Josefine Paul: „Wir brauchen eine starke Infrastruktur und eine Kindergrundsicherung“

Antrag der SPD-Fraktion zur Kindergrundsicherung

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Fast jedes vierte Kind ist von Armut bedroht oder betroffen; in manchen Regionen ist der Anteil traurigerweise sogar noch höher. Kinder und Jugendliche – auch das ist eine traurige Wahrheit – haben ein überdurchschnittliches Armutsrisiko.
Ausweislich des NRW-Sozialberichts liegt das Risiko im Bevölkerungsdurchschnitt bei gut 16% und bei Kindern und Jugendlichen bei traurigen über 22 %. In ganzen Zahlen ausgedrückt bedeutet das, dass fast 600.000 Kinder und Jugendliche in Nordrhein-Westfalen von Armut bedroht oder betroffen sind.
Man muss eindeutig feststellen, dass für ein reiches Land wie Deutschland Kinderarmut eine absolute Schande ist.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Das ist auch ein sozialpolitisches Armutszeugnis und bedeutet eine schwere Bürde für die Zukunft, wenn wir nicht endlich konsequent gegensteuern. Materielle Kinderarmut hat dramatische Folgen. Armut bedeutet zum einen Ausgrenzung; zum anderen bedeutet sie psychosoziale Belastungen mit negativen Folgen für Gesundheit und Bildungsbiografien. Die zentralen Armutsdimensionen Bildung, Einkommen und Gesundheit verstärken sich leider oft gegenseitig und werden allzu oft vererbt. Diese Spirale müssen wir nachhaltig durchbrechen.
Allerdings – und da sind wir wohl nicht mehr im Konsens – würde ich die Frage, ob der Dschungel der derzeitigen familienpolitischen Leistungen das schafft, mit einem klaren Nein beantworten. Es ist deutlich ablesbar, dass die bürokratischen Hürden und oftmals auch die Unkenntnis über die eigenen Leistungsansprüche dazu führen, dass große Teile der anspruchsberechtigten Kinder zum Beispiel die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket oder aber auch die Leistung des Kinderzuschlags überhaupt nicht in Anspruch nehmen können. Das kommt bei den Kindern gar nicht erst an; sie kommen nicht zu ihrem Recht. Das ist verdeckte Armut. Das muss man leider so konstatieren.
(Beifall von den GRÜNEN)
Frau Oellers, Sie haben gesagt, Sie hätten wirksame Instrumente, und würde man diese nur schärfen, kämen die Leistungen auch am richtigen Ort an. – Ich denke, aus allen wird Berichterstattungen deutlich, dass genau das nicht der Fall ist. In dem familienpolitischen Dschungel sind die Maßnahmen und die Instrumente eben nicht wirksam. Sie kommen nicht bei den Kindern an. Deshalb ist es richtig, sich endlich auf den Weg in Richtung einer Kindergrundsicherung zu machen und Kindern und ihren Familien unbürokratisch die notwendige Unterstützung zu gewähren.
Die aktuelle Bundesregierung jedoch und auch die Landesregierung scheinen von dieser Erkenntnis und vom konsequenten Handeln Lichtjahre entfernt zu sein. Schauen wir uns an, was die Landesregierung bei der 94. ASMK zum Thema „Kindergrundsicherung“ zu Protokoll gegeben hat. Sie haben gesagt, Sie würden sich nicht auf eine Kindergrundsicherung festlegen wollen. Ein eigenes Konzept – Fehlanzeige! Ein Fokus auf soziale Gerechtigkeit, vor allem bundespolitisch – Fehlanzeige!
Einkommensarme Familien gehen bei den allermeisten Wohltaten, die dort versprochen werden, leer aus! Eine Kindergelderhöhung kommt nicht bei den Kindern an,
(Zuruf von Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales)
weil das nach wie vor angerechnet wird. Das Baukindergeld kann man bestenfalls als mittelständischen Mitnahmeeffekt bezeichnen,
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
aber doch nicht als Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Das ist ungerecht!
Deutlich zeigt sich auch der Zusammenhang zwischen der materiellen Situation von Familien und dem Qualifikationsniveau von Eltern. Das bestreitet auch niemand. Gleichermaßen hängen in diesem Land die Bildungschancen von Kindern leider nach wie vor mit dem Qualifikationsniveau der Eltern zusammen.
(Zuruf von Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales)
Sie haben gerade wieder gesagt, wir hätten sieben Jahre lang die Schulministerin gestellt. Wann hört das endlich auf? Jetzt stellen Sie seit zwei Jahren die Landesregierung,
(Zuruf von Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales) und es liegt nun in Ihrer Verantwortung –
(Zuruf von Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales)
weil die Bildungspolitik originär eine Landesaufgabe ist –, endlich gegenzusteuern und diese Ungerechtigkeit zu durchbrechen. Soziale Segregation im Bildungssystem muss endlich überwunden werden,
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
und das ist jetzt Ihre Aufgabe. Sie wollten regieren, dann tun Sie es auch!
Die einfache Gleichung „Elternarmut bekämpfen, heißt Kinderarmut bekämpfen“, die Sie immer wieder aufmachen, funktioniert so auch nicht. Kinder haben ein eigenständiges Recht auf Teilhabe. Es sollte uns nicht zuletzt im dreißigsten Jahr der UN-Kinderrechtskonvention ein Handlungsauftrag sein, vom Kind aus zu denken. Wir sollten das nicht immer nur plakativ behaupten, dann aber das Gegenteil tun.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Sehr geehrte Damen und Herren, konsequente Bekämpfung von Kinderarmut heißt, endlich den Mut zu einem Systemwechsel aufzubringen und von den Kindern aus zu denken. Das bedeutet, eine Kindergrundsicherung einzuführen; denn das trägt dem eigenständigen Recht auf Teilhabe der Kinder Rechnung.
Regelsätze, BuT-Mittel, Kinderzuschlag müssen in einer Kindergrundsicherung als eigenständiger Anspruch des Kindes zusammengeführt werden, und diese muss unbürokratisch ausgezahlt werden. Weg mit dem Dschungel, den kaum einer durchsteigt.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Die Landesregierung ist aufgefordert, endlich ihre Blockadehaltung aufzugeben. Bringen Sie sich doch auf Bundesebene ein und kämpfen Sie mit dafür, dass wir eine vernünftige Kindergrundsicherung bekommen. In der Protokollnotiz heißt es, dass auch das Land NRW die problematischen Schnittstellen bereinigen will. Da sage ich Ihnen, Herr Minister Laumann: Die einfachste Schnittstellenbereinigung ist die Zusammenführung in einer Kindergrundsicherung.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Auch auf Landesebene gilt es, den sozialen Fokus zu schärfen. Aktuelle Zahlen der Bertelsmann Stiftung zeigen auch hier schon wieder eine Bildungssegregation auf. Die Betreuungsquote ist in den Regionen und Städten, in denen die Kinderarmut stärker ausgeprägt ist, weitaus niedriger als in Regionen, wo das nicht so ist. Dieses landesweite Delta von 17 % U3-Betreuungsquote in Duisburg gegenüber 37,7 % in Coesfeld kann doch nicht ernsthaft Ihr Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit sein!
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Es gilt jetzt, konsequent eine Sozialraumorientierung bei der Kita-Politik an den Tag zu legen, statt nach dem Gießkannenprinzip Geld über das ganze Land zu kippen.
Natürlich ist es gut, wenn die Landesregierung die kommunalen Präventionsketten – die üb- rigens Rot-Grün eingeführt hat – weiterführt. Aber auch da gilt es, dass wir in Zukunft über die 40 Kommunen, die gute Erfahrung damit gemacht haben, hinausgehen müssen, weil arme Kinder eben nicht nur in den 40 Kommunen dieses Landes leben, sondern sich leider über ganz Nordrhein-Westfalen verteilen.
Zusammengefasst kann man sagen: Das eine tun, ohne das andere zu lassen. Es ist doch vollkommen richtig, dass wir infrastrukturelle Maßnahmen brauchen, bessere Betreuung, Quartiersarbeit usw. Das alles heißt aber nicht, dass wir nicht gleichzeitig auch eine Kindergrundsicherung einführen können. Wir brauchen eine starke Infrastruktur und eine Kindergrundsicherung, die die Teilhabe aller Kinder in diesem Land garantiert.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Wenn die Welt so einfach wäre!)

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