Worauf die Welt nicht gewartet hat: Warum greift die Schulministerin in die Mottenkiste der verbindlichen Schulformempfehlung?

Kleine Anfrage von Sigrid Beer

Die alte schwarz-gelbe Koalition hatte 2006 die Schulformempfehlungen in Klasse 4 verbindlich gemacht. Demnach sollten nicht mehr die Eltern entscheiden, sondern die Lehrkräfte festlegen, auf welche Schulform das Kind wechseln sollte. Dies würde objektiver und „begabungsgerechter“ geschehen und das gegliederte Schulsystem stabilisieren. Zudem mussten Kinder einen „Prognoseunterricht“ durchlaufen, wenn sich Grundschullehrkräfte und Eltern über die Empfehlung uneins waren.
Schon bei der Einführung der verbindlichen Grundschulempfehlung haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Elternvertreterinnen und -vertreter, die Landesschülerinnen/Landesschülervertretung und Lehrerverbände den Schritt kritisiert. Die ausgesprochenen Schulformempfehlungen der Jahre 2007-2010 zeigten dann auch, dass von Objektivität keine Rede sein konnte. So waren zum Beispiel die regionalen Unterschiede im Übergang zum Gymnasium so stark, dass sie unmöglich in der „Begabung“ der Kinder begründet sein konnten.
Schließlich haben 2009 mehr als 1000 Grundschulleiterinnen und -leiter einen offenen Brief unterschrieben, in dem sie gegen die verbindliche Schulformempfehlung protestierten. Es sei nicht möglich, mit Gewissheit den Bildungserfolg eines Kindes mit neun Jahren zu prognostizieren und Kindern durch Zuweisung zu unterschiedlichen Lernmilieus auch Chancen zu verwehren.
Nach dem Regierungswechsel hat die neue rot-grüne Koalition die Verbindlichkeit der Schulformempfehlung umgehend aus dem Schulgesetz gestrichen.
Das fand breite Unterstützung. Im Koalitionsvertrag haben CDU und FDP 2017 vereinbart:
„Wir wollen bei der Aufnahme der Schülerinnen und Schüler die Entscheidungsmöglichkeiten der Schulen aufgrund ihres Bildungsauftrags stärken.“ Anscheinend wagte man nicht die verbindliche Schulformempfehlung offen auf die Agenda zu setzen.
Schulministerin Gebauer hat jedoch schon Anfang Februar 2018 gegenüber der Presse einen Versuchsballon gestartet. Sie hatte geäußert, dass sich viele Lehrer wünschten, dass die Schulformempfehlungen wieder verbindlich sein sollten. Dem widersprachen umgehend die Lehrerverbände. Ministerin Gebauer kündigte an, dass die Verbindlichkeit geprüft werde und Teil des Masterplans Grundschule sein werde, der im Laufe des Jahres 2018 vorgelegt werde.
Am 16. September 2019 haben die FDP-Ministerin und Minister vor der Presse Zwischenbilanz ihrer schwarz-gelben Regierungsbeteiligung gezogen und neue Projekte in ihren Zuständigkeiten vorgestellt. Ministerin Gebauer wird laut dpa mit dem Projekt „Masterplan Grundschule“ zitiert, der „noch in diesem Jahr“ kommen werde. In diesem Zusammenhang gehe es auch um eine mögliche Wiedereinführung der Verbindlichkeit der Schulformempfehlungen.
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:
1.           Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen der Landesregierung vor, die eine mögliche Wiedereinführung der Verbindlichkeit der Schulformempfehlungen rechtfertigen?
2.           Welche anderen Maßnahmen plant das Ministerium, um die Aufnahmeentscheidung aufgrund des Bildungsauftrags einer Schulform zu stärken?
3.           Welche Auswirkungen haben diese Aufnahmeentscheidungsmöglichkeiten auf den Elternwillen?
4.           Wie hoch sollten die Anteile der Übergänge von Grundschulkindern zu Gymnasien in NRW nach Auffassung der Landesregierung in einem „begabungsgerechten Schulsystem“ sein, von dem Schulministerin Gebauer immer wieder spricht?
5.           Wie sollen sich nach Vorstellung der Landesregierung verbindliche Schulformempfehlungen oder andere Maßnahmen zu Aufnahmeentscheidungsmöglichkeiten auf die Schulformenentwicklung insgesamt in NRW auswirken?