Philosophie verleiht Flügel!

Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen

I. Ausgangslage

Die Religions- und Konfessionszugehörigkeiten der Grundschüler*innen in NRW sind im Wandel. Die Pluralität der Gesellschaft spiegelt sich auch in der Anzahl der konfessionell gebundenen Schülerinnen und Schüler sowie der konfessionsfreien. Nach den amtlichen Schuldaten für das Schuljahr 2016/2017 sind von den 632.693 Grundschülerinnen und –schülern noch 33,8 % römisch-katholischen Bekenntnisses und 22,3 % evangelisch. 18,7 % der Grundschulkinder werden islamischem Bekenntnis und 6,3 % Kinder anderen Bekenntnissen zugerechnet. 18,9% der Grundschulkinder werden als konfessionslos in der Statistik aufgeführt.
Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern sollen durchgehend durch alle Schulstufen und Schulformen ein Unterrichtsangebot wahrnehmen können, in dem Grundfragen der menschlichen Existenz, prinzipielle Fragen wie etwa des Verhältnisses von Mensch, Natur und Technik, um Individuum und Gesellschaft sowie Wert­vorstellungen hergeleitet, diskutiert und reflektiert werden.
Der im Grundgesetz verankerte bekenntnisorientierte Religionsunterricht ist ein  Angebot, in dem Existenzfragen behandelt und Werteorientierung auf der Grundlage eines Bekenntnisses vermittelt werden. Mit der Einführung von alevitischem, syrisch-orthodoxen und vor allem dem islamischen Religionsunterricht wurde das Angebot ergänzt, um weiteren Gruppen von Schülerinnen und Schülern ein Angebot in ihrem Bekenntnis zu machen. Dabei kann nicht an allen Schulen ein solcher Unterricht angeboten werden, da mindestens zwölf Kinder für die Bildung einer Lerngruppe eines Bekenntnisses notwendig sind. Neben konfessionell nicht gebundenen Kindern haben also auch Kinder, die einem Bekenntnis angehören, für das keine Lerngruppe eingerichtet werden konnte, bislang kein Angebot. Hinzu kommen etwa 30.000 Kinder, die vom Religionsunterricht abgemeldet wurden.

Ergänzend zum bekenntnisorientierten Religionsunterricht, gerade auch im Sinne der positiven und negativen Religionsfreiheit, gibt es an den weiterführenden Schulen in NRW das Fach „Praktische Philosophie“. Das Modellprojekt wurde nach positivem Abschluss 2003 für alle Schulen der Sekundarstufen I und II etabliert.
Auch für den Primarbereich ist ein entsprechendes Angebot erforderlich, damit sich Kinder mit Sinn-, existentiellen und Wertefragen außerhalb eines bekenntnis­orientierten Unterrichts auseinandersetzen können.
In der Grundschule müssen Kinder erste große Schritte zur eigenständigen Entwicklung der Persönlichkeit, zur Aneignung von Werten und Weltanschauungen machen. Dazu gehören die Bewahrung von Neugier, Unvoreingenommenheit und Phantasie sowie die Entwicklung einer differenzierten Wahrnehmung, von Problemlösefähigkeit und Selbstkritik, von Sensibilität und Respekt für Andersartigkeit, von Konfliktfähigkeit und Empathie. Einen Beitrag hierzu kann das Philosophieren mit Kindern leisten. Das betont die Veröffentlichung der deutschen UNESCO-Kommission zum „Philosophieren mit Kindern weltweit und in Deutschland“.
Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Was bedeutet gutes Handeln? Was ist Glück? – Auch Kinder bewegen die großen Fragen unserer Existenz und dem Sinn des Lebens. Wir müssen allen Mädchen und Jungen, die an keinem Religionsunterricht teilnehmen oder teilnehmen wollen, auch schon in der Grundschule ein Unterrichtsangebot machen, das ihnen Raum für ihre Fragen und Gedanken sowie den Grundlagen unseres Zusammenlebens gibt.
Mit dem Thema „Philosophieren mit Kindern“ gibt es seit längerem eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung. Schon 1972 wurde ein Institut an der Montclair University New Jersey gegründet. Ein wichtiger Beitrag der UNESCO für die Stärkung der philosophischen Bildung ist die Ende 2007 in Englisch und Französisch erschienene Studie „Philosophy – A School of Freedom“.
Prof. Klaus Blesenkemper von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat 2012 mit anderen Autoren „Einen Entwurf für einen Lehrplan Praktische Philosophie in der Grundschule“ vorgelegt. An der Universität zu Köln beendete Anne Goebels an jüngst ein Dissertationsprojekt zu entsprechender Unterrichtsgestaltung. Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat im vergangenen Jahr Module für Unterrichtsmaterialien für „Philosophische Salons für Kinder“ erstellt und zum Download bereitgestellt. Seit einigen Jahren schon wird das Philosophieren mit Kindern als Bestandteil einer demokratischen Persönlichkeitsbildung erprobt. Politische Bildnerinnen und Bildner wie auch Lehrkräfte haben bereits Erfahrungen mit den Potentialen des Philosophierens im Unterricht gemacht.
Im Rahmen der phil.cologne fand im vergangenen Jahr eine Fachtagung statt, die von phil e.V. und der Bundeszentrale für politische Bildung durchgeführt wurde und den Titel trug: „Philosophie für Kinder und Jugendliche als Zukunftsausgabe für die demokratische Gesellschaft“. Hier wurden in Expertenworkshops, Vorträgen und Diskussionen der derzeitige Wissens- und Forschungsstand sowie Erfahrungen aus der Praxis zusammengetragen. Hier wurde herausgestellt, dass Philosophie nicht belehren sondern befähigen müsse, es solle nicht Philosophie sondern philosophieren gelehrt werden. Es geht um die Förderung selbstständigen Philosophierens der Schülerin bzw. des Schülers, das gemeinsame Weiterdenken und die philosophische Reflexion. Der Unterricht nutzt die Erfahrungen der Lernenden als Ansatzpunkte. Prägnante Begriffe wie Freundschaft oder Heimat bilden Angelpunkte, insbesondere zum Einstieg in ein Thema.
Für eine auf Diskurs und Demokratie basierende Gesellschaft ist das Erlernen und Einüben von Diskursformen, die von Toleranz und gegenseitigem Respekt getragen sind, von zentraler Bedeutung. Das gilt in zunehmendem Maße angesichts der Tatsache, dass in einer Einwanderungsgesellschaft Kinder mit sehr unterschied­lichen Herkunftskulturen und Erfahrungen zusammenkommen. Philosophieren mit Kindern schafft einen Raum des „aktiven selber Denkens“, in dem die Auseinandersetzung mit Pluralität innerhalb der Gesellschaft stattfinden kann. Durch Alltagssituationen und –konstellationen kann die Begründungsfähigkeit trainiert werden und damit auch das Aushalten von Meinungen, die man nicht teilt. Diese Förderung empathischer Kompetenzen ist gerade in Bezug auf eine interkulturelle Gesellschaft wichtig.
Verschiedene Sichtweisen, Werte und Kulturen begegnen sich auch im Klassenzimmer. Deshalb ist es wichtig, dass ein Unterricht „Philosophieren mit Kindern“ und der Religionsunterricht strukturell und dialogisch miteinander verzahnt werden. Eine Fächergruppe ist anzudenken, gemeinsame Projekte sind in den Curricula zu verankern.

II. Der Landtag stellt fest:

Die Einrichtung eines Unterrichtsfach „Philosophieren mit Kindern“ wird an den Grundschulen des Landes ist als Ergänzung des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts notwendig, um allen Kindern ein Angebot zu unterbreiten, in dem sie sich mit Sinn- und Wertefragen befassen.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
  • dem Ausschuss für Schule und Bildung einen umfangreichen Bericht zur Forschungslage und Sachstand praktischer Anwendung von „Philosophieren mit Kindern“ vorzulegen,
  • in einen intensiven Austausch mit den entsprechenden Einrichtungen, die bislang damit befasst sind, einzutreten, mit dem Ziel, eine koordinierte und intensivierte Vorbereitung der Einrichtung eines entsprechenden Unterrichtsfachs zu erreichen,
  • die curriculare Zusammenarbeit von bekenntnisorientiertem Religionsunterricht und dem Philosophieren mit Kindern in der Grundschule zu entwickeln und grundsätzlich die Einrichtung einer Fächergruppe zu prüfen,
  • die Ausbildung und Fortbildung von Lehrkräften zu entwickeln, die für eine Erteilung des Unterrichts qualifiziert,
  • entsprechende Ressourcen für die flächendeckende Einführung des Unterrichts vorzusehen.