Intersexuelle Menschen nicht länger pathologisieren

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Portrait Josefine Paul

I.                 Ausgangslage

Die meisten Menschen gehen selbstverständlich davon aus, dass es zwei Geschlechter gibt, ein weibliches und ein männliches. Für diese Einordnung wird sich in aller Regel am äußeren Erscheinungsbild der Geschlechtsorgane orientiert. Noch immer ist den Wenigsten bekannt, dass es Menschen gibt, die nicht eine dieser beiden Kategorien zugeordnet werden können oder/und wollen. Diese Menschen werden als Intersexuelle bezeichnet.
Der Begriff der Intersexualität bezeichnet biologische Besonderheiten bei der Geschlechtsdifferenzierung. Nicht alle geschlechtsbestimmenden Merkmale wie z.B. Chromosomen, Hormone, Keimdrüsen oder äußere Geschlechtsorgane sind eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. Die Spannbreite der Variationen ist dabei sehr groß und kann ganz unterschiedliche Formen annehmen. In der Medizin wird dies auch heute noch als „Disorder of Sexual Development“ (DSD), also als „Störung der Geschlechtsentwicklung“ klassifiziert. Entsprechend spricht auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Kapitel XVII der internationalen Klassifikation der Krankheiten ICD-10-GM-2014 immer noch von „Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien, unbestimmtes Geschlecht und Pseudohermaphroditismus“. Betroffene Menschen lehnen in aller Regel jedwede Form der Pathologisierung und insbesondere den medizinischen Begriff der Störung ab. Sie bezeichnen sich selbst als intersexuelle Menschen, Intersex oder auch intergeschlechtliche Menschen. Auch in Wissenschaft und Forschung ist ein steter Prozess des Umdenkens zu beobachten. Die Gruppe innerhalb der medizinischen Fachwelt, die Intersexualität als „Difference of Sexual Development“, also als „Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung“ klassifizieren, wächst stetig. Zudem bedarf es einer grundsätzlich klaren Abgrenzung zur Gruppe der Transsexuellen, welche sich trotz eindeutiger Geschlechtsmerkmale psychisch nicht mit selbigen identifizieren.
Trotz zunehmender Aufklärung werden intersexuelle Menschen auch heute noch vielfach pathologisiert. So erhalten die meisten intersexuellen Menschen eine offizielle medizinische Diagnose. Dies gilt insbesondere für Kinder, deren äußeren Geschlechtsmerkmale sich nicht unmittelbar nach der Geburt in die binäre Geschlechterordnung zuordnen lassen. Es muss jedoch beachtet werden, dass nicht alle Formen der Intersexualität bereits bei der Geburt
offensichtlich sind. Manche zeigen sich erst in der Pubertät oder noch später, einige bleiben auch zeitlebens unentdeckt. Dabei ist die Forschungsstand über Intersexualität in Deutschland äußerst defizitär. Dies belegen mehrere kleine Anfragen im Deutschen Bundestag. Entsprechend gibt es auch keine fundierten Daten über den Anteil intersexueller Menschen in der Gesamtbevölkerung. Laut Schätzzahlen von ausgewiesenen Expertinnen und Experten im Landesaktionsplan, werden in Deutschland jährlich zwischen 150-340 Kinder geboren, die nicht ins Geschlechtsraster passen. Bei einem Expertengespräch der Kinderkommission des Deutschen Bundestages gaben Expertinnen und Experten an, dass von mehr als 300.000 intersexuellen Menschen ausgegangen werden muss.
Die Zuordnung im Sinne der noch immer vorherrschenden binären Geschlechtsordnung ist eine der wesentlichen Identifikationsmerkmale in unserer Gesellschaft. Mit ihrer bloßen Existenz stellen intersexuelle Menschen den gesellschaftlichen Konsens, dass es (lediglich) zwei Geschlechter gibt, in Frage. Als eine Folge hiervon müssen diesbezüglich auch die geschlechtsangleichenden Operationen im Säuglingsalter und frühen Kindesalter betrachtet werden. Sie führen in vielen Fällen jedoch zu schweren Traumata und gesundheitlichen Spätfolgen. Aus der bipolaren Geschlechterordnung folgen zudem feste Rollenvorstellungen und -erwartungen. Da erstaunt es nicht, dass fast alle intersexuellen Personen einen tabuisierten Umgang mit ihrer sexuellen Identität erfahren. Dies hat zur Folge, dass eine gesunde Identitätsentwicklung erheblich erschwert wird.
Die Bedeutung der geschlechtlichen Zuordnung im binären System zeigt sich bereits mit der Eintragung in das Geburtenregister, bei welchem entsprechend § 21 des Personenstandsgesetzes bis dato auch die Eintragung des Kindes als „weiblich“ oder „männlich“ grundsätzlich vorgesehen ist. Nur sofern eine Zuordnung des Kindes nach der Geburt nicht eindeutig möglich ist, erfolgt die Eintragung ohne die Geschlechtsangabe. Gegen diese Verwehrung der personenstandsrechtlichen Anerkennung von intersexuellen Menschen hat das Bundesverfassungsgericht am 10. Oktober 2017 ein Urteil erlassen. Das Gericht sieht die bisherige Regelung als nicht vereinbar mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG). Es werde zudem gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 GG) verstoßen. Bis zum 31. Dezember 2018 ist der Gesetzgeber aufgefordert, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu schaffen. Dabei wird als mögliche Alternative in der Begründung entweder der generelle Verzicht auf einen Geschlechtseintrag erwogen oder eine weitere positive Bezeichnung für ein Geschlecht neben den bisherigen Eintragungsmöglichkeiten als „weiblich“ oder „männlich“. Mit diesem Urteil stützt das Bundesverfassungsgericht wesentlich das Recht intersexueller Menschen auf eine selbstbestimmte Entwicklung und eine geschlechtliche Identität fernab der binären Geschlechterordnung.
Eine Studie zur Aktualität kosmetischer Genitaloperationen aus dem Jahr 2016 belegt, dass die Rate der Operation im Säuglings- und frühen Kindesalter auch in den letzten Jahren nicht signifikant zurückgegangen ist. Auch wenn keine lebensbedrohliche Situation vorliegt, werden Operationen immer noch durchgeführt und/oder körperfremder Hormone verabreicht. Dabei erfolgen die Maßnahmen im Kindesalter in aller Regel ohne die Einwilligung der betroffenen Kinder. Bei Minderjährigen willigen die Eltern, entsprechend Art. 6 Abs. 2 GG und den daraus abzuleitenden verfassungsrechtlich gebotenen Maßstäben des Kindeswohls, in die entsprechenden Maßnahmen ein. Weder hinsichtlich der elterlichen Entscheidung, noch der medizinischen Durchführung sollte dabei von einer absichtlichen Missachtung der kindlichen Rechte ausgegangen werden. Vielmehr scheint ein Informationsdefizit vorzuliegen, welches in letzter Konsequenz dazu führt, den Körper des Kindes an die zweigeschlechtliche Norm anpassen zu wollen. So berichten zahlreiche Eltern intersexueller Kindern, dass ihnen suggeriert wurde, eine schnelle Entscheidung sei sinnvoll. Aber auch ärztliches Personal fühlt sich nicht selten von den Eltern bedrängt, eine geschlechtsangleichende Operation durchzuführen. Leidtragende dieses Defizits sind und bleiben lebenslang die betroffenen intersexuellen Menschen. Ihr Leid spiegelt auch der Bericht des Deutschen Ethikrates eindrücklich wider. Es bleibt festzuhalten, ein operativ und sozial verordnetes Geschlecht ist ein fundamentaler Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

II.                 Der Landtag stellt fest:

  • dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) und das Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 GG) auch die geschlechtliche Identität derjenigen schützt, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen.
  • Intersexuelle sind nicht einfach "anders", sondern ihnen steht das Recht auf einen positiven Geschlechtseintrag jenseits von männlich und weiblich, der ihre Diskriminierung nicht weiterfortsetzt, zu.
  • dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes eine weitaus größere Bedeutung für die geschlechtliche Selbstbestimmung hat, als lediglich der Eintrag ins Personenstandregister selbst.
  • dass geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an Kindern ausschließlich zulässig sind, wenn eine medizinische Indikation auf Grund einer lebensbedrohlichen Situation vorliegt.

III.              Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. Sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 Rechnung getragen wird und intersexuelle Personen weder gezwungen werden sich dem binären System unterzuordnen, noch einen Eintrag als "anders" oder "weitere" im Personenstandsregister hinnehmen müssen, sondern einen Anspruch auf Anerkennung eines positiven Geschlechtseintrags jenseits von „männlich“ und „weiblich“ haben.
  2. Sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass ein Hilfsfonds aufgelegt und ein entsprechendes Konzept erarbeitet wird, um betroffenen intersexuellen Menschen Entschädigung für erlittene medizinische Eingriffe und/oder Behandlungen zukommen zu lassen.
  3. Gemeinsam mit den Betroffenen auf Landesebene ein Konzept zu entwickeln, wie die Selbsthilfeinfrastruktur gestärkt werden kann, und Fortbildungsangebote für Selbsthilfekontaktstellen zu schaffen.
  4. Die Forschung zum Thema Intersexualität zu unterstützen, um die bestehenden Informationsdefizite zu beseitigen.
  5. In der Aus,- Fort- und Weiterbildung von medizinischem Fachpersonal auf die Sensibilisierung hinsichtlich des Phänomens Intersexualität hinzuwirken.
  6. Auf Landesebene sicherzustellen, dass die Selbsthilfereferenten und -referentinnen der Krankenkassen für die besonderen Bedürfnisse von Intersexuellen sensibilisiert werden.
  7. Darauf hinzuwirken, dass Eltern bei der Geburt eines intersexuellen Kindes umfassend über die biologische Besonderheit ihres Kindes aufgeklärt werden. Dabei ist nicht nur eine unabhängige psychosoziale Beratung, sondern auch der Kontakt zu Selbsthilfestellen von Anfang an sicherzustellen.