Arndt Klocke: „Wie realitätsblind kann man sein?“

Antrag der GRÜNEN im Landtag zu Strategien aus der Krise

Arndt Klocke (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Coronaepidemie und ihre weitreichenden Folgen beherrschen seit Wochen das Leben der Menschen quasi weltweit und bestimmen auch unsere politischen Debatten in diesem Landtag. Wir Grüne haben die Diskussionen hier im Parlament konstruktiv geführt und die Maßnahmen der Landesregierung begleitet und an vielen Stellen unterstützt.
Was es jetzt braucht, ist ein weitreichendes und gut abgestimmtes Maßnahmenpaket in den zentralen Politikbereichen unseres Landes. Deshalb haben wir Ihnen heute einen Zwölfpunkteplan vorgelegt, der Projekte und Notwendigkeiten beschreibt, damit Nordrhein-Westfalen und unsere 18 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen möglichst gut aus dieser Krise herauskommen.
Bevor ich Ihnen aber die einzelnen Punkte dieses Pakets vorstelle, muss ich Ihnen sagen, dass wir Grüne es nicht nachvollziehen können, warum uns der Ministerpräsident – er ist noch nicht einmal anwesend – und die Landesregierung hier und heute nicht wie in den vergangenen Wochen über die aktuellen Maßnahmen und den Stand in Sachen Pandemie unterrichten und informieren.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich habe für unsere Fraktion vor einigen Tagen den Ministerpräsidenten mit dem Wunsch einer Unterrichtung angeschrieben. Dieser Brief blieb ohne Antwort und Reaktion. Stattdessen hält der Ministerpräsident in dieser Situation die Republik mit Talkshowauftritten in Atem, beschimpft dabei in Verantwortung stehende Kommunalpolitiker und deckt die verfehlte Schulöffnungsstrategie seiner Schulministerin.
 (Ralf Witzel [FDP]: Ooh!)
Ich und meine Fraktion … – Hören Sie einfach weiter zu!
(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])
Ich und meine Fraktion haben vollstes Verständnis dafür – und das meine ich an dieser Stelle ernst, auch persönlich sehr ernst –, dass diese besondere, nie dagewesene Krise jemanden in seinem Regierungsamt unglaublich herausfordert.
Aber, Herr Ministerpräsident – ich hätte es gerne persönlich adressiert, Herr Laumann wird es vielleicht ausrichten –, Beschimpfungen haben bei Ihnen leider System.
(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Ooh!)
Ich erinnere mich noch gut an die Auftritte des Ministerpräsidenten sowohl im Plenum als auch in den Medien, als es um die Frage von Fahrverboten und die Gültigkeit von Gerichtsentscheidungen in diesem Land ging. Ich erinnere mich auch an seine Einlassungen in der Debatte um die damals kurz bevorstehende Abholzung und Räumung des Hambacher Waldes.
(Dr. Martin Vincentz [AfD]: Forst! – Ralf Witzel [FDP]: Forst!)
–  Hambacher Wald.
(Ralf Witzel [FDP]: Forst!)
Den Konsens, den wir zu Beginn der Coronakrise hier im Parlament hatten und den man – jetzt hören Sie doch mal weiter zu! – in den Reihen des Parlamentes wirklich spüren konnte, den man zuletzt auch bei der fraktionsübergreifend getragenen gemeinsamen Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes spüren konnte, den haben Sie, Herr Laschet – und auch das hätte ich gerne persönlich adressiert –, und Sie, Frau Gebauer, leider verlassen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Die Kanzlerin hat dazu knapp und präzise das Notwendige gesagt: „in Teilen sehr forsch, um nicht zu sagen, zu forsch“.
Anstatt die Opposition einzubinden, werden jetzt mediale Ansagen gemacht. Dabei hätten Ihnen, liebe Landesregierung, liebe Schulministerin Gebauer, gerade in der Schulöffnungsund Prüfungsfrage ein breiter parlamentarischer und demokratischer Konsens hier im Haus wirklich gut zu Gesicht gestanden.
(Beifall von den GRÜNEN)
Frau Gebauer ist leider nicht da. Ich will ihr gegenüber – bei aller sonst bei mir vorhandenen persönlichen Sympathie – in aller Klarheit sagen, dass mich ihre Aussage im WDR-Magazin „Westpol“ am Sonntag zur Frage der Schulöffnungen in der vergangenen Woche wirklich umgehauen hat. Sie lautete wörtlich: Die Stimmung an den Schulen in Nordrhein-Westfalen ist sehr gut gewesen. An den meisten Schulen hat es gut geklappt. – Wie realitätsblind kann man sein? Wie realitätsblind kann man sein?
(Zuruf von Ralph Bombis [FDP])
Nach einem Insta-Live-Gespräch in der vergangenen Woche genau zu diesem Thema haben mich und meine Fraktion viele Zuschriften von betroffenen Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrern erreicht. Ich will Ihnen sagen, dass mich einige davon wirklich persönlich berührt haben.
(Ralph Bombis [FDP]: Ach bitte!)
Dort wird von Angstzuständen, Depressionen und Zukunftsängsten …
(Widerspruch von Ralph Bombis [FDP] und Ralf Witzel [FDP] – Glocke)
–  Lieber Kollege, ich kann Ihnen diese Mails, die ich bekommen habe, gerne persönlich weiterleiten. Das müssen Sie aushalten, dass Sie sich das jetzt hier von mir anhören!
(Beifall von den GRÜNEN – Unruhe – Glocke)
Diese Mails habe ich nach einem Insta-Live-Gespräch mit Frau Beer am vorigen Samstag bekommen.
(Ralph Bombis [FDP]: Reden Sie mal mit denen, die hinwollen! Reden Sie mal mit den anderen! Sie sind erbärmlich, Herr Klocke, wirklich erbärmlich! – Weitere Zurufe – Ralph Bombis [FDP]: Ne, ganz traurig! Echt eine traurige Figur!)
–  Als jemand, der selbst mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen hatte, will ich Ihnen sagen, dass ich sehr gut weiß, worüber diese jungen Leute hier sprechen. Sie, Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der FDP-Fraktion, sollten diese Rückmeldungen wirklich ernst nehmen.
(Beifall von den GRÜNEN – Ralph Bombis [FDP]: Also bitte!)
Diese aktuellen Sorgen und Nöte an den Schulen bekommen Sie durch Ihre Beschimpfungen der Opposition und von Lehrerverbänden in sozialen Netzwerken – da ist Herr Brockmeier aus Ihrer Fraktion ganz vorne dabei – und die Herabwürdigung von besorgten Schülerinnen und Eltern nicht ruhiggestellt.
Petitionen mit zig Hunderttausend Unterschriften
(Zuruf von der FDP: Zig Hunderttausend?)
sprechen hier eine glasklare Sprache. Sie sollten das ernst nehmen. – Ja, es sind mehrere Hundertausend Unterschriften gewesen.
Jetzt zu dem Antrag, den wir heute eingebracht haben: Wir haben in dem Antrag die verschiedenen Bereiche durchdekliniert und machen anhand von zwölf Punkten sehr konstruktive Vorschläge für ein gutes Regierungshandeln hier in Nordrhein-Westfalen. Es muss klar sein, dass wir eine behutsame Öffnung voranbringen und gleichzeitig – diese Auffassung werden Sie sicherlich teilen, Herr Laumann – eine zweite größere Infektionswelle verhindern können.
Die aktuellen Zahlen der vergangenen Tage lassen jedoch aufhorchen. Die Situation ist noch fragil. Die Bürgerinnen und Bürger beschäftigen – jedenfalls nach meiner, nach unserer Einschätzung – mehr die Fragen, wann Spielplätze wieder geöffnet werden und wie sie ihre pflegebedürftigen oder kranken Angehörigen wiedersehen können, als die Fragen, wie es um die Öffnung der Möbelhäuser steht oder wie es der regionalen Küchenindustrie in Nordrhein- Westfalen geht.
 (Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])
Ich selber habe meinen Vater, der seit einigen Monaten in einem Altenpflegestift lebt, seit drei Monaten nicht mehr gesehen. Ich kann Ihnen persönlich sagen, dass mir das sehr, sehr nahegeht.
Sehr geehrte Landesregierung, liebe regierungstragende Fraktionen, legen Sie uns einen geordneten Plan vor, wie wir die grundlegenden Menschenrechte – davon hatte auch Herr Schäuble in seinem bemerkenswerten Interview gesprochen – in diesem Land wieder gewähren können. Herr Reul – auch das hätte ich gerne persönlich adressiert –, das Versammlungsrecht gehört auch dazu.
(Beifall von den GRÜNEN)
Dabei darf in den kommenden Wochen und Monaten die Kluft zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinanderdriften. Darüber haben wir eben noch diskutiert. Wir brauchen deshalb auch für Solo-Selbstständige, Studentinnen und Studenten und Kulturschaffende ein existenzsicherndes Mindesteinkommen.
Lassen Sie uns zusammen mit nachhaltigen Konjunkturkonzepten dafür sorgen, dass die Erkenntnisse des Klimakrisenjahres 2019 nicht in Vergessenheit geraten. Erst gestern gab es einen bemerkenswerten Aufruf von 60 führenden Unternehmen: Allianz, Covestro, REWE, Vaillant, Melitta. Mir geht es hier nicht um Werbung, ich will nur deutlich machen, dass es führende deutsche Großunternehmen sind, die einen sehr glasklaren Appell an die Politik gerichtet haben.
Dabei gilt es, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Wenn ich mir die Äußerungen des Ministerpräsidenten Weil zu einer zweiten Abwrackprämie genau anschaue, sage ich das ganz bewusst auch an die Adresse der SPD. Das hat schon vor zehn Jahren in die falsche Richtung geführt.
(Zuruf von Britta Altenkamp [SPD])
Wir sollten diesen Fehler jetzt in der Klimakrise und während der Zuspitzung der ökologischen Krise auf keinen Fall wiederholen, sehr geehrte Damen und Herren.
(Beifall von den GRÜNEN)
Wir Grüne sind weiterhin zur konstruktiv-kritischen Mitarbeit in dieser schwierigen und wichtigen Zeit bereit. Nutzen Sie die Chance, liebe Landesregierung und regierungstragende Fraktionen, die in einem breiten politischen Konsens liegt. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall von den GRÜNEN)