Präventionsarbeit gegen Neosalafismus konsequent weiterentwickeln

Verena Schäffer zur Radikalisierung der Szene und Gegenmaßnahmen

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022
Das Phänomen Neosalafismus stellt heute eine der zentralen Herausforderungen für unsere Gesellschaft dar. Während wir im Jahr 2012 noch von ca. 1.000 Neosalafist*innen in NRW ausgingen, müssen wir heute mit 2.900 Personen in dieser Szene rechnen. Wir bringen daher konkrete Vorschläge zum Ausbau der Präventionsarbeit in den Landtag ein.

Die neosalafistische Szene in Deutschland ist – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des schrecklichen Krieges in Syrien und im Irak – in den vergangenen Jahren stark angewachsen und hat sich verfestigt. Sie hat sich auch ideologisch weiter radikalisiert. Obwohl es in der Frage zum Einsatz von Gewalt durchaus unterschiedliche Positionierungen gibt, lässt sich feststellen, dass die Hemmschwelle, Gewalttaten als legitim zu erklären, deutlich gesunken ist. Eine Folge dieser zunehmenden Gewaltorientierung sind die terroristischen Anschläge in Deutschland – aber auch die Ausreisen und Menschenrechtsverletzungen in Kriegsgebieten in Syrien und im Irak. Nach Einschätzung von Expert*innen müssen wir noch über viele Jahre mit der neosalafistischen Radikalisierung in Deutschland und in anderen westeuropäischen Staaten rechnen.
Grüner Antrag für umfassende Prävention
Es ist zu kurz gegriffen, dem Phänomen des Neosalafismus allein mit Repression zu begegnen, sondern wir brauchen ein nachhaltiges und breit angelegtes Präventionskonzept. Hierzu werden wir den Antrag „Präventionsmaßnahmen gegen Neosalafismus in Nordrhein-Westfalen nachhaltig verankern und ausbauen“ in den Landtag einbringen und eine Anhörung mit Expert*innen dazu beantragen. Bereits im Jahr 2015 hat die damalige rot-grüne Mehrheit einen Antrag zur Erstellung eines ganzheitlichen Handlungskonzepts beschlossen, auf dessen Grundlage die Landesregierung in einem ersten Zwischenbericht konkrete Vorschläge für neue Maßnahmen und Projekte benannt hat. Auf diese Vorschläge bauen wir mit unserem jetzigen Antrag auf.

Die neosalafistische Szene in NRW
Vor diesem Hintergrund habe ich in mehreren Kleinen Anfragen die aktuellen Zahlen und Planungen der Landesregierung zu diesem Thema abgefragt. Die Zahlen zeigen einen stetigen Anstieg des neosalafistischen Personenpotenzials, aber auch mit 15 Prozent einen recht hohen Frauenanteil in der Szene. Der Frauenanteil unter den in die Kriegsgebiete ausgereisten Personen ist deutlich höher und lag im Jahr 2015 sogar bei 51 Prozent. Wir müssen davon ausgehen, dass Frauen einen stabilisierenden Effekt auf die Szene haben. Deshalb haben wir immer eine geschlechterreflektierte Präventionsarbeit gefordert.
Interessant ist auch der hohe Anteil deutscher Staatsbürger*innen in der neosalafistischen Szene. Von den 2.900 Neosalafist*innen in NRW haben 44 Prozent die deutsche Staatsangehörigkeit. Mit Zunahme der Gewaltbereitschaft steigt auch der Anteil der deutschen Staatsbürger*innen. So sind unter den gewaltbereiten Personen 59 Prozent Deutsche und unter den Gefährder*innen sind es sogar 64 Prozent. Das verdeutlicht, dass der Fokus allein auf ausländerrechtlichen Mitteln im Kampf gegen den gewaltbereiten Neosalafismus von der eigentlichen Problematik ablenkt. Die Jugendlichen und jungen Menschen sind meist in Deutschland geboren und aufgewachsen und haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Es handelt sich also um ein Problem dieser Gesellschaft, das mit Prävention nachhaltig bekämpft werden muss.


Initiiertes Aussteigerprogramm wird angenommen

In der rot-grünen Regierungszeit haben wir deshalb auch verschiedene präventive Maßnahmen eingeführt. Neben den Wegweiser-Beratungsstellen handelt es sich dabei um das Aussteigerprogramm Islamismus beim Verfassungsschutz (API). Unsere Kleine Anfrage hat ergeben, dass derzeit 47 Personen aktiv in dem Programm begleitet werden. Bei 21 dieser Personen ist der Deradikalisierungsprozess schon weit vorangeschritten bzw. nahezu abgeschlossen. Diese Zahl zeigt, dass es einen Bedarf für ein solches Aussteigerprogramm gibt. Doch haben auch 26 Personen das Angebot des API nicht angenommen. Dies kann auch daran liegen, dass es Personen gibt, die ein niedrigschwelliges Angebot brauchen. Gerade im Neosalafismus gibt es verbreitetes Misstrauen und Ablehnung gegenüber dem Staat, sodass ein Programm des Verfassungsschutzes für viele Personen aus dieser Szene kaum infrage kommt, während ein Angebot eines zivilgesellschaftlichen Trägers möglicherweise eher angenommen würde, insbesondere in der Zielgruppe der jungen Neosalafist*innen.
Zivilgesellschaftliches Aussteigerpogramm, Forschung und Streetworker*innen
In unserem Antrag fordern wir daher auch eine zivilgesellschaftliche Beratungsstelle für Aussteiger*innen und zur Deradikalisierung. Diese Beratungsstelle könnte sich insbesondere der Zielgruppe von Jugendlichen widmen, die zwar radikalisiert sind aber bisher keine politisch motivierten Straftaten begangen haben. Sie wäre damit eine Ergänzung zum API, das mit stark Radikalisierten arbeitet, und auch zu den Wegweiser-Beratungsstellen, die auf Personen zugeschnitten sind, die schon eine Nähe zum Neosalafismus zeigen, aber noch nicht fest in der Szene verankert und radikalisiert sind.
Eine weitere zentrale Forderung unseres Antrags ist die Einrichtung eines Forschungsinstituts zum Thema Neosalafismus in NRW. Die Forschung steht in Deutschland noch recht am Anfang und sollte dringend gestärkt werden. Denn nur mit fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Phänomen Neosalafismus können nachhaltig wirksame Präventionsmaßnahmen entwickelt werden. Wir wissen beispielsweise noch zu wenig über Radikalisierungsverläufe oder Motivationen bestimmter Personengruppen, in die Szene einzusteigen.
Die bisherige Forschung zeigt, dass viele Faktoren eine Rolle beim Einstieg in die Szene spielen. Soziale Benachteiligung, gruppenbezogene Diskriminierung, familiäre und persönliche Problemlagen machen gerade junge Menschen in Umbruchsphasen empfänglich für die neosalafistische Ideologie. Diese Jugendlichen brauchen häufig Unterstützung im schulischen bzw. beruflichen Kontext oder auch psycho-soziale Hilfen in der Bewältigung von familiären Konflikten. Für die Arbeit mit diesen Jugendlichen braucht es eine qualifizierte Jugendarbeit und auch Streetworker*innen, die einen Zugang insbesondere zu muslimischen Jugendlichen haben.
Darüber hinaus sehen wir einen Bedarf in der Qualifizierung von Pädagog*innen in den unterschiedlichen Bereichen, nach der Öffnung der Regelstrukturen für das Thema sowie nach der Überführung der Beratungsarbeit in die Regelfinanzierung.


Schwarz-Gelb hat bisher keine konkreten Konzepte

Die neue Landesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten, dass sie die Präventionsarbeit ausbauen möchte. Sie hat bisher aber keine konkreten Vorschläge dazu vorgelegt. Mit unserem Antrag fordern wir die Umsetzung der im Zwischenbericht zum Handlungskonzept vorgeschlagenen Maßnahmen und schlagen unsererseits ganz konkrete ergänzende Maßnahmen vor, die wir im Landtag debattieren wollen. Wir hoffen dabei auf die Offenheit der regierungstragenden Fraktionen für einen konstruktiven Austausch, der letztlich zu einer Weiterentwicklung der Präventionsarbeit des Landes führen soll.