Mehrdad Mostofizadeh: „Es betrifft alle Bevölkerungsgruppen“

Antrag der Fraktion von Bündnis 90/DIE GRÜNEN zum selbstbestimmten Wohnen

Mehrdad Mostofizadeh

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Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf in NRW weiter ausbauen“ haben wir unseren Antrag überschrieben.
Worum geht es? Wir haben in Nordrhein-Westfalen bereits jetzt über 640.000 Menschen, die pflegebedürftig sind, und – das ist ein weiterer sehr wichtiger Fakt – 320.000 Menschen, die an Demenz erkrankt sind oder mit ihrer Demenzerkrankung leben müssen.
Diese Zahlen werden sich in den nächsten Jahren deutlich erhöhen. Auch der Kollege Sozial- und Gesundheitsminister gehört zu der Generation der geburtenstarken Jahrgänge, über die wir heute mit diesem Antrag in ganz besonderer Weise reden.
Allerdings möchte ich direkt einschränkend sagen: Es betrifft alle Bevölkerungsgruppen. Wir wollen in Nordrhein-Westfalen altersgerechtes Wohnen sicherstellen. Denn jede Bevölkerungsgruppe profitiert davon, wenn wir altersgerechte Quartiere ermöglichen und auch erstellen.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass sich das Menschenbild deutlich gewandelt hat. Früher war das Heim, die stationäre Einrichtung, durchaus eine Option für viele Menschen – allerdings auch vor dem Hintergrund, dass viele Menschen längst nicht so alt geworden sind, wie es heute der Fall ist, worüber wir uns freuen. Mit zunehmendem Alter kommt es zunehmend zu Erkrankungen, Behinderungen oder Assistenzbedarfen, auf die wir eingehen müssen.
Meine Damen und Herren, es ist nicht so, dass wir in Nordrhein-Westfalen – und erst recht nicht in den anderen Bundesländern – eine Wahlfreiheit hätten. Deswegen müssen wir das altersgerechte Wohnen bedarfsgerecht weiter ausbauen.
Ich nenne Ihnen einmal eine Zahl, die ganz besonders wichtig ist, weil wir von Wahlfreiheit sprechen und die FDP mich da nie versteht: Wir haben in Nordrhein-Westfalen 170.000 stationäre Plätze in Heimen für Menschen mit umfassendem Wohnbedarf und gerade einmal 6.000 Plätze in Pflege- und Hausgemeinschaften sowie 44.000 Plätze im betreuten Wohnen. Wahlfreiheit ist also längst nicht gegeben. Das liegt nicht daran, dass Nordrhein-Westfalen Schlusslicht wäre. Nordrhein-Westfalen ist bei altersgerechten Wohnungen für Menschen mit Unterstützungsbedarf ganz vorne.
Herr Minister, deswegen machen wir als Fraktion mit diesem Antrag – wie schon im Aus-schuss – noch einmal den Ausbaubedarf deutlich. Es ist falsch, wieder stationär vor ambulant zu machen, wie Sie es im Koalitionsvertrag anlegen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Das ist der völlig falsche Weg und widerspricht letztlich auch der Zielsetzung des Bundes und des Pflegegesetzes des Bundes.
Dabei möchte ich Folgendes klarstellen – ich selbst habe viele Jahre in einer stationären Ein-richtung gearbeitet –: Es gibt viele gute stationäre Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen. Mit dem Alten- und Pflegegesetz ist es auch möglich gemacht worden, diese stationären Pflege-einrichtungen zu modernisieren und auf den Weg zu bringen. Viele haben das auch getan. Es geht nicht darum, sie in den Senkel zu stellen. Ganz im Gegenteil: Sie müssen sich qualifizieren. Sie müssen sich zum Quartier hin öffnen. Sie müssen besser werden. Die allermeisten Träger machen das auch, insbesondere die Träger der Wohlfahrtspflege. Das müssen wir profilieren.
Wenn wir eine Wahlfreiheit haben wollen, müssen wir aber das ermöglichen, was die aller-meisten Menschen wollen, nämlich, dass die Menschen entweder zu Hause oder in der Umgebung wohnen können, die sie sich aussuchen. Das müssen wir ausbauen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Um das nicht nur baulich, sondern auch inhaltlich zu ermöglichen, bedarf es der Beratung. Deswegen blicken wir mit Argusaugen auf das, was Sie im Moment in den Haushaltsberatungen machen. Wir haben vorhin beim Sozialticket gesehen, wie schnell das Pendel hin und her schlagen kann.
Ich kann Sie nur auffordern und bitten, Herr Minister, dass das Landesbüro altengerechte Quartiere.NRW und das Landesbüro innovative Wohnformen.NRW nicht nur keine Kürzungen erfahren, sondern weiter gestärkt und ausgebaut werden und als Unterstützung für die Menschen da sind, die etwas im Quartier entwickeln wollen, sowie für die Investoren da sind, damit es besser wird und diese wichtigen Strukturen nicht verloren gehen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich hoffe, dass wir im Ausschuss die von FDP und CDU angekündigte Kehrtwende, einen Paradigmenwechsel wieder hin zu „stationär vor ambulant“ zu machen, stoppen können und Sie überzeugen können, dass wir die Menschen im Quartier haben wollen, dass wir ihnen die Möglichkeit geben wollen, eine Wahlfreiheit zu haben. Das muss ausgebaut werden. Dazu lade ich Sie ganz herzlich ein. – Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
(Beifall von den GRÜNEN)

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2. Runde
Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ich finde es schon relativ infam, wie Sie das vorhin vorgestellt haben. Es war eine Forderung der auf Antrag der CDU-Fraktion eingesetzten Enquetekommission „Situation und Zukunft der Pflege in NRW“, genau einen solchen Erlass zur Qualifikation der Heimleitungen auf den Tisch zu legen. Und Sie sagen: Ich habe es nicht einmal gelesen und es in den Orkus geworfen. – Es ist schon einigermaßen arrogant, wie Sie hier vorgegangen sind.
Zweitens. In Bezug auf das, was hier von der FDP gesagt wurde, bitte ich Sie, Herr Minister, sehr genau hinzugucken; denn Sie haben in einer ähnlichen Richtung argumentiert. Es ist nicht falsch, dass wir eine gute kommunale Planung haben. Ich halte das für völlig richtig. Und ich sage noch eines dazu: Es ist völlig richtig, dass wir uns über die Stadtentwicklung Gedanken machen und uns überlegen, wie Quartiere aussehen müssen, wo Menschen mit Behinderungen leben können. Deswegen ist es ja nur konsequent, dass Sie die Landesbauordnung aussetzen und eben nicht für mehr barrierefreie Wohnungen sorgen wollen. Sie wollen die Wahlfreiheit in Wirklichkeit gar nicht aufdecken. Das ist mir heute deutlich klarer geworden. Und das finde ich nicht in Ordnung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich widerspreche Ihnen ausdrücklich: Der Markt ist nicht der beste Pfadfinder. Ich bin sehr für Wettbewerb. Dann müssen Sie den Wettbewerb allerdings auch definieren. Im Moment findet aber etwas anderes statt. Ich habe eine ganz andere Wahrnehmung in Bezug darauf, wie die Menschen in Nordrhein-Westfalen leben und was wir zu tun haben. Ich kenne Quartiere in Essen, in Duisburg und in Gelsenkirchen, wo die Menschen nicht einmal mehr aus ihrem Haus herauskommen können, weil sich unten ein paar Stufen befinden und, wo die Assistenzbedarfe so groß sind, dass ein selbstbestimmtes Leben im Quartier eben nicht stattfinden kann.
Darauf müssen wir reagieren. Wir müssen doch keinen Kampf gegen Windmühlen führen und sagen: Ach, die armen Heime, die stationären Einrichtungen sind zurückgedrängt worden. Darum geht es überhaupt nicht. Wir müssen Wahlfreiheit in Nordrhein-Westfalen überhaupt erst einmal in ausreichendem Maße sicherstellen, damit auch Menschen mit umfassendem Unterstützungsbedarf darüber entscheiden können, wo sie wohnen wollen. Darum geht es jetzt – das ist die Stunde, die es jetzt geschlagen hat – und nicht um die Diskussion, die Sie hier geführt haben.
(Beifall von den GRÜNEN)
Eines will ich in der Situation sehr klar sagen, weil ich es sehr unverhohlen fand, wie die FDP das vorgetragen hat. Sie haben sich mit fast keiner Silbe über etwas anderes ausgelassen als über stationäre Einrichtungen. Sie wollen den Markt dafür bereiten, dass größere Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen mit Renditen, die im Pflegeimmobilienbereich zwischen 5 und 10 % liegen, wieder Platz greifen können. Sie wollen einer bestimmten Klientel den Markt anbieten. Sie haben nicht die Menschen im Auge, sondern Sie haben den Markt von einigen Anbietern von Pflegeeinrichtungen im Blick. Das ist nicht grüne Politik; das sage ich an der Stelle ganz eindeutig.
(Markus Wagner [AfD]: Das, was Sie jetzt anderen vorwerfen, war Ihr Wohn- und Teilhabegesetz!)
– Dass ich darauf nicht eingehe, dafür haben Sie sicherlich Verständnis.
Ich möchte, dass wir diesen Antrag sachgerecht im Ausschuss diskutieren. Herr Minister, ich habe den Eindruck, dass Sie in einigen Punkten deutlich anderer Auffassung sein könnten als die FDP. Das sollten wir herausarbeiten, und Sie sollten die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Nach dem, wie Sie heute geredet haben, bin ich allerdings wenig guter Hoffnung, dass Sie eine qualifizierte Planung für dieses Land vorlegen wollen. Das ist außerordentlich bedauerlich.
Wir sollten die Beratungsstrukturen und die Qualifizierung für die Zukunft nach vorne bringen. Da geht es nicht um Patentsicherung, liebe Kollegin Altenkamp, sondern darum, dass wir hier in Nordrhein-Westfalen einen guten Weg vorangegangen sind, und zwar anders als andere Bundesländer. Wir sollten auch an der Spitze bleiben und im Vergleich der Bundesländer nicht zurückfallen; denn wir sind der Raum, der die größte Herausforderung hat und die beste Qualität anbieten kann. Da sollten wir besser werden und nicht schlechter. Das jedoch droht mit der Politik, die hier im Raume steht.  
(Beifall von den GRÜNEN – Minister Karl-Josef Laumann: Das glaube ich nicht!)

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