Josefine Paul: „Vielfalt, Offenheit und Demokratie sind auch heute wieder Felder der Auseinandersetzung“

Antrag der SPD-Fraktion zu "30 Jahre friedliche Revolution"

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 9. Oktober 1989 – heute genau vor 30 Jahren – markiert vielleicht den eigentlichen Wendepunkt in der jüngeren deutschen Geschichte. An diesem Abend – das ist bereits mehrfach beschrieben worden – gingen 70.000 Menschen in Leipzig für Freiheit und Demokratie auf die Straße. An diesem Abend entschied sich nicht nur, dass die DDR vor einer revolutionären Wende stand; vor allem entschied sich an diesem 9. Oktober, dass diese Revolution friedlich verlaufen würde.
Die Führung der DDR beschloss, nicht auf eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste zu setzen. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk spricht davon, dass an diesem Abend das Regime de facto kapitulierte.
Dabei war ein friedlicher Ausgang der Demonstration und damit der gesamten Revolution keineswegs vorherzusehen. Noch im Juni hatte die DDR-Führung die blutige Niederschlagung des Protests auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz begrüßt. Die Botschaft dahinter verstanden viele als klare Drohung gegen die Protestbewegung im eigenen Land.
Deshalb herrschte am 7. Oktober 1989 in erster Linie eine große Anspannung. Würden die Machthaber der DDR auch zu einer „chinesischen Lösung“ greifen?
Es ist ein Glücksfall der Geschichte, dass dies nicht passierte und damit eine friedliche Revolution möglich geworden war. Ich möchte sehr deutlich betonen, dass dies die einzige friedliche Revolution in der deutschen Geschichte gewesen ist.
Die Wendung der Geschichte kam aber nicht aus dem Nichts. Den ersten großen Erfolg fei- erte die Opposition im Mai 1989; denn da waren die Kommunalwahlen vom 7. Mai als eine Art Wahlfarce enttarnt worden. Eigentlich – das muss man im Unrechtsstaat der DDR leider so konstatieren – war das keine außergewöhnliche Geschichte. Nur: Diesmal konnten die Oppositionsgruppen nachweisen, dass die Ergebnisse systematisch gefälscht worden waren. Das stärkte die Opposition.
Ein weiterer Katalysator für die Ereignisse in Sommer und Herbst 1989 war, dass im Sommer 1989 viele Menschen die DDR verließen. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir vor wenigen Tagen alle noch einmal die Bilder von der Prager Botschaft sehen konnten, von deren Balkon Hans-Dietrich Genscher am 30. September die Ausreisemöglichkeit für die Menschen, die auf dem Gelände ausgeharrt hatten, verkündete.
Am 9. November fiel dann die Mauer – ein Ereignis, das sich aufgrund seiner Bilder und der friedlichen und freudigen Begegnungen von Ost und West fest ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.
Der Fall der Mauer und die Deutsche Einheit wären aber nicht ohne die friedliche Revolution und die mutigen Menschen, die sich selbst befreiten, möglich gewesen. Zu oft aber verblasst dieser entscheidende Beitrag zur Demokratiegeschichte unseres Landes hinter den großen Daten des 9. November und des 3. Oktober. Dabei ist die friedliche Revolution ein Lehrstück der deutschen Geschichte für Demokratie und Freiheit, und das nicht nur im Osten unserer Republik.
Nicht nur die Geschichte der DDR als Unrechtsstaat und die Erinnerung an die Opfer der zweiten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert – darauf ist zu Recht schon vielfach hingewiesen worden – müssen fester Bestandteil von Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur sein. Die Geschichte der friedlichen Revolution darf und muss zu einer gesamtdeutschen Geschichte werden. Die Deutsche Einheit ist nämlich kein Ostprojekt.
(Beifall von den GRÜNEN)
Sehr geehrte Damen und Herren, 30 Jahre nach friedlicher Revolution und Mauerfall wird vielfach über die Deutsche Einheit Bilanz gezogen. Nicht weiter überraschend fällt diese Bilanz nicht nur zwischen dem Osten und dem Westen, sondern generell natürlich auch zwischen den Menschen und ihren unterschiedlichen Erfahrungen unterschiedlich aus.
Geschichte hat auch immer etwas mit Begegnungen zu tun. Auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution braucht es noch immer Anlässe für Begegnung, gegenseitigen Austausch und damit auch Beiträge zum gegenseitigen Verständnis.
Manchmal passieren dann ganz erstaunliche Dinge. Im Landtagswahlkampf in Sachsen kam es zu einer „rheinischen Versöhnungsgeschichte“; denn die Grünen-Kreisverbände von Köln und Düsseldorf fuhren gemeinsam zu den grünen Kolleginnen und Kollegen nach Chemnitz, um sie im Wahlkampf zu unterstützen. Ist es nicht eine schöne Geschichte, wenn es Chemnitz schafft, dass Köln und Düsseldorf gemeinsam dort ein Projekt angehen?
(Beifall von den GRÜNEN)
Manchmal kommt es also zu kleinen lustigen Begebenheiten, die bei aller Ernsthaftigkeit des Ereignisses vielleicht auch zur Sprache kommen dürfen.
Die Deutsche Einheit war mit dem 3. Oktober – und auch mit der kleinen Geschichte von Köln und Düsseldorf in Chemnitz – aber nicht abgeschlossen. Im Gegenteil! Die eigentliche Arbeit fing damals natürlich erst an.
Die Wendezeit ist für die Menschen im Osten Deutschlands eine Zeit von Hoffnung und Aufbruch, aber auch von Brüchen gewesen. Vor allem die Wirtschaft und damit der Arbeitsmarkt brachen mehr oder weniger zusammen. Aus der Arbeitsgesellschaft der DDR wurde die Transformationsgesellschaft der neuen Länder. Mit der Arbeit verloren viele Menschen auch ihr soziales Gefüge. Der Betrieb war in der DDR nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch Lebensort.
Zur deutschen Geschichte nach 1989 gehören auch diese Geschichten und Erfahrungen. Es ist nicht zuletzt die Geschichte eines gigantischen Strukturwandels. Wer wüsste nicht auch Geschichten und Gemeinsamkeiten zum Thema „Strukturwandel“ zu erzählen, wenn nicht wir in Nordrhein-Westfalen? Vielleicht sind auch das Anknüpfungspunkte für gemeinsame Erfahrungen und für einen gemeinsamen Austausch von Erzählungen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Dabei muss man konstatieren, dass dieser gigantische Strukturwandel im Osten vielleicht in der gesamtdeutschen Zeitgeschichte durchaus ein Nischendasein führt und möglicherweise hinter anderen Strukturwandelprozessen in der westdeutschen Geschichte verblasst.
Das Zeitgeschichtliche Form Leipzig hat diesen Transformationsleistungen in seiner Dauerausstellung Raum gegeben. Denn der Einheitsprozess endet, wie schon gesagt, eben nicht mit dem 3. Oktober.
Vielleicht fängt damit eine gesamtdeutsche Geschichte erst richtig an. Diese ist es wert, beispielsweise im Geschichtsunterricht auch hier, tief im Westen, mehr beachtet zu werden.
Darüber, ob dieser Diskussionsprozess trotz aller Verweise der NRW-Koalition schon am Ende ist, sollten wir gemeinsam noch einmal sprechen. Es ist richtig, dass diese Bereiche auch in der historischen und politischen Bildung gestärkt werden. Aber der Diskussionsprozess über den Weg dorthin und darüber, wie intensiv wir bestimmte Bereiche bearbeiten, ist sicherlich noch nicht am Ende.
Martin Sabrow konstatiert:
„Die Zäsur von 1989 hat jedenfalls in Deutschland keine generationelle Prägekraft entfaltet.
… ,1989‘ ist also ein … bis heute vieldeutiger und unscharf markierter Erinnerungsort.“
Ich denke darüber nach, ob das denn so ist, ob es also etwas ist, was keine gemeinsame Prägekraft entfaltet hat, und darüber, was das denn dann für eine gesamtdeutsche Demokratiegeschichte heißt. Ich habe mich gefragt, warum in vielen ostdeutschen Parlamenten zum
9. November oder zum 3. Oktober Gedenkveranstaltungen stattfinden, aber nicht in jedem deutschen Landesparlament. Ist es nicht eigentlich eine gesamtdeutsche Erzählung?
Nächstes Jahr feiern wir 30 Jahre Deutsche Einheit. Das wäre doch eine gute Gelegenheit, auch hier in Nordrhein-Westfalen einmal zu überlegen: Was hat das eigentlich mit uns gemacht? Was bedeuten 30 Jahre Deutsche Einheit denn für uns? Welche Erfahrungen haben wir damit gemacht?
Vielleicht ist das eine gute Gelegenheit, zu diesem Anlass auch hier eine genauere Betrachtung, eine Veranstaltung, eine Feierstunde zu machen, um gemeinsam daran zu erinnern und gemeinsam zu reflektieren, was das eigentlich für uns als Gesamtdeutschland bedeutet.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Auf einem Plakat aus dem Herbst 1989 war „Für ein offenes Land mit freien Menschen“ zu lesen. Diese Forderung ist auch heute noch aktuell; denn Vielfalt, Offenheit und Demokratie sind auch heute wieder – vielleicht waren sie es auch immer – Felder der Auseinandersetzung und der gesellschaftlichen Aushandlung.
30 Jahre friedliche Revolution sind nicht nur ein Grund, historisch zurückzublicken und möglicherweise gemeinsam Perspektiven auszuloten, die diese geschichtsträchtigen Momente mit sich gebracht haben. Vielmehr lohnt es sich meiner Meinung nach auch, von dort einen Blick nach vorne zu werfen, darauf aufzusetzen und festzuhalten, dass diese 30 Jahre friedliche Revolution und der damit verbundene Kampf der Menschen um Meinungsfreiheit und
Demokratie uns nicht zuletzt daran erinnern können und daran erinnern müssen, welch großen Wert es hat, dass wir in unserer Gesellschaft heute genau diese Diskussion über Offenheit und die Art und Weise, wie wir zusammen leben wollen, führen können. – Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)