Schicksal und Geschichte von Verschickungskindern anerkennen, aufarbeiten, sichtbar machen

Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN

Portrait Josefine Paul

I. Ausgangslage

Millionen Menschen in Deutschland sind ehemalige Verschickungskinder. Sie wurden zwischen den 1950er- bis in die 1990er-Jahre zur vermeintlichen Erholung, Heilung oder als erzieherische Maßnahme dafür vorgesehenen (Kinderkur-)Heimen und Einrichtungen anvertraut. Während der Aufenthalt dem Wohl des Kindes dienen sollte, war die Realität oft eine andere. Fernab von zu Hause und elterlicher Aufsicht wurden junge Menschen Opfer schwarzer Pädagogik. Sie waren systematisch physischer und psychischer Gewalt ausgeliefert und oftmals auch systematisch physischer und psychischer Gewalt ausgeliefert. Das System der Kinderverschickung galt bei Trägern und Einrichtungen als wirtschaftliches Erfolgsmodell. An den Folgen der verstörenden Erfahrungen leiden viele Betroffene noch Jahrzehnte später.

Das Leid, das Schicksal und die Geschichte von Verschickungskindern hatten lange Zeit keinen Platz im kollektiven Gedächtnis unseres Landes und blieben folglich ohne Anerkennung und Aufarbeitung. Es ist dem Engagement der Betroffenen zu verdanken, dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung neue Dynamik und mediale Beachtung gefunden hat. Durch Erlebnisberichte wissen wir heute in Ansätzen, was sich damals abgespielt und zugetragen hat. Bislang haben sich Betroffene vor allem in Selbsthilfegruppen organisiert. Sie wollen gemeinsam aufarbeiten und bewältigen, was jeder und jedem von ihnen widerfahren ist. Vereine befassen sich auf Ebene der Bundesländer und des Bundes mit der Thematik und dessen Aufarbeitung bzw. Bewältigung.

Vor diesem Hintergrund hat die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) das Thema im Mai 2020 aufgegriffen und beraten. Im Beschluss wurde der Bund damit beauftragt, Licht in dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte zu bringen. Ergänzend zum Engagement des Bundes liegt es jedoch auch in der Verantwortung von Politik auf Länderebene, sich dem Schicksal der Verschickungskinder verstärkt zuzuwenden. In Nordrhein-Westfalen hat das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales eine Arbeitsgruppe zum Austausch mit Betroffenen und zur Entwicklung sowie Koordinierung von Maßnahmen geschaffen. Der Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend des Landtags von Nordrhein-Westfalen hat sich dem Thema darüber hinaus im Rahmen einer umfassenden Anhörung zugewandt. Weitere Schritte sollen daran anknüpfen und aufbauen.

Die Fraktionen von CDU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen an der Seite der Verschickungskinder. Nordrhein-Westfalen will seinen Beitrag zur Anerkennung, Aufarbeitung und Sichtbarmachung ihres Schicksals und des erfahrenen Leids leisten. Nun ist es an der Zeit, dabei ein neues Kapitel aufzuschlagen.

II. Beschlussfassung

Der Landtag von Nordrhein-Westfalen stellt fest:

  • Im Zuge der Verschickung haben Kinder unvorstellbares Leid erfahren, das bis heute nicht angemessen aufgearbeitet worden ist.
  • Staatliche Kontrolle hat in dieser Zeit versagt und damit das Leid der Kinder ermöglicht.
  • Transparenz, Offenheit und unabhängige Aufklärung sind wichtige Maßstäbe der Aufarbeitung für die Situation der damals betroffenen Kinder und Jugendlichen.
  • Alle relevanten Akteure und Betroffenen sowie (mit-)verantwortlichen Träger und Stellen sollen sich in den Prozess der Aufarbeitung einbringen. Die Wahrnehmung von Mitwirkungsverantwortung im Sinne einer zielgerichteten Aufklärung und Bewältigung ist unerlässlich. Ehemalige „Verschickungskinder“ müssen in ihrem berechtigten Anliegen der Aufarbeitung unterstützt werden.
  • Der Aufbau von Unterstützungsinfrastrukturen für „Verschickungskinder“ kann einen Beitrag zur Bewältigung erlittenen Leids und Unrechts sein.
  • Die wissenschaftliche Grundlagenarbeit und Aufarbeitung des Themas sind wichtige Bestandteile einer strukturierten und intersubjektiv nachvollziehbaren Aufbereitung des Themenkomplexes.
  • Die Ermöglichung der Recherchearbeit von Betroffenen sowie deren Organisationen in den Archiven ehemaliger Träger, deren Rechtsnachfolgern und anderen Institutionen sind unverzichtbar. Eine konstruktive Unterstützung der Betroffenen durch die Archive ist geboten.
  • Der Landtag erkennt das Leid an, das zahlreiche „Verschickungskinder“ erfahren haben, und spricht sein Mitgefühl für erlittenes Unrecht aus.
  • Im Rahmen der Aufklärungsarbeit des Bundes muss die Länderebene eingebunden werden. Das Thema soll auch in der kommenden Legislaturperiode forciert werden.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung:

  1. Einen Runden Tisch „Verschickungskinder“ ins Leben zu rufen. Dabei soll
  • die Moderation der Sitzungen des Runden Tisches einer qualifizierten und in der Sache unabhängigen Persönlichkeit obliegen.
  • gewährleistet werden, dass die maßgeblichen Betroffenenverbände und thematisch relevante Akteure strukturell in die Arbeit des Runden Tisches einbezogen werden.
  • darauf hingewirkt werden, dass Oberste Landesbehörden, Landschaftsverbände, Kommunale Spitzenverbände, die beteiligten Sozialleistungsträger, Wohlfahrtsverbände und Kirchen, Wissenschaft und Archive sowie weitere Akteure an der Arbeit des Runden Tisches konstruktiv mitwirken.
  • dem Parlament nach zwei Jahren ein erster Zwischenbericht der Arbeitsergebnisse des Runden Tisches vorgelegt werden. Anschließend soll jährlich über die Fortschritte berichtet werden.
  1. Die Aufarbeitungsarbeit zum Thema „Verschickungskinder“ in Nordrhein-Westfalen zu stärken:
  • Ziel ist es, unter Berücksichtigung der Aktivitäten des Bundes sowie der Erkenntnisse des Landes Nordrhein-Westfalen auf eine umfassende Aufarbeitung der Thematik hinzuwirken. Hierfür soll die notwendige finanzielle Unterstützung aus bereiten Mitteln des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellt werden.
  • Die angemessene finanzielle Förderung der Betroffenenstrukturen ist aus bereiten Mitteln des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen sicherzustellen. Dabei soll insbesondere die Arbeit des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickungen Nordrhein-Westfalen (AKV-NRW e.V.) berücksichtig werden. Schwerpunkt der Förderung soll die eigenständige Aufarbeitung und Beratungstätigkeit sein.
  • Die wissenschaftliche Aufarbeitung und Durchdringung des Themenfeldes „Verschickungskinder“ soll zeitnah begonnen werden. Hierzu bietet sich an, möglichst in Kooperation mit Universitäten, einschlägigen Instituten und mit der Stiftung Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen Forschungsprojekte zu initiieren und zu finanzieren. So sollen auch Stipendien für Master- oder Diplomarbeiten sowie bei umfangreicheren Themenstellungen für Dissertationsprojekte vergeben werden.