser helfen können als diejenigen, die auf der Straße leben, oder diejenigen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.
Deswegen – das soll meine letzte Bemerkung an dieser Stelle sein – möchte ich noch einmal sehr klar das betonen, was ich bereits vorhin gesagt habe: Die Kommunen als wesentliches operatives Moment müssen handlungsfähig sein. Dass in meiner Heimatstadt Essen der Oberbürgermeister respektive der Stadtkämmerer jetzt eine Haushaltssperre erlassen hat, ist das absolut falsche Signal.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Die Menschen müssen handlungsfähig sein. Sie müssen kreative Lösungen anbieten. Sie haben doch noch heute den Haushalts- und Finanzausschuss um eine Ermächtigung in dreistelliger Millionenhöhe gebeten, was ich ausdrücklich unterstütze bzw. unsere Fraktion unterstützt. Aber es kann doch nicht sein, dass vor Ort die Kassen zugemacht werden und der Gesundheitsdezernent „Bitte, bitte, bitte!“ sagen muss, wenn er Schutzmasken kaufen will. Das darf nicht sein.
Es muss genau andersherum sein: In den Ämtern müssen kreative Lösungen gefunden werden, und hinterher unterhalten wir uns darüber, wie wir das bezahlen.
Und es muss – das ist ein ganz wichtiger Punkt – das Signal des Landes kommen: Ja, wir stehen für unsere Kommunen ein. – Denn in den Kommunen leben die Menschen, um die wir uns kümmern müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch zwei Bemerkungen Abstimmungsverhalten:
Erstens. Wir werden beiden Änderungsanträgen zustimmen. Das haben wir auch zugesichert. Schließlich sind wir Mitautorin.
Zweitens. Den Entschließungsantrag, der viele wichtige Punkte enthält, die in Teilen erledigt sind, teilweise aber auch noch nicht – es ist ja adressiert worden, dass wir uns in den nächsten
Wochen noch darüber unterhalten werden; Stichwort „kommunale Haushaltswirtschaft“ –, werden wir zurückziehen. Ich bitte darum, darüber heute nicht abzustimmen.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Alles in allem möchte ich mich beim Parlament für diese konstruktive Befassung und Beratung bedanken. Ich wünsche mir, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten gemeinsam miteinander lernen und weiterhin aufeinander hören. Denn das hat unsere Gesellschaft verdient.
–  Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

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