Matthi Bolte-Richter: „Für Sie bedeutet Demokratie das Recht des Stärkeren – und das ist nicht mein Demokratieverständnis“

Antrag der "AfD"-Fraktion zu Direkter Demokratie

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich möchte eingangs gerne einiges klarstellen. Wir Grüne stehen ohne Wenn und Aber zur Stärkung der direkten Demokratie, und zwar als Ergänzung und auch in dem Gedanken der Stärkung der repräsentativen Demokratie. Dieses repräsentative System hat sich seit vielen Jahrzehnten bewährt. Es geht von Erfahrungen aus, die auf deutschem Boden gemacht werden mussten. Es ist ein grundsätzlich richtiges System, das aber natürlich – und das haben die Veränderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte gezeigt – immer wieder die Revitalisierung durch die Stärkung der direkten Demokratie braucht.
Wir haben unter der rot-grünen Landesregierung einiges getan, um die direkte Demokratie auf Landesebene zu stärken. Es ist leider nicht gelungen – und das sage ich im Rückblick mit einem sehr, sehr großen Bedauern –, im Rahmen der Verfassungskommission noch weitere Schritte zu gehen. Wir hätten uns natürlich etwas gewünscht, was in Richtung Themenausschlüsse bei Volksbegehren geht, was aber auch vor allem die Absenkung der Unterschriftenhürde bei Volksbegehren betrifft. Da haben wir sogar weiterreichende Forderungen, als der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet, denn wir wollen die Hürde auf 2 % absenken. Wenn man sich das in absoluten Zahlen ansieht – das sieht auf dem Papier nicht so viel aus –, dann geht es um 100.000 Unterschriften mehr oder weniger, die man für ein erfolgreiches Volksbegehren braucht.
Schon das ist ein Punkt, warum wir den Gesetzentwurf der AfD nicht mittragen.
Wir besitzen – das habe ich eingangs erwähnt – tiefes Vertrauen in unser Grundgesetz und in die repräsentative Demokratie, die es uns geschenkt hat.
Ein vom Volk gewähltes Parlament immer unter den Vorbehalt zu stellen, dass es durch einen Volksentscheid wieder abgewählt werden kann, zeugt von einem gewissen Misstrauen in das parlamentarische System.
(Beifall von den GRÜNEN)
Vielleicht war dieses Misstrauen in Bayern des Jahres 1946 angeraten. Ich weiß nicht genau, was sich die Mütter und Väter der Bayerischen Verfassung dabei gedacht haben. Es ist auf jeden Fall nach 70 Jahren parlamentarischer Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland ein seltsamer Ausdruck von Misstrauen in das Parlament. Deshalb finden wir es sehr schwierig, dass Sie das hier ins Parlament bringen.
Ich will aber gerne, weil das auch in der Rede des Abgeordneten Tritschler eine Rolle gespielt hat und es – das wissen wir – in der Programmatik der AfD immer wieder vorkommt, zum direktdemokratischen System der Schweiz einige Anmerkungen machen.
Erstens. In der Schweiz haben wir es mit einem grundlegend anderen System zu tun. Wir haben in der Schweiz eine Konkordanzdemokratie. Das bedeutet, anhand eines Systems, das die Schweizer „Zauberformel“ nennen, sind alle Parteien irgendwie und dauerhaft in der Regierung vertreten. Dieses System möchte ich nicht haben, da ich es richtig finde und es sich aus meiner Sicht bewährt hat, dass wir hier einen starken Wettbewerb um die besten politischen Ideen haben. Dann ist mal der eine in der Regierung und kann seine Ideen umsetzen und dann der andere. Wenn man dann feststellt, dass man mit seinen Ideen keine Mehrheit mehr in der Bevölkerung findet, dann wird man eben abgewählt. Diese Erfahrung mussten wir machen. Das ist nicht schön, gehört aber zum Wesen der Demokratie dazu.
In der Bundesrepublik gibt es anders als in der Schweiz das Prinzip der Verfassungssouveränität. Das bedeutet, dass weder ein gefühlter noch ein manifestierter Volkswillen absolut stehen, sondern es steht absolut die Verfassung.
Es ist eine Verfassung, die mit ihren Grund- und Menschenrechten im Zweifel auch über die Beschlüsse des Deutschen Bundestags geht, wenn ein unabhängiges Verfassungsgericht feststellt, dass ein Beschluss des gewählten Parlaments nicht mit dem Geist und der Wirkmächtigkeit der Grund- und Menschenrechte vereinbar ist. Auch das ist ein systematischer Unterschied zur Schweiz.
Man muss berücksichtigen, dass auch in der Volkssouveränität der Schweiz nicht nur derjenige recht hat, der in einer Abstimmung oder in einem Referendum eine Mehrheit erringt; vielmehr gibt es auch dort ein umfassendes Angebot an Schutzrechten, gerade für Minderheiten. Die Schweizer sprechen da von Volksmehr und Ständemehr. Das bedeutet, neben einer Mehrheit der Abstimmenden auf Bundesebene braucht man in der Schweiz auch die Mehrheit der Kantone. Das ist eine Regelung, um dort Minderheiten, insbesondere die sprachlichen Minderheiten, zu schützen.
Auch das kommt in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht vor. Bei Ihnen ist das ein Demokratieverständnis, das Demokratie nicht in dem Sinne versteht, dass die besten Ideen zusammengebracht werden, dass Kompromisse gefunden werden und dass integriert wird. Für Sie bedeutet Demokratie das Recht des Stärkeren – und das ist nicht mein Demokratieverständnis.
(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Ich komme zum Ende. – Meine Damen und Herren, auch die Schweizer Demokratie – das sollte man nicht ausblenden – laboriert an den Problemen, die uns im Zusammenhang mit direktdemokratischen Instrumenten bekannt sind. Die Mehr- zahl der Referenden in der Schweiz sind Elitenprojekte. Das bedeutet, es werden diejenigen gestärkt, die in der Demokratie ohnehin stärker sind als andere Gruppen. Gestärkt werden diejenigen mit hohem Einkommen und mit hohem Bildungsstand. Diejenigen, die nicht in diese Bevölkerungsgruppe passen, kommen weniger vor. Auch das ist ein Problem. Die geringe Beteiligung bei bundesweiten Referenden in der Schweiz kommt noch hinzu.
Insofern sollte sich die AfD vor allem Gedanken darüber machen, ob sie wirklich mit dem richtigen Vorbild unterwegs ist, ob sie mit den richtigen Instrumenten auf Fragen antwortet, die wir hier alle miteinander diskutieren. Wir werden im Ausschuss weiter darüber diskutieren.
Ich bin der Kollegin Freimuth und dem Kollegen Bovermann sehr dankbar dafür, dass sie noch einmal darauf hingewiesen haben, dass wir, um die Demokratie in Nordrhein-Westfalen zu stärken, in dieser Legislaturperiode eine Enquetekommission dafür eingerichtet haben. Auf deren Arbeit freue ich mich schon. Ich freue mich, Teil dieser Arbeit zu sein, und wünsche unseren Beratungen einen guten Verlauf. – Danke schön.
(Beifall von den GRÜNEN)

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