100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland – Errungenschaften verteidigen, tatsächli- che Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern weiter stärken!

Antrag der Fraktionen von GRÜNEN, CDU, SPD und FDP

Portrait Josefine Paul

I.       Ausgangslage
Amalie Struve, Louise Otto-Peters, Hedwig Dohm, Helene Lange, Gertrud Bäumer, Johanna Kettler, Minna Cauer, Lida Gustava Heymann, Anita Augspurg, Clara Zetkin, Marie Juchacz – Namen von Frauen, die untrennbar mit der Frauenbewegung und mit dem Frauenwahlrecht verbunden sind. Sie sind Vorkämpferinnen für die Entwicklung unserer auf Gleichberechtigung und Teilhabe basierenden Demokratie. 100 Jahre nach Durchsetzung des allgemeinen Frau- enwahlrechts ist es wichtig, sie und ihre Leistung zu würdigen.
Seit der Französischen Revolution wurde auch in Deutschland der Anspruch von Frauen auf gleichberechtigte Teilhabe am sozialen und politischen Leben immer wieder geltend gemacht. Bis dahin waren Frauen weitgehend auf ihre Rolle als Mutter, Hausfrau und Ehefrau reduziert.
Noch weit bis in das 19. Jahrhundert wurde der Ausschluss von Frauen vom öffentlichen und politischen Leben als Garant für den Erhalt der Familie gesehen. Opposition gegen die männ- liche Dominanz galt vielen – Männern wie Frauen – als unschicklich und unweiblich.

Vormärz bis zum Ende des Ersten Weltkriegs

Vor nunmehr 170 Jahren – nach der März-Revolution 1848/1849 – gründen zahlreiche Frauen in mehreren deutschen Städten demokratische Frauenvereine. Sie fordern die politische Mit- sprache der Frauen ein. Amalie Struve, eine radikaldemokratische deutsche Revolutionärin und Frauenrechtlerin, steht für diese Zeit.
Eine weitere ist Louise Otto-Peters. Sie wurde zur Mitbegründerin der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung. Heftigen Widerspruch und breite Zustimmung löste sie 1848 mit ihrer For- derung aus: „Meine Herren! Im Namen der Moralität, im Namen des Vaterlandes, im Namen der Humanität fordere ich Sie auf: Vergessen Sie bei der Organisation der Arbeit die Frauen nicht!“ Damals ging es – wie heute vielfach auch – um die Besetzung einer Kommission.
Ein Meilenstein für die Entwicklung unserer Demokratie war die Paulskirchenverfassung. Am 17. Mai 1848 trat in der Frankfurter Paulskirche die Nationalversammlung zusammen. Sie er- arbeite die deutsche Urverfassung. Frauen waren dabei nicht beteiligt, da ihnen bei der Wahl der Nationalversammlung sowohl das aktive, als auch das passive Wahlrecht versagt blieb.
Dennoch war der von der Nationalversammlung erarbeitete Grundrechtskatalog zukunftswei- send, der am 27. Dezember 1848 als Reichsgesetz verabschiedet und anschließend in die Verfassung aufgenommen wurde. Am 28. März 1849 wurde die Verfassung verkündet, aller- dings trat sie niemals in Kraft. Die Gegenrevolution in Preußen und in Österreich hatte gesiegt.
Für eine lange Zeit wurden nach den 1850er Jahren Grundrechte, Menschen-, Freiheits- und Bürgerrechte, nicht mehr thematisiert, um jeden revolutionären Anschein zu vermeiden. Doch die Gedanken, die einmal gedacht wurden, wirkten weiter. Die Gedanken der Paulskirche blie- ben und bleiben – bis heute. Noch die Mütter und Väter des Grundgesetzes der Bundesrepub- lik Deutschland knüpften im Parlamentarischen Rat an diese an.
Der Siegeszug unveräußerlicher Freiheitsrechte des Individuums, insbesondere die Unverletz- lichkeit der Person, die Meinungs- und Pressefreiheit, das Demonstrationsrecht oder die Ver- einigungsfreiheit war nicht aufzuhalten. Damit einhergehend wurden auch die Forderungen von und für Frauen nach politischer Teilhabe und aktivem wie passivem Wahlrecht lauter.
– 1865 fand die erste Frauenkonferenz in Leipzig statt. Der Allgemeine Deutsche Frauen- verein wird mit der ersten Vorsitzenden Louise Otto-Peters gegründet. Dieser Verein hatte sich die Förderung der Berufstätigkeit und der Bildungschancen von Frauen auf die Fah- nen geschrieben.
– Über 20 Jahre später – nach weiteren Vereinsgründungen – fordert Hedwig Dohm im dem ersten Buch zum Thema Frauenwahlrecht („Der Frauen Natur und Recht“) 1876 das un- eingeschränkte Stimmrecht für Frauen.
– 1887 forderten der Allgemeine Deutsche Frauenverein und Helene Lange die wissen- schaftliche Ausbildung von Lehrerinnen und die Einführung höherer Mädchenschulen. 1890 wird Helene Lange den Allgemeinen Deutschen Lehrerinnen-Verein gründen.
– Johanna Kettler gründet 1888 den Verein „Reform“, der später in „Frauenbildung – Frau- enstudium“ umbenannt werden wird. Der Verein trat für die Einführung von Mädchengym- nasien und das Frauenstudium ein.
– Im gleichen Jahr gründet Minna Cauer in Berlin den Verein „Frauenwohl“. Weitere Zweige entstehen in anderen Städten. Sie alle engagieren sich u. a. für die Gleichberechtigung von Frauen auf allen Gebieten.
– 1891 spricht sich erstmals eine Partei im Deutschen Kaiserreich für das Frauenwahlrecht aus. Mit dem „Erfurter Parteiprogramm“ von 1891 positionierte sich die SPD und unter- stützte damit die Frauenbewegung öffentlich.
– 1894 wird der „Bund Deutscher Frauenvereine“ als Dachverband der bürgerlichen Frau- enbewegung gegründet. Unter Vorsitzenden wie Gertrud Bäumer und Marianne Weber trat der Dachverband für die Interessen von Frauen an Bildung, besseren Arbeitsbedin- gungen und gesellschaftlicher Partizipation ein.
– 1900 erlaubt das Großherzogtum Baden als erster Bundesstaat Frauen die Immatrikula- tion an Hochschulen. Zuvor entstanden 1893 durch Helene Lange in Berlin gymnasiale Aufbaukurse für Mädchen; in Karlsruhr wird das erste Mädchengymnasium Deutschlands eröffnet.
– 1900 wird im Bürgerlichen Gesetzbuch die Rechtsstellung von Ehefrauen festgelegt: Frauen erhielten lediglich die uneingeschränkte Geschäftsfähigkeit. Der Ehemann hatte das Verwaltungs- und Nutznießungsrecht am Vermögen der Frau inne, nur selbst erwirt- schaftetes Vermögen blieb im Eigentum der Frau. Noch bis 1953 sollte der Ehemann das Entscheidungsrecht in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten innehabe. Bis zum 1. Juli 1958 konnte der Ehemann einen Arbeitsvertrag der Ehefrau fristlos kündigen.
– 1902 fanden sich mit Minna Cauer, Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg drei Frauen zusammen, die den „Deutschen Verein für Frauenstimmrecht“ gründeten. Dieses Netzwerk kämpfte für das aktive und passive Wahlrecht für Frauen.
– 1904 markiert die Gründung des „Weltbunds für Frauenstimmrecht“ in Berlin einen wichtigen Schritt in den Bemühungen um eine internationale Koordinierung des Kampfes für die Einführung des Frauenwahlrechts.
– Ab 1908 durften Frauen auch an politischen Versammlungen teilzunehmen. Das seit 1850 bestehende Verbot war in dem seit 1870 geltenden Preußischen Vereinsgesetz normiert. Mit der Aufhebung des Gesetzes konnten Frauen Mitglied in politischen Parteien werden und sich politisch betätigen.
– Die Sozialdemokratin Clara Zetkin initiiert 1911 den ersten Internationalen Frauentag als Kampftag für das Frauenstimmrecht. Über eine halbe Million Frauen beteiligen sich in mehreren Ländern.
Diese Ereignisse sind einige Wegmarken der Entwicklung.

Von 1918 bis 1945

Am 12. November 1918 – drei Tage nach der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 und einen Tag nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes in Compiègne – wurde per Dekret des Rates der Volksbeauftragten das gleiche, geheime, direkte und allgemeine Wahl- recht für alle Frauen und Männer eingeführt, die am Wahltag das 20. Lebensjahr vollendet hatten.
Am 30. November 1918 trat in Deutschland das Reichswahlgesetz mit dem Frauenwahlrecht in Kraft: In Artikel 109 Absatz 2 der Weimarer Verfassung ist festgelegt: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben Rechte und Pflichten.“
Bis zur Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 und den Wahlen zu den Länderparlamenten lagen nur wenige Wochen, um die wahlberechtigten Frauen zu ihrer ersten Entscheidung in der demokratisch zu gestaltenden neuen Republik zu mobilisieren.
– Um Frauen zu motivieren, ihr Wahlrecht wahrzunehmen, kam es nun erstmals zu einer Zusammenarbeit fast aller bürgerlichen Frauenorganisationen unter Einschluss auch der vaterländischen Frauenvereine und der Vereinigung Konservativer Frauenverbände, die das Frauenstimmrecht bislang abgelehnt hatten. Zur Information und Vorbereitung der Frauen wurden Flugblätter verteilt, politische Schulungen durchgeführt und Aufrufe in Ta- geszeitungen veröffentlicht.
– Die ersten Wahlen, bei denen Frauen erstmals ihre Stimmen abgegeben konnten, fanden in Baden am 5. Januar 1919 und in Württemberg am 12. Januar 1919 statt. Die erste Frau, die jemals in einem deutschen Parlament sprach, war am 15. Januar 1919 die Liberale Marianne Weber im Badischen Ständehaus.
– Von allen Wahlberechtigten zur Nationalversammlung hatten am 19. Januar 1919 15.061.114 Männer (82,4%) und 17.710.872 Frauen (82,3%) von ihrem Wahlrecht Ge- brauch gemacht. Als Kandidatinnen auf den Listen aller Parteien waren insgesamt 310 Frauen aufgestellt worden. Da die Frauen von ihren Parteien meist jedoch nur auf den hinteren Listenplätzen platziert worden waren, errangen lediglich 37 von ihnen ein Abge- ordnetenmandat. Bis zum Ende der Legislaturperiode der Nationalversammlung rückten noch weitere vier Frauen nach, so dass sich am Ende unter den insgesamt 423 Abgeord- neten 41 weibliche Parlamentarierinnen befanden.
– Am 19. Januar 1919 sprach Marie Juchacz (SPD) als erste Parlamentarierin in der Wei- marer Nationalversammlung.
Wie schnell demokratische Grundrechte jedoch auch wieder verloren gehen konnten, zeigte sich bereits 15 Jahre später: Unter den Nationalsozialisten fand ein Rückschritt hinsichtlich des Frauenwahlrechts statt. Die Nationalsozialisten hatten sich bereits 1921 darauf verstän- digt, Frauen weder in die Parteiführung noch in die leitenden Ausschüsse zu integrieren.
Nach der Machtübernahme im Jahr 1933 wurden die Rechte der Frauen weiter eingeschränkt, indem man sie gezielt aus höheren Positionen verdrängte. Sie waren auf ihre als „natürlich“ bezeichnete Rolle als Hausfrau und Mutter festgelegt.
Das passive Wahlrecht für Frauen wurde faktisch abgeschafft. Nach der Ausschaltung der Parteien durfte nur noch die Einheitsliste der NSDAP zu Wahlen antreten, die jedoch Männern vorbehalten waren. Nach den Scheinwahlen vom 12. November 1933 waren daher keine Frauen mehr im Reichstag vertreten.

Entwicklung in der Bundesrepublik

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Nationalsozialistischen Schreckensherr- schaft beginnt der politische Wiederaufbau: 61 Männer und vier Frauen kommen in Bonn zu- sammen, um einen Verfassungsentwurf für die noch junge Bundesrepublik Deutschland zu erarbeiten.
Vier Frauen, davon drei aus Nordrhein-Westfalen mit Friederike Nadig (SPD/Herford), Helene Weber (CDU/Wuppertal-Elberfeld) und Helene Wessel (Zentrum/Dortmund-Hörde) setzen un- ter der Mobilisierung von Frauenprotesten durch Elisabeth Selbert (SPD/Kassel) den Artikel 3 Grundgesetz im Parlamentarischen Rat durch: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

Situation in Nordrhein-Westfalen

Doch auch heute sind Frauen immer noch nicht umfassend tatsächlich gleichberechtigt und gleichgestellt. Obwohl Frauen die Hälfte der Wahlberechtigten in Nordrhein- Westfalen aus- machen, stellen sie als Repräsentantinnen in politischen Ämtern auch heute noch eine Min- derheit dar. So beträgt der Frauenanteil unter den Abgeordneten im nordrhein-westfälischen Landtag in dieser 17. Wahlperiode 27,1 Prozent.
In nordrheinwestfälischen Kreis- und Gemeinderäten sowie Bezirksvertretungen stellen Frauen knapp 30 Prozent der Mandate. Mit Blick auf die Wahrnehmung kommunaler Spitzen- funktionen fällt das Ergebnis noch ernüchternder aus. In Nordrhein-Westfalen gibt es zurzeit 327 Bürgermeister und lediglich 49 Bürgermeisterinnen. In den Kreisen stehen nur zwei Land- rätinnen 28 Landräten gegenüber.

II.       Der Landtag stellt fest:

– Die rechtliche Gleichstellung ist in der Bundesrepublik Deutschland – auch unter Berück- sichtigung von Gesetzesveränderungen in den Jahren nach 1949 bis heute – erreicht.
– Die Errungenschaften der Gleichstellung der Geschlechter als eines der demokratischen Grundprinzipien sind nicht verhandelbar.
– Das Jubiläum des 100-jährigen Bestehens der Einführung des Frauenwahlrechts sind für den Landtag Nordrhein-Westfalen Anlass und Verpflichtung zugleich, weiterhin an der tat- sächlichen Durchsetzung der Gleichstellung zu arbeiten und bestehende Hindernisse und Nachteile zu beseitigen.
– Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz besitzt daher unverändert seine Notwendigkeit: Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Män- nern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
– Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist und bleibt eine Frage der Gerechtigkeit. Sie muss nicht nur rechtlich, sondern auch gesellschaftlich umgesetzt werden. Hierzu ge- hört insbesondere die Repräsentation und verantwortliche Mitarbeit von Frauen in den kommunalpolitischen Vertretungskörperschaften und Parlamenten auf allen politischen Ebenen.
– Die kommunalen Spitzenverbände sind ein geeigneter Partner bei der Entwicklung von Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine familien- und fürsorge- gerechte Vereinbarkeit von Mandat und Beruf.

III.    Der Landtag fordert

1. die kommunalen Fraktionen in Räten, Bezirksvertretungen und in den Kreistagen auf, durch eine Verbesserung der örtlichen Rahmenbedingungen für eine Vereinbarkeit von berufs-, familien- und fürsorgebedingten Tätigkeiten mit dem ehrenamtlichen Mandat da- für Sorge zu tragen, dass gerade mehr Frauen die faktische Möglichkeit erhalten, ein eh- renamtliches Mandat ausüben zu können. Hierzu gehören beispielsweise berufs- und fa- miliengerechte Sitzungszeiten und –termine, die Frauen wie Männern zu Gute kommen.
2. die Landesregierung auf, vorhandene Angebote zur Karriereentwicklung für weibliche Nachwuchskräfte und Netzwerkentwicklung unter Frauen in der Politik auszubauen und weitere Förderansätze zu entwickeln, um die politische Partizipation von Frauen zu stär- ken. Dazu kann auch die Fachexpertise kommunaler Gleichstellungsbeauftragter hinzu- gezogen werden.
3. die Landesregierung auf, anlässlich des im kommenden Jahr stattfindenden Jubiläums „70 Jahre Grundgesetz“ die drei aus Nordrhein-Westfalen stammenden „Mütter des Grundgesetzes“ zusammen mit der aus Hessen stammenden vierten Mutter des Grund- gesetzes eine angemessene Würdigung zukommen zu lassen.
4. ein Aktionsprogramm zur Stärkung der Repräsentanz von Frauen in Ämtern in der Politik zu etablieren.
5. als Öffentlicher Dienst mit gutem Beispiel voranzugehen und gleichstellungspolitische Ziele für Frauen und Männer zu fördern.