Entschließungsantrag zum Antrag „„Sternenkinder“ verdienen mehr Aufmerksamkeit – Forschung und Unterstützung der Eltern bei Fehl- und Totgeburten verbessern!“ – Antrag der Fraktion der FDP, Drucksache 18/3286
I. Ausgangslage
Wenn ein Kind tot geboren wird, ist das für die betroffenen Familien eine katastrophale Erfahrung. Der Freude darauf, das eigene Kind kennenzulernen, folgen stattdessen Ohnmacht, Trauer, Wut, Fassungslosigkeit. Das Thema ist hochsensibel, mit Scham behaftet und findet so kaum Sichtbarkeit. Dabei betrifft es mehr Menschen, als allgemein bekannt ist.
In Deutschland wird etwa jedes 230. Kind tot geboren. Nach den Daten des Statistischen Bundesamts gab es im Jahr 2022 3.247 Totgeburten und damit 4,4 Totgeburten je 1.000 Gebo-rene.1 Seit 2010 nimmt die Totgeburtenquote in Deutschland tendenziell zu. Je nach Alter der Frauen fällt die Totgeburtenquote unterschiedlich aus. Bei jüngeren Frauen unter 21 und älteren über 37 Jahren ist die Quote deutlich höher als der Durchschnitt. Das Alter allein erklärt die Zunahme von Totgeburten allein jedoch nicht. Anders als Totgeburten werden Fehlgeburten nicht systematisch erfasst. Genaue Zahlen gibt es deshalb nicht. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) schreibt, dass von allen festgestellten Schwangerschaften etwa 11 bis 15 Prozent mit einer Fehlgeburt enden.2
Neben einer besseren Datenlage braucht es auch mehr Unterstützung für die Eltern: Fehl- und Totgeburten werden häufig tabuisiert und sind mit Stigmatisierung verbunden, im Alltag wird darüber geschwiegen. Die Betroffenen sind häufig stark traumatisiert. Nach einer Fehl- oder Totgeburt kommt es nicht selten zu schweren depressiven Episoden, schweren Angststörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen. Das Suizidrisiko steigt erheblich an. Ebenso können durch Fehlgeburten erhebliche körperliche Probleme wie Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen entstehen. Für viele Eltern ist eine Fehl- oder Totgeburt ein traumatisches Erlebnis mit oftmals langanhaltenden Folgen.
Fehl- und Totgeburten sind Erfahrungen, die mit Stigmatisierungen, Schuldgefühlen, Einsamkeit und oft nicht anerkannter Trauer einhergehen können. Die Betroffenen dürfen in einer derart herausfordernden Situation nicht mit ihrer Trauer und Verzweiflung allein gelassen werden. Dabei sind nicht nur die Mütter betroffen. Auch Väter, Partnerin oder Partner, Geschwisterkinder und Großeltern können Unterstützung in ihrer Trauer brauchen.
Die Trauer und emotionale Belastung besteht für viele Betroffene unabhängig davon, ob es sich rechtlich um eine Fehl- oder eine Totgeburt handelt. Die rechtliche Unterscheidung hat jedoch Konsequenzen. So ist z. B. der Mutterschutz nach der Geburt derzeit an die mit dem Geburtsvorgang verbundenen körperlichen Belastungen und die daran anschließenden Rück-bildungsprozesse geknüpft. Obwohl auch Fehlgeburten spätestens ab der 15. Schwangerschaftswoche durch eine Geburt zur Welt kommen. Die Unterscheidung richtet sich nach § 31 der Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes (Personenstandsverordnung – PStV). Demnach liegt eine Fehlgeburt vor, wenn sich außerhalb des Mutterleibs keine Lebensmerkmale wie Herzschlag oder natürliche Lungenatmung gezeigt haben, das Gewicht weniger als 500 Gramm beträgt und die Geburt vor der 24. Schwangerschaftswoche erfolgt. Eine Fehlgeburt löst normalerweise keine mutterschutzrechtlichen Folgen aus, insbesondere gilt die Schutzfrist nach der Entbindung nicht.
Eine Totgeburt liegt vor, wenn das Geburtsgewicht mindestens 500 Gramm beträgt oder die 24. Schwangerschaftswoche erreicht wurde. Bei einer Totgeburt gilt die allgemeine Schutzfrist von mindestens acht Wochen nach der Entbindung. Der Arbeitgeber darf aber eine Frau nach einer Totgeburt bereits nach Ablauf der ersten zwei Wochen nach der Entbindung beschäftigen, wenn die Frau dies ausdrücklich verlangt und nach ärztlichem Zeugnis nichts dagegenspricht. Derzeit werden auf Bundesebene Änderungen des Mutterschutzgesetzes diskutiert und Vorschläge geprüft. Neben einem besseren Schutz für schwangere Selbstständige und einer vergüteten Freistellung für die Partnerin oder den Partner nach der Geburt eines Kindes geht es auch um eine Erweiterung des Mutterschutzes auf die Zeit nach einer Fehlgeburt. In der Diskussion sind dabei auch Modelle einer zeitlich gestuften Freistellung abhängig von der Schwangerschaftswoche.
Eine Fehlgeburt wird im Gegensatz zu einer Totgeburt grundsätzlich nicht im Personenstandsregister beurkundet. Eltern können aber nach einer Neuregelung seit dem 15. Mai 2013 die Geburt ihres Kindes beim Standesamt, in dessen Zuständigkeitsbereich die Fehlgeburt erfolgte, anzeigen und ihrem Kind damit offiziell eine Existenz geben. In diesem Fall erteilt das Standesamt dem Anzeigenden auf Wunsch eine Bescheinigung. Die Neuregelung gilt auch für Eltern, deren Kind bereits vor dem Inkrafttreten dieser Regelung nicht lebend zur Welt gekommen ist.
Obgleich für die Eltern keine Bestattungspflicht besteht, haben sie nach § 14 Absatz 2 des Gesetzes über das Friedhofs- und Bestattungswesen (Bestattungsgesetz – BestG NRW) einen Anspruch auf Beisetzung ihres tot- oder fehlgeborenen Kindes, wenn ein Elternteil dies wünscht. Wenn die Fehlgeburt oder Totgeburt in einer Einrichtung erfolgt, hat deren Träger sicherzustellen, dass mindestens ein Elternteil auf diese Bestattungsmöglichkeiten hingewiesen wird. Liegt keine Erklärung der Eltern zur Bestattung vor, sind Tot- und Fehlgeburten von den Einrichtungen auf eigene Kosten unter würdigen Bedingungen zu sammeln und zu bestatten. Lediglich für den Fall eines Einspruchs der Eltern gegen die Bestattung sieht § 8 Absatz 2 des Bestattungsgesetzes vor, dass Tot- oder Fehlgeburten, die nicht nach § 14 Absatz 2 bestattet werden, ohne Gesundheitsgefährdung und ohne Verletzung des sittlichen Empfindens der Bevölkerung verbrannt werden.
Verschiedene Kommunen bieten auf ihren Friedhöfen Sondergrabstätten für die Bestattung von „Sternenkindern“ als Einzel- oder Gemeinschaftsgräber sowie eigens angelegte Gräberfelder für die Sammelbeisetzung von Tot- und Fehlgeburten, die auf Kosten von Krankenhäusern bestattet werden. Einzelne Kommunen haben auf ihren Friedhöfen auch Gedenkstätten wie Kunstwerke oder Stelen als Orte der Trauer für betroffene Eltern eingerichtet. Diese Orte der Trauer können insbesondere den betroffenen Eltern helfen, Abschied zu nehmen, die eine eigene Bestattung ihrer “Sternenkinder“ nicht wünschen.
Es ist von enormer Bedeutung, vermehrt über die Risiken von Fehl- und Totgeburten zu sprechen und aufzuklären. Die Informations- und Unterstützungsangebote für Betroffene wurden zwar in den vergangenen Jahren verbessert – so bietet zum Beispiel die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ausführliche Informationen über Fehl- und Totgeburten3 – sie sind aber noch nicht ausreichend, insbesondere für Menschen, die Informationen in Leichter Sprache oder in anderen Sprachen als Deutsch benötigen. Die emotionale Belastung betrifft auch Frauen nach operativen und medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen. Auch sie und gegebenenfalls ihre Familien benötigen bei Bedarf Informationen und Beratung.
Zum Thema des Umgangs mit Tot- und Fehlgeburten gibt es noch erheblichen Forschungsbedarf. Zudem ist es sehr wichtig, für die handelnden Berufsgruppen einen Leitfaden zum Umgang mit den betroffenen Menschen zu erarbeiten, der wissenschaftliche Erkenntnisse und Orientierungshilfe beinhaltet.
„Sternenkinder“ dürfen kein gesellschaftliches Tabuthema mit dem Phänomen des nicht anerkannten Verlusts bleiben. Dabei bedarf es neben einer Aushandlung der Rechtsgrundlagen auch einer Selbstreflexion der beteiligten Berufsgruppen und eine erhöhte Sensibilisierung der Gesellschaft. So können auch Handreichungen für die persönliche Begegnung mit Betroffenen im Alltag etwas der eigenen Sprachlosigkeit und Handlungsohnmacht entgegensetzen. Denn statistisch kennt fast jeder Mensch jemanden, der von der Erfahrung eines solchen Verlusts betroffen ist.
II. Beschlussfassung
Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
- ein Konzept zu entwickeln, wie die Erhebung von Daten und Erforschung von Ursachen bei Fehlgeburten, Totgeburten und Säuglingssterblichkeit verbessert werden kann;
- mit den relevanten Akteuren zu erarbeiten, welche Präventionsmöglichkeiten sich aus wissenschaftlicher Sicht unter Berücksichtigung medizinischer und psychosozialer Aspekte ergeben;
- dafür Sorge zu tragen, dass gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus der Praxis unter wissenschaftlicher Begleitung ein Leitfaden erarbeitet wird, der den beteiligten Berufsgruppen und Einrichtungen eine Orientierungshilfe für eine umfassende Begleitung und nahtlose Versorgung von Familien mit Sternenkindern bietet, dabei soll insbesondere die körperliche und seelische Nachsorge gewährleistet werden;
- die betroffenen Berufsverbände zu bitten, Fort- und Weiterbildung aller beteiligten Fachkräfte zu verbessern;
- Informationen über die Möglichkeit der Beurkundung von Fehlgeburten im Personen-standsregister auszubauen;
- die Regelung in § 8 Abs. 2 des Bestattungsgesetzes NRW zur Verbrennung von tot-oder fehlgeborenen Kindern zu überprüfen;
- zusammen mit den Kommunalen Spitzenverbänden und den Friedhofsverbänden darauf hinzuwirken, dass noch mehr Kommunen auf ihren Friedhöfen Orte der Trauer für „Sternenkinder“ einrichten;
- sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass der Mutterschutz und der von der Bundesregierung geplante Partnerschutz auch auf Fehlgeburten in gestaffelter Form erweitert wird. Dabei ist darauf zu achten, dass eine berufliche Freistellung für die Betroffenen freiwillig ist.
1 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/07/PD23_287_12.html