„Kirchenasyl ist die Ultima Ratio, um Geflüchteten beizustehen“

Drei Fragen an Sigrid Beer

160 Menschen leben laut aktuellen Zahlen in 129 Kirchenasylen in NRW. Das sind etwa doppelte so viele Kinder, Frauen und Männer als noch vor einem Jahr. Unsere Sprecherin für Religionspolitik, Sigrid Beer, kennt viele der Schutzsuchenden und ihrer Unterstützer*innen persönlich. Im Drei-Fragen-Interview schildert sie persönliche Eindrücke und erklärt die steigenden Zahlen.

1. Wie ist es zu erklären, dass immer mehr Menschen Zuflucht in Kirchengemeinden suchen?
Sigrid Beer: Die Kirchen verstehen den Schutz von Menschen vor Lebensgefahr als ihren Kernauftrag. Das Kirchenasyl ist dabei eine jahrhundertealte Schutztradition. Gemeinden setzen sich für Menschen ein, denen durch eine Abschiebung Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit drohen, oder für die mit einer Abschiebung nicht hinnehmbare Härten verbunden sind. Kirchenasyl ist ein letzter, legitimer Versuch, die Ultima Ratio, einer Gemeinde, Geflüchteten durch zeitlich befristete Schutzgewährung beizustehen, um auf eine erneute, sorgfältige Überprüfung ihrer Situation hinzuwirken. Die Gemeinden informieren die Ausländerbehörde über die Menschen im Kirchenasyl, gleichzeitig werden oft der Petitionsausschuss des Landtages oder die Härtefallkommission eingebunden.

2. Du bist selbst im Austausch mit Flüchtlingen und Helfer*innen aus Kirchengemeinden. Wie muss man sich das Leben im Kirchenasyl vorstellen?
Sigrid Beer: Die Gemeinden stellen einen Schutzraum zur Verfügung. Das können Räume in der Kirche sein wie zum Beispiel ein Keller, ein Zimmer im Gemeindehaus oder das Dachgeschoss eines Kindergartens. Die Gemeinde sorgt für den Lebensunterhalt, oftmals über Monate. Klar, dass das keine Luxusunterbringung ist. Waschen, Duschen, Kochen – es wird viel improvisiert. Die Menschen müssen in den Räumlichkeiten verleiben. Das ist oft belastend für alle Beteiligten. Unter http://www.kirchenasyl.de/erfahrungsberichte/ schildern Betroffene ihre Erlebnisse. Eine große Zahl von Kirchenasylfällen dreht sich um sogenannte „Dublinverfahren“. Denn auch die Abschiebung in ein europäisches Transitland kann eine besondere individuelle Gefährdung bedeuten. So ging es zum Beispiel in einem Fall darum, dass eine junge Frau, die wegen Zwangsprostitution nach Deutschland weitergeflohen war, nicht wieder in die Fänge der Zuhälterringe gelangen sollte, die bis in die Flüchtlingslager reichten. Es geht immer wieder um individuelle humanitäre Grenzfälle.

3. Welche Chancen und Perspektiven haben die Menschen, die im Kirchenasyl Hilfe bekommen?
Sigrid Beer: Die Tatsache, dass nach erneuter intensiver Prüfung, die durch das Kirchenasyl veranlasst wird, über 90 Prozent der Fälle positiv entschieden werden, spricht für sich. Bei Entscheidungen, die von Menschen nach Recht und Gesetz getroffen werden, können Fehler passieren. Die Gemeinden haben die Schutzsuchenden kennengelernt und dringen mit dem Kirchasyl auf eine Überprüfung der negativen Entscheidungen. Und es zeigt sich, dass sie eben zu über 90 Prozent Recht bekommen. Bei dem undifferenzierten Abschiebehype, der jetzt von Seehofer wieder einmal angeheizt wird und der lediglich Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulist*innen ist, wird die Not noch größer werden. Wir müssen als Politiker*innen dafür sorgen, dass das Kirchenasyl nicht angetastet wird. In Bayern wird das Kirchenasyl kriminalisiert. Wir müssen uns auf entsprechende Auseinandersetzungen mit dem neuen Bundesinnenminister gefasst machen.