Unabhängige Beratung von Langzeitarbeitslosen ist ein bundesweites Vorbild – Arbeitslosenzentren (ALZ) und Erwerbslosenberatungsstellen (EBS) über 2020 hinaus erhalten!

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Mehrdad Mostofizadeh

I.         Ausgangssituation: Langzeitarbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen
Laut der Statistik Langzeitarbeitslosigkeit (Monatszahlen) der Bundesagentur für Arbeit waren im Oktober 2019 626.191 Bürgerinnen und Bürger in NRW arbeitslos, davon waren 240.987 von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Die Bundesagentur für Arbeit hebt in ihrem Bericht: Blickpunkt  Arbeitsmarkt  –  Arbeitsmarktsituation  von  langzeitarbeitslosen   Menschen   (Juni 2019 – https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer- Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/generische-Publikationen/Langzeitarbeitslosigkeit.pdf
) die besondere Betroffenheit Nordrhein-Westfalens in Bezug auf die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit mit einem hohen Anteil von 41.6% hervor (ebd.). Fünf von zehn Kreisen mit den höchsten Langzeitarbeitslosenquoten entfallen zudem auf Nordrhein- Westfalen (Gelsenkirchen, Duisburg, Oberhausen, Recklinghausen und Krefeld). Der Kreis Gelsenkirchen rangierte im bundesweiten Jahresdurchschnitt 2018 mit einer Langzeitarbeitslosenquote von 5,8% auf Platz 1, dicht gefolgt von Duisburg und Oberhausen mit je 5,1% (ebd.). So überrascht es nicht, dass Nordrhein-Westfalen mit einer Quote von 2,8% Langzeitarbeitslosen, gemessen an allen Erwerbspersonen, als drittschlechtestes Bundesland abschneidet. Diese Zahlen belegen, dass stärker noch als bisher Anstrengungen nötig sind, um Menschen – einerseits – Möglichkeiten zu bieten, ihren Weg zurück in den Arbeitsmarkt zu finden und – andererseits – die soziale Dimension nicht zu vernachlässigen, um Menschen, die sich in Langzeitarbeitslosigkeit befinden, zu stabilisieren und vor Vereinsamung zu schützen.
Mit dem Teilhabechancengesetz rückt die Landesregierung jedoch allein die Arbeitsmarkt- Reintegration in den Fokus der Förderung von Langzeitarbeitslosen. Die neuen, in §§ 16e und i SGB II festgeschriebenen Anreizsysteme, welche durch ein Coaching begleitet werden, sollen Arbeitgeber und Arbeitssuchende gleichermaßen adressieren. Die bisherige Entwicklung der Instrumente zeigt, dass insbesondere §16 i SGB II auf das Interesse von Arbeitgebern stößt.
Die Annahme jedoch, dass jede Person wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren sei, wenn sie nur die passende Stelle und ein beratendes Coaching an die Seite gestellt bekommt, ist trügerisch und entspricht nicht der Realität. Für viele Betroffene ist der Leistungsbezug ein Dauerzustand. Zudem werden die Gründe, warum Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit münden, zunehmend komplex, die eine individuelle und behördenunabhängige Beratung und Begleitung der Betroffenen notwendig macht. Nur so kann in vielen Fällen das nötige Vertrauensverhältnis entstehen, welches zu einer Stabilisierung der Ratsuchenden führt. In einigen Fällen kann so der Wiedereintritt in die Arbeitswelt erreicht werden, in anderen Fällen unterstützt die Beratung die gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen und bietet Schutz vor sozialer Vereinsamung.

II.  Erfolgreich Hilfe zur Selbsthilfe geben – Qualität und Expertise der ALZ und EBS

Schon seit Langem bieten die insgesamt 73 EBS und 79 ALZ eine unabhängige und individuelle Beratung für Langzeitarbeitslose in Nordrhein-Westfalen an. Bereits 1984 förderte die Landesregierung NRW erstmalig in Zusammenarbeit mit verschiedenen sozialen Trägern erstmalig die unabhängige Beratung und Begleitung von Personen in Langzeitarbeitslosigkeit (G.i.B. (2013): Evaluierung des ESF-kofinanzierten Landesprogramms „Erwerbslosenberatungsstellen und Arbeitslosenzentren“ – Endbericht, S. 10.). Hintergrund waren die durch die Ölkrise gestiegenen Arbeitslosenzahlen in NRW und der verminderte individuelle Rechtsschutz aufgrund der Beseitigung der Widerspruchsausschüsse in den damaligen Arbeitsämtern ((G.i.B. (2013): Evaluierung des ESF-kofinanzierten Landesprogramms „Erwerbslosenberatungsstellen und Arbeitslosenzentren“ – Endbericht, S. 10).
Im Zeitraum zwischen 2008 und 2010 strich die damalige CDU/FDP-Landesregierung die Fördermittel für Arbeitslosenzentren und Erwerbslosenberatungsstellen und entzog damit nicht nur den Langzeitarbeitslosen einen wichtigen Anlaufpunkt, sondern strich auch den Kommunen und Quartieren ein wirksames Instrument zur Erhaltung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die damaligen Regierungsparteien waren auch damals schon der Ansicht, dass die Beratung von Arbeitslosen originäre Aufgabe der Jobcenter sei, obwohl diese nicht über dieselbe Unabhängigkeit verfügen konnten, wie die trägerunabhängigen Arbeitslosenberatungszentren. Erst 2011 konnte die nachfolgende SPD/Grünen- Landesregierung die unabhängigen Beratungsstellen wieder aufbauen und so an die noch bestehende Expertise anknüpfen. Die Programmkoordinierung, -evaluierung und Qualitätskontrolle übernimmt dabei die Gesellschaft für innovative Beschäftigung (G.i.B.), die Finanzierung der Beratungsstellen erfolgt bisher durch das für Arbeit zuständige Ministerium und durch den Europäischen Sozialfonds (ESF), dessen Förderphase Ende 2020 endet.
Die EBS und ALZ haben sich im Laufe der Zeit bedarfsgerecht weiterentwickelt und sich als wichtige Unterstützungssäule für die soziale Stabilität etabliert, die sowohl bei den Ratsuchenden als auch bei den Arbeitsagenturen und Kooperationspartnern aufgrund ihrer fachlichen Expertise und Nähe zu den Kundinnen und Kunden auf hohe Akzeptanz stoßen (G.i.B. (2013): Evaluierung des ESF-kofinanzierten Landesprogramms „Erwerbslosenberatungsstellen und Arbeitslosenzentren“ – Endbericht, S. 83). Mittlerweile erstreckt sich das Beratungsfeld der EBS von der beruflichen Entwicklung über die wirtschaftliche und psychosoziale Situation der Ratsuchenden, der Unterstützung in Rechtsfragen bis hin zu Weitervermittlung zu anderen Netzwerken zu weiterführenden Angeboten. Wo Bedarf besteht, beraten die EBS in Kooperation mit weiteren Projekten, wie etwa „Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten“ (https://www.aulnrw.de/de/projekte/projekte/arbeitnehmerfreizuegigkeit-fair-gestalten/) zum Themenbereich Arbeitsausbeutung, indem sie ihre sozialrechtliche Expertise zur Verfügung stellen (Freie Wohlfahrtspflege (30.10.2019): „Nordrhein-Westfalen braucht unabhängige Erwerbslosenberatungsstellen und Arbeitslosenzentren (Zuschrift 17/351)).
Die ALZ hingegen legen ihren
Fokus insbesondere auf ein niedrigschwelliges Angebotsspektrum, das beispielsweise in Form von Mittagstischen Begegnungsmöglichkeiten schafft. Darüber hinaus fördern Empowerment-Angebote die Selbsthilfekompetenz der Betroffenen. Je nach Bedarf passen EBS und ALZ ihre Angebote regionalspezifisch an die Belange ihrer Kundinnen und Kunden an, sodass die Angebotsportfolios nicht überall deckungsgleich sind.
Allen EBS und ALZ ist jedoch gemein, dass die Ratsuchenden ihre Leistungen freiwillig in Anspruch nehmen und sie aufgrund ihrer Unabhängigkeit von staatlichen Strukturen eine Vermittlerrolle zwischen Jobcentern oder Arbeitsagenturen auf der einen Seite und den Kundinnen und Kunden auf der anderen Seite einnehmen können. Durch ihre Beratung auf Augenhöhe erreichen die Beratungsstellen einen großen Kundenkreis, zu denen vermehrt auch Frauen und Ausländerinnen und Ausländer zählen. Durch ihre hohe Expertise und ihr weitreichendes Netzwerk genießen die ALZ und EBS auch bei anderen Akteuren Vertrauen und Anerkennung. Regelmäßige Evaluierungs-berichte bescheinigten in den letzten Jahren wiederholt die hohe Fachexpertise, gute Vernetzungsarbeit und langjährige Erfahrung beider Institutionen.

Soziale Integration von Langzeitarbeitslosen als zentrale Landesaufgabe ernstnehmen!

Dass der Beratungsbedarf der durch die ALZ und EBS betreuten Zielgruppen unverändert groß ist, belegen unter anderem die im vergangenen Jahr gestiegenen Beratungszahlen (2016:  69.794  2018:  77.797  Beratungen  der  EBS (Freie Wohlfahrtspflege (30.10.2019): „Nordrhein-Westfalen braucht unabhängige Erwerbslosenberatungsstellen und Arbeitslosenzentren (Zuschrift 17/351)),  was  einer  Steigerungsrate  von 11,5 Prozent entspricht.
Ungeachtet dessen plant die Schwarz-Gelbe Landesregierung, wie schon 2008, das Programm nach Ende 2020 nicht – oder zumindest nicht in der bisherigen Form – weiterlaufen zu lassen. Obwohl gerade der Soziale Arbeitsmarkt durch die angesprochenen neuen Instrumente im SGB II ausgebaut werden soll und kein anderes Netzwerk über so viel Expertise verfügt, einen vergleichbaren Zugang zur Zielgruppe hat und das Vertrauen der Betroffenen in diesem Umfang genießt wie die ALZ und EBS, erkennt die Landesregierung diese auf der Hand liegenden Synergieeffekte nicht. So könnten die Beratungsstellen ein wichtiger Multiplikator für die SGB II-Instrumente sein, um auf Betroffene zuzugehen und Interessierte in die Lage zu versetzen, die Maßnahmen erfolgreich durchzuführen. Denn genau darin besteht eine Kernherausforderung für die Jobcenter, wie es auch im jüngsten Spitzengespräch am 11. Oktober 2019 zum Umsetzungsstand des Teilhabechancengesetzes von Seiten des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) und der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen formuliert wurde.
Mit dem Vorstoß des NRW-Arbeitsministers, das Netzwerk der EBS zu nutzen, um möglichst kostengünstig eine flächendeckende Struktur gegen Lohndumping und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zu etablieren und damit Handlungsfähigkeit zu beweisen, werden zwei Gruppen in prekären Verhältnissen gegeneinander ausgespielt. (https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/minister-laumann-preiskampf-der-fleischwirtschaft-nicht-zu- lasten-von-arbeitnehmern)
Die Landesregierung muss genügend Mittel sowohl in die Bekämpfung von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen als auch in die Stabilisierung von Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit investieren, um den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft nicht zu gefährden.

III.      Der Landtag stellt fest:

Die Arbeitslosenzentren und die Erwerbslosenberatungsstellen haben eine lange Tradition in NRW und stellen eine bundesweit einmalige Struktur dar. Mit ihren trägerunabhängigen Beratungsleistungen auf Augenhöhe und ihrer hohen Fachexpertise stoßen sie sowohl bei ihren Kundinnen und Kunden als auch bei ihren Kooperationspartnern auf hohe Akzeptanz.
Die langjährige gute Arbeit der Beratenden muss auch in Zukunft gesichert sein, sodass die Angestellten in Anerkennung ihrer Leistung auch eine langfristige Perspektive haben.

IV.     Der Landtag beschließt:

Die Landesregierung wird aufgefordert,
1.       die jahrelange Expertise und Arbeitserfahrung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller ALZ und EBS anzuerkennen;
2.       die bisherige Beratungsarbeit und Tätigkeit zur Stabilisierung von Langzeitarbeitslosen als Kerntätigkeit der ALZ und EBS beizubehalten und auch über 2020 auskömmlich zu fördern;
3.       gemeinsam mit der G.i.B. und in Zusammenarbeit einzelner betroffener ALZ und EBS zu überprüfen, inwieweit es weiterer regionalspezifischer und bedarfsgerechter Angebote bedarf, um den Sozialen Arbeitsmarkt in NRW auszubauen;
4.       Arbeitsschutz als unabhängiges Aufgabenfeld zu betrachten und ein eigenes flächendeckendes Beratungssystem zu entwickeln, das speziell für den Themenkomplex ausgebildet ist. Die EBS und ALZ können dabei als wichtige Kooperationspartner in die Planung einbezogen werden.