Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus – Erinnerung und Auftrag

Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022
Portrait Josefine Paul

I. Ausgangslage

Der 27. Januar ist in Deutschland seit 1996 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und erinnert an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945.

Im Vernichtungslager Auschwitz, das wie kaum ein anderer Ort für den industrialisierten Mas­senmord, Menschenverachtung, Hass und Unmenschlichkeit sowie für Tod, Terror, Leid, Elend und Schrecken steht, wurden mehr als eine Millionen Menschen von den Nationalsozi­alisten ermordet. Auschwitz war nur eines von mehreren Vernichtungslagern, eines von meh­reren sog. Konzentrationslagern. Allein in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treb­linka starben weitere zwei Millionen Menschen, sog. Einsatzgruppen ermordeten schätzungs­weise weitere 750.000 Menschen. In den Ghettos, streng abgeschirmten Gebieten, in denen insbesondere Jüdinnen und Juden unter unvorstellbaren und menschenunwürdigen Bedin­gungen eingepfercht wurden und schwerste körperliche Arbeit verrichten mussten, starben weitere zwei Millionen Menschen. Insgesamt wurden in den Jahren des nationalsozialistischen Terror-Regimes laut einer Studie des United States Holocaust Memorial Museum rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden, fünf Millionen sowjetische Zivilisten, drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, 1,8 Millionen polnische Zivilisten, 312.000 serbische Zivilisten, 250.000 Menschen mit Behinderung, 250.000 Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma, 1.900 Zeugen Jehovas und 70.000 „Kriminelle“ und als „Asoziale“ diffamierte Menschen getötet. Nicht erfasst sind in diesen unvorstellbaren Zahlen die Zahlen derer, die Opfer von politischer Verfolgung wurden oder die wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt und ermordet wurden. Schätzungs­weise zwischen 10.000 und 15.000 Männer wurden wegen ihrer Homosexualität in Konzent­rationslagern inhaftiert, ihre Todesrate lag bei 60% (https://www.bpb.de/izpb/239460/homosexuelle).

Die schier unvorstellbare Zahl der Getöteten und das schreckliche Leid der Überlebenden und Angehörigen ist auch mehr als 75 Jahre nach der Befreiung erschütternd. Es ist die Verant­wortung und die Pflicht einer jeden Generation, das Andenken und die Erinnerung an jeden einzelnen Menschen und das Menschheitsverbrechen der Shoa zu bewahren. Es ist unsere politische und gesellschaftliche Verpflichtung, alles zu tun, dass es nie wieder zu derartigen menschenverachtenden Taten, egal wo in der Welt, kommen darf und kann. Darum setzen wir uns gemeinsam ein für Frieden, Toleranz und Miteinander in Würde und Respekt. Wir setzen auf Solidarität und Miteinander zur Überwindung von Trennendem und machen uns stark ge­gen Hass, gegen Antisemitismus, auch im Gewand der Israelkritik, und jede Form der Men­schenfeindlichkeit.

Wir können und werden nicht akzeptieren, dass mehr als 75 Jahre nach der Befreiung von dem nationalsozialistischen, menschenverachtenden Terror-Regime Hass und Menschen­feindlichkeit immer noch bzw. erneut in Teilen unserer Gesellschaft Anklang, Zustimmung und neuen Nährboden finden. Es besorgt uns, dass die Zahl der antisemitischen Straftaten im Jahr 2020 deutschlandweit um 15,7 % angestiegen ist. In einer Studie für die Antisemitismusbeauf-tragte des Landes Nordrhein-Westfalen zur Wahrnehmung und Erfahrung von Antisemitismus durch jüdische Menschen in Nordrhein-Westfalen äußerten 2020 rund ein Drittel der Befrag­ten, dass für sie selbst und ihr Umfeld ein Wegzug aus Deutschland durchaus ein relevantes Thema sei. Solche Aussagen und Erkenntnisse müssen uns aufmerksam machen und sind Anlass, noch entschiedener gegen Antisemitismus vorzugehen.

Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und in allen gesellschaftlichen Mili­eus zu finden. Die mit der Corona-Pandemie verbundenen Unsicherheiten und Ängste, die Änderung des alltäglichen Lebens und die Isolierung machen einen Teil der Gesellschaft emp­fänglich für vermeintlich einfache Erklärungsmuster und Verschwörungsmythen, die gezielt gestreut werden und vielfach auf teils jahrhundertealte Verschwörungserzählungen zurückge­hen und häufig antisemitisch konnotiert sind. Wir nehmen wahr, dass Rechtsradikale, Antise­miten und Rassisten „Hygiene- und Querdenker-Demonstrationen“ gezielt nutzen, um eine Anschlussfähigkeit zu Teilen der gesellschaftlichen Mitte zu erreichen und dort eine gefährli­che und demokratiegefährdende Radikalisierung stattfindet.

Diese Entwicklungen erfüllen uns mit Sorge. Antisemitismus hat keinen Platz in unserer Ge­sellschaft. Das Vertreten antisemitischer Positionen ist keine Meinungsäußerung, sondern Ausdruck von Menschenfeindlichkeit und widerspricht den Werten unseres Grundgesetzes und unserer demokratischen Gesellschaft. Es ist die gemeinsame Aufgabe von Politik und Zivilgesellschaft, sich solchen Äußerungen entschieden entgegenzustellen und klarzumachen, dass Nordrhein-Westfalen sich gegen Hass und Hetze, Antisemitismus, Rassismus und jede Art von Diskriminierung stellt.

II. Beschlussfassung

  1. Der Landtag stellt fest, dass
  2. die Erinnerung an den Holocaust zu den Grundkonstanten unserer Gesellschaft und zu unserer Staatsräson gehört.
  3. der Schutz jüdischen Lebens in Nordrhein-Westfalen höchste Priorität hat.
  4. die Zunahme antisemitischer Straftaten Anlass zur Sorge sind und mit den Mitteln des Rechtsstaats konsequent geahndet werden müssen.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung,

  1. das jüdische Leben in Nordrhein-Westfalen durch geeignete Maßnahmen weiter zu si­chern und zu fördern.
  2. die Erinnerung an die Shoah, den Holocaust, aufrecht zu erhalten und die Arbeit der Ge­denkstätten, Erinnerungsorte und Museen zu unterstützen und zeitgemäß weiterzuentwi­ckeln.
  3. die Arbeit der Antisemitismusbeauftragten weiter zu unterstützen und zu stärken.
  4. im Bereich der politischen Bildung weiterhin einen Schwerpunkt auf die Zeit des National­sozialismus zu legen, um gerade auch jüngeren Generationen einen zeitgemäßen Zugang zu der Thematik zu vermitteln.
  5. die Auseinandersetzung mit allen Formen von Menschenfeindlichkeit sowie Verschwö­rungsmythen, Antisemitismus und Diskriminierung in unserer Gesellschaft gezielt im Rah­men der politischen Bildung weiter zu stärken.
  6. die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Zeit in Aus-, Weiter- und Fortbildung in der Justiz, Sicherheitsbehörden, öffentlicher Verwaltung und im Bildungsbereich weiter voranzutreiben.
  7. den 27. Januar als Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus in geeigneter Form aufzuwerten.